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#4 SEBASTIAN GUGGOLZ

DER MENSCH MIT EINEM KLEINEN BUCH UNTERM ARM

von Holm-Uwe Burgemann

Der Abend im Gerhart-Hauptmann-Haus auf Hiddensee war nicht unsere erste Begegnung gewesen und doch schien es so. Wir kannten einander von der Arbeit an einem Magazin, ein oder zwei Jahre zuvor. Am Tag nach der Lesung in Haupt­manns Wohn­zimmer, die eine Erst­über­setzung von Esther Kinsky zum Anlass hatte, die gerade im Guggolz Verlag erschienen war, kam ich zum Abend­essen ins Gästehaus, das vom sandigen Insel­weg aus uneinsehbar hinter dem alten Anwesen liegt. Esther kochte ein einfaches Nudelg­ericht mit den wenigen Kräutern, die es im Inselkiosk tiefgefroren zu kaufen gab. Im Innern brannte kein Licht. Sebastian und ich standen auf den Steinplatten, die eine schmale Terrasse mimen sollten und suchten nach zwei Rehkitzen, die durch eine Lücke in der Umzäunung ins Gelände eingebrochen waren und nun unseren Augen unerklärlich auswichen. Wir sprachen lange an diesem Abend und schnell aus Privatem heraus.

Wir treffen uns nun ein zweites Mal. Es ist September in Berlin-Schöneberg. Sonnen­licht fällt in breiten Streifen auf den Bord­stein vor der Adresse des Guggolz Verlags. Sebastian spricht warm und umarmend, wie immer. Er ist das gemalte Bild eines Bücher­machers, wie es nur noch wenige gibt. Seine Liebe zur Literatur ist aufrichtig. Die Glüh­lampen brennen schwach angesichts dessen, was sie beleuchten. Wir gehen nach draußen, denn wir wollen eine Frage als Video aufnehmen. Passanten gehen durch das Bild, einer grüßt. Anwohner. Was sie wohl von uns denken? Der Himmel bedeckt sich. Die Belichtung wechselt. Das Bild der Kamera ändert seine Hellig­keit sekündlich, während Sebastian spricht.

Wir gehen auf den Alten St.-Matthäus-Kirchhof. Hier liegt Martin Chalmers, »Esthers Mann«, wie Sebastian nur sagt. Er hat Klemperer, Brecht, Bernhard, Hubert Fichte, Alexander Kluge übersetzt. Ein gemein­sames Buch, das er mit Esther schrieb, musste sie allein been­den. Dort zu sprechen, war lange vorher abge­macht. Wahrschein­lich glänzten seine Augen, als er zuallererst davon sprach. Martins Name wird später im Gespräch vorkommen. Sebastian hätte ihn wahr­scheinlich nicht an diesen Anfang gesetzt. Wir kaufen eine weiße Kerze am Eingang. Auf einer schmalen Bank sitzen wir dicht bei­einander, sodass sich unsere Arme leicht berühren, wenn wir sprechen. Es ist hell.

Es braucht wenig Recherche, um zu sehen, dass dein Bücherpensum ungeheuer ist. Du liest drei bis vier Bücher die Woche parallel zur Arbeit an deinen eigenen Büchern, den Büchern der verstorbenen Schriftsteller:innen des Guggolz Verlags. Dein Eros für das Buch scheint ursprünglich zu sein. Welches Buch ging deinem Verlag voraus?
Es ist schwierig, ein einziges Buch zu bestimmen. Es gibt ein Buch, das ich immer als Beispiel herangezogen habe. Sicher auch, da es 2012, zwei Jahre vor der Gründung meines Verlags, erschienen war. Dieses Buch war Das Phantom des Alexander Wolf. Sein Autor, Gaito Gasdanow, war in Deutschland noch nie übersetzt. Ein Exil-Russe, der erst in Paris und in den 50ern eine Zeit lang in München gelebt hatte, bis er schließlich starb. Diese Romane – mittlerweile sind vier erschienen – waren völlig unbekannt, mir zumindest. Das schlug ein wie eine Bombe. (zögert) Eine Bombe, das ist ein völlig falsches Bild. Aber es schlug jedenfalls sehr stark ein. Ich weiß nicht, was da war, aber ich hatte das Buch in der Vorschau angekündigt gesehen, mir sogar den Erscheinungs­termin rausge­schrieben, und dann sofort gekauft; noch bevor dann die Besprechungen kamen. Ich war hin und weg. Und ich glaube, bei diesem Buch wurde mir das außerhalb meiner Arbeit zum ersten Mal wirklich klar, was das für Leser bedeuten kann, weil es das für mich bedeutet hat: ein Buch zu lesen, von dem man weiß, während man es liest – man liest ja den Entstehungs­prozess immer mit, dass es im Exil geschrieben und teilweise in Zeitschriften veröffentlicht wurde, jedoch erst in den letzten Jahren als richtiges Buch seine Leser fand – dass das Buch zu mir spricht. Es ist ein wahnsinnig intensives, beeindruckendes Buch und die Geschichte von Gasdanow ist eine klassische 20. Jahrhundert-Geschichte. Dieses Buch habe ich immer als Referenz herangezogen, wenn ich ausdrücken wollte, welche Bücher ich veröffentlichen möchte: Bücher, die aufgrund von politischen oder historischen Umständen heute nicht mehr präsent, aber literarisch außer­ordentlich gut sind. Nichts an ihrem Vergessen ist literarisch begründet. Meine allererste Idee für den Verlag war dann, Wieder- und Neuent­deckungen mit zeit­genössischen Autoren zu mischen. Ich wollte eigentlich auch deutsche Gegenwarts­literatur einbringen. Aber das schmolz dann schnell zusammen, sodass ich gesagt habe, ich möchte wenigstens lebende deutsche Autoren fragen, ob sie ein Nachwort schreiben. Mir war schnell klar, dass dieser Fokus mir entspricht und ich habe es bis heute kein einziges Mal bedauert, keine zeitge­nössischen Autoren mehr zu verlegen. Dabei lese ich viel Gegenwarts­literatur. Gasdanow war eine umwerfende Erfahrung für mich. Ihn kürzlich wiederzulesen, hat mich erneut mitgerissen. Es gibt diese bestimmten Bücher, Nabokov ist ein anderes Beispiel, da frage ich mich, wie er das nur so schreiben konnte.
Eine der wichtigsten Lektorats­erfahrungen bei Matthes & Seitz war, dass ich die Ausgabe von Warlam Schalamow betreut habe, dem Erzähler des Gulags, der eine Innen­ansicht des Gulags gezeigt hat, die man sonst so nicht bekommt. Er hat sich auch mit Solshenizyn zerstritten, weil er ihm vorwarf, zu sehr beschönigt zu haben und die Wahrheit zu verzerren. Sie wollten eigentlich zusammen Archipel Gulag schreiben und dann hat Schalamow sich zurückgezogen. Das war natürlich ein gigantisches Werk der Weltliteratur, was vorher unbekannt war. Aber bei der Lese­erfahrung von Gasdanow wurde mir als Leser klar, wie wichtig es ist, solche Bücher zu kriegen – und das nicht nur als Lektor, der sich dann dafür begeistert, sich damit zu beschäftigen. Einfach, damit die Bücher dann im Buch­handel liegen und gefunden werden können.

Solche Geschichten sind in der Rück­schau immer leichter erzählt, als sie es waren. Ich sehe, dass das ein Befreiungs­kampf war: zu machen, was du machen wolltest. Und dabei war es besonders ein Kampf gegen die Kritiker – all den heutigen Errungen­schaften, den einhelligen, meist hymnischen Besprechungen zum Trotz. Wer waren diese ersten Kritiker?
Meine Familie war es nicht. Es gab im näheren Umfeld wenig Kritiker. Viele haben gesagt: »Aha!«, und denen habe ich angesehen, dass sie denken, »ja mach mal, aber wer weiß, wie lange das gut geht«. Eine Geschichte ist dabei besonders interessant. Einen Autoren, den ich damals lektorierte, habe ich so näher kennengelernt. Er ist sehr wohlhabend und lebt in der Schweiz. Er hat meine Verlags­gründung intensiv begleitet, eben weil wir uns in der Lektorats­arbeit sehr nahe gekommen waren. Er hat meine Arbeit geschätzt und ich hatte ihn sowieso bewundert für das, was er macht. Er hatte schließlich Bereitschaft gezeigt, mich finanziell zu unterstützen und gab mir später den entscheidendsten Widerspruch. Irgendwann stieg er aus. Was mit persönlichen Gekränkt­heiten zu tun hatte. Bei meinem ersten Entwurf für den Verlag waren ja noch lebende Autoren dabei und er dachte, er könnte einer dieser Autoren werden. Das brach irgendwann auseinander, als er feststellte, ich mache da wirklich meine Sache. Ich hatte von ihm sehr viele Anregungen bekommen. Es gibt Autoren, die ich veröffentlicht habe und die auf seine Hinweise zurückgehen. Er machte mir später böse Vorwürfe und kritisierte meinen Verlag als »anti-modern«. Er meinte, wer brauche denn diese »Bauern­schmunzetten«. Wer braucht denn die erzählerischen Machwerke vom Land. Ihm war das zu gefällig und die Avantgarde kommt ihm bei mir zu kurz. Ich glaube jedoch, dass meine Autoren auf den zweiten Blick auch gegen den Strom schwimmen oder quer liegen, damit in bestimmter Hinsicht eine Art von Avantgarde sind. Für ihn war Avantgarde immer eine Auflösung von Sprache. Das empfinde ich als zu eng. Wie dem auch sei: Es war eine starke Kritik, die ich mir manchmal anhören muss, weil einer meiner Schwerpunkte eben bäuerliche Geschichten vom Land sind. Da schlägt mein Herz aus, wenn mir das begegnet. Das sei jedoch spießig oder bieder, wird mir dann vorgeworfen. Dabei interessieren mich die spießigen, biederen Beschreibungen vom Land nicht. Mich interessieren die besonderen Perspektiven auf diese Geschichten und das ist bei allen meinen Büchern der Fall.

In der Gustav-Müller-Straße 46

Anachronismen und Ausgrabungen

Du arbeitest archäologisch. Du gräbst vergessene Autor:innen aus und bezeugst ihre Ent­deckung in Neu­auf­lagen jener Texte, die zu lange vergessen waren. Du säuberst ihre Biografien liebe­voll, ver­schweigst nichts, bist aber immer nach­sichtig, indem du sie so darstellst, wie sie gelesen werden sollten.

Was ja die ureigene Aufgabe eines Verlags sein sollte. Die Präsentation des Autors ist wesentlich für meine Verlagsarbeit.

Aber du hast auch gesagt, du hättest ein ethnologisches Interesse. Du hast Interesse an den Szenen, den kleinen Details, den bestimmten Milieus, und das steht in starkem Widerspruch zu dem, was heute groß in den Feuilletons besprochen wird. Die Autor:innen, die dort auftauchen ­– wir hatten noch kurz vor diesem Gespräch über Joshua Cohen gesprochen – schreiben mit einem ganz anderen Anspruch, kommen aus einer anderen Richtung. Sie sagen: Wir sind sozialkritisch. Wir machen politische Bücher. Sie bedienen sich solcher Adjektive, von denen man auf den ersten Blick sagen würde, sie passten nicht zu deinem Programm. Simon Strauß schreibt, und das mögen manche als paradigmatisch sehen, dein Programm sei nicht zeitgeistig genug.
Das hat er aber positiv gemeint. Und auf den zweiten Blick würde man es auch anders wahrnehmen. Weil du gerade die Opposition zum Politischen ansprichst: Viele meiner Bücher sind, schon durch ihre Veröffent­lichung in einer Zeit, die eminent politisch ist, eine politische Geste. Das könnte man Buch für Buch aufzeigen. Das wichtigstes Beispiel ist Das weiße Leintuch von Antanas Škėma. Das ist ein stark autobiographisch gefärbter Roman, den Škėma in den frühen 50ern geschrieben hat, als er in New York lebte. Er ist Anfang der 40er über Deutschland in die USA vor den Sowjets geflohen. Als displaced person ist er in New York heimisch geworden, beziehungsweise nicht heimisch geworden – und davon handelt der Roman. Der Roman beschreibt seine Lebens­geschichte. Der Protagonist, eigentlich ein Schrift­steller, der als Liftboy arbeitet und aus Litauen geflüchtet war. Er beschreibt als Flüchtling, als Migrant, der in New York nicht Fuß fassen kann, eine Gegenwarts­ebene und gleichzeitig in Rückblenden das Litauen seiner Kindheit, seiner Jugend, seines jungen Erwachsenen­seins. Eine Episode spielt im displaced persons camp in Deutschland. Dieses Buch ist eminent wichtig auch für die heutige Zeit. Und es ist zum Glück genau so rezipiert worden. Das ist, was mir wichtig ist: dass diese Bücher keine wirklichen politischen Kommentare sind, aber auf jeden Fall zum politischen Diskurs beitragen können, wenn man sie denn ernsthaft liest und nicht als oberflächliche Bauern­schmunzette abtut.
Das Gleiche kann man sagen über das Lied vom Abendrot von Lewis Grassic Gibbon. Das ist natürlich ein Roman im bäuerlichen Milieu, der auf einer persön­lichen Ebene die Geschichte einer Emanzipation beschreibt. Eine junge 17-jährige Frau, die nach dem Tod ihrer Eltern entscheidet, nicht zu den Verwandten zu ziehen, sondern gegen das damals Übliche den Hof zu behalten und alleine weiter­zuführen. Das ist eine Ebene, auf der man sich verlieren kann. Diese Schönheit der Land­schafts­beschreibung, das Aufgehen der Geschichte in der Landschaft.
Gleichzeitig ist der abgebildete Diskurs in diesem Buch extrem anti-nationalistisch. Der Roman beschreibt die Aus­wirkungen des andauernden Ersten Weltkrieges auf die schottische Gesellschaft, auf die Land­schaft sogar, denn die Wunden schreiben sich auch in die Landschaft ein. Man kann dieses Buch somit sehr politisch lesen: Es ist der Diskurs Großbritanniens, das Verhältnis vom Englischen zum Schottischen, es geht um das regional oder national Eigene. Wer das Schmunzetten nennt, ist nicht bereit, das eben Beschriebene zu sehen – oder sie haben sich einfach noch nicht genug damit auseinandergesetzt. Aber auch da muss ich sagen: Das kratzt mich wenig. Meine Bücher richten sich nicht an jeden. Wenn Leute das nicht selbst in diesen Büchern lesen, erkläre ich gerne, warum ich das lese. Aber an irgendeinem Punkt höre ich auf, weil ich mich ja nicht in der Position sehe, Leute zu missionieren. Wenn sie dafür nicht empfänglich sind, was ich nicht negativ meine, dann ist das halt so und sie sind vielleicht für andere Dinge empfänglich. Wie viele deutschsprachige Menschen gibt es denn? 80 Millionen plus Österreich und Schweiz? Enzensberger sagt immer: 5000 Menschen interessieren sich überhaupt für Lyrik. Das ist eine Konstante, die sich über Jahrzehnte hält. So ist es mit meinen Büchern – es handelt sich um einen verschwindend kleinen Teil. Der aber wiederum sehr wichtig ist, und das auch für die Gesellschaft. An diesen Teil richte ich mich. Nicht an diejenigen, die das ohnehin nicht erkennen wollen, was in diesen Büchern steckt.

Bei Gary Shteyngarts Super Sad True Love Story sind Bücher ein miefiger, nach Papier stinkender Anachronis­mus. Eine dystopische Geschichte, in der der Mensch nicht länger einer mit einem kleinen Buch unterm Arm ist. Die Leute scannen Daten. Bücher sind geschmack­los geworden. Das ist die Zeit des literarischen Post­humanis­mus, in der Bücher nicht mehr relevant sind und man sich stattdessen über Smart­phones bewertet. Und nun sagst du, das juckt dich nicht. Ist das nicht verant­wortungslos?
(Lacht) Wenn ich in der Verantwortung wäre, wäre das verantwortungslos. Aber ich sehe mich ja nicht in der Verantwortung, Leute zum Lesen oder zum Buch zu bringen. Natürlich betrifft mich das auch. Es gibt die neuen Zahlen vom Börsenverein, die besagen, dass in den letzten fünf Jahren sechs Millionen Leser verloren gegangen sind und vor allem auch Buchkäufer. Und natürlich muss mich das jucken. Auch wenn das nicht die Bücher meiner Leser sind. Was verloren geht, sind die Gelegenheitsleser und die gehören wohl weniger zu denen, die zu meinen Büchern greifen. Was im Übrigen die These der 5000 ewig Glücklichen stärkt. Es gibt diesen harten Kern, der nicht angegriffen wird und immer wieder nachwächst.
Aber es kränkt mich wohl, dass Leute aus meinem erweiterten Freundes­kreis fast aufgehört haben, Bücher zu lesen. Sie lesen wirklich nur noch Nachrichten oder Artikel im Netz. Es gibt mehrere Leute in meinem Umfeld, bei denen ich mitangesehen habe, wie sie nach und nach das Buch abgeschafft haben. Ich glaube, dass sie das gar nicht mal richtig wahrgenommen haben. Das Medium ist auch deshalb in der Krise, weil der Verlust noch gar nicht als dieser Verlust festgestellt wurde. Ich glaube, dass das Bestrebungen wie Lese­gruppen fördert. Mein Ideal ist hingegen die Einsamkeit oder die Zweisamkeit mit dem Buch. Das ganze social reading hat seine Berechtigung in seinem Kreis. Ich selbst spreche ungern über Bücher, direkt nachdem ich sie gelesen habe. Ich brauche eine Weile. Um aber auf die Frage der Verantwortung zurückzu­kommen: Ich glaube, dass man seine Wirkung nicht überschätzen darf. Ich sehe mich als Verlag in der Rolle, zur Verfügung zu stellen, anzubieten. Ob die Leute dann das Buch kaufen oder nicht, kann ich kaum beeinflussen. Da müssen politische Entscheidungen, Bildungsentscheidungen zum Beispiel, getroffen werden.

In einer ästhetischen Hinsicht wendest du dich jedoch ganz konkret gegen einen großen Teil der Bücher­industrie. Du wendest dich gegen die Leute, die Literatur in kleinen Kreisen inszenieren wollen.
Die dürfen gerne in ihrem Kreis meine Bücher lesen.

Es gibt Worte wie bookstagram, wo Bücher als Lifestyle-Accessoire miss­braucht werden. Das hat mit dem Buch als Wirklichkeits­erfahrung weniger zu tun, als mit dem Buch als Gegenstand, als Zeichen für etwas, das sekundär ist.
Aber da spiele ich ja auch ein wenig mit. Indem ich die Bücher so schön mache wie nur möglich. Auf das Buch als Accessoire ziele ich jedoch bestimmt nicht ab, dass ich die Bücher hübsch inszeniere, das ist der Fall. Ich sehe da keinen direkten Widerspruch. Aber diese endlosen Bilder von Büchern am Strand, das kann ich nicht sehen. Das widerspricht mir. Wobei ich mich nicht wehre, wenn jemand meine Bücher am Strand liest.

Du bist ja nicht der Einzige, der sagt, dass der Kreis der Leser:innen schon immer klein war, dass gute Literatur schon immer eine Nischen­angelegen­heit war. Das sagt auch deine gute Freundin Esther Kinsky. Was darin mitschwingt, ist die Abgrenzung von einem Teil des Bücher­markts, der in euren Augen schlechte Literatur darstellt. Die schlechten Bücher vergraulen der Literatur die Leser.
Ich weiß nicht, ob die Leser vergrault werden. Denn dass diese Bücher veröffentlicht werden, ist ein Zeichen dafür, dass es eine Nachfrage gibt. Was micht stört, ist – und jetzt klinge ich fast wie ein bösartiger Kulturkritiker, aber an diesem Punkt störe ich mich wirklich, wenn ich ehrlich und bekenntishaft bin – was mich stört, ist also, wenn ich merke, dass es zu einer unzulässigen Vermischung kommt. In Buchläden passiert das ständig. Da liegen meine Bücher neben den Taschen­büchern oberfläch­licher Krimis. Im Buchladen müssen diese sicher auch angeboten werden. Aber mich kränkt, wenn der Leser dann weiter mischt. Wenn der Leser denkt, jetzt lese ich mal das, dann das, dann das. Wenn da das Buch als austauschbar und beliebig daherkommt. Das entspricht nicht meinem Zugang zur Literatur. Dadurch, dass ich viel lese, lese ich auch Bücher, die wenig Eindruck hinterlassen bei mir, weil mich vielleicht bloß ein bestimmter Aspekt interessiert: der Autor, der Übersetzer, der Verlag. Aber wenn es um die wirklichen Lese­erlebnisse geht, kann ich zumindest für mich eine klare Grenze ziehen, wo für mich die Bücher anfangen, die mich interessieren und die, die mich nicht interessieren. Wenn ich nun merke, dass das bei Lesern vermischt wird, weil sie sich für das Buch von Ronja von Rönne genauso begeistern können wie für Die Szenen aus Schottland, dann werde ich skeptisch. In diesem Moment ist das Lesen von Büchern zu etwas geworden, aus dem man nur noch seine Identität für die Außenwelt zusammensetzt. Das fühlt sich für mich wie Gewalt an, die man bestimmten Büchern antut. Dagegen kann ich auch nichts tun, außer meine Bücher teurer zu machen, damit sie nur noch Leute kaufen, die sie wirklich wollen. Aber das wäre letztlich albern. Ich muss damit leben, dass manche zugleich Paulo Coelho und Lewis Grassic Gibbon lesen können. Und das ist vielleicht auch gar nicht so schlecht und ich sollte mich nicht grämen.

Was ist die Ästhetik eines Guggolz-Buchs? Und damit meine ich nicht die Äußerlichkeiten, sondern die Narration. Gibt es einen Ariadnefaden, den man, wenn man wollte, zurückverfolgen könnte und der von Anfang an alle deine Bücher verbindet?
Ich glaube, auf der inhaltlichen Ebene kommt man damit nicht ans Ziel, weil es den Faden dort nicht gibt, und auch, weil ich selbst nur unterschiedliche Sachen gut finde. Bei der Präsentation des Buches gibt es aber eindeutig einen roten Faden: Ich versuche, dass ich jedem Buch ein Nachwort beigebe, sodass die Bücher kommentiert sind. Durch die Vermittlungsarbeit versuche ich, das Buch einzuordnen und bestimmte Schlüssel für das Buch zu geben. Mir ist zudem die Übersetzung wichtig, auch weil sie oft übersehen wird. Ich schreibe den Namen des Übersetzers auf den Buch­deckel. Nicht, weil ich dem Übersetzer auf die Schulter klopfen will, sondern damit ich – und das ist eine ästhetische Frage – die Distanz zu dem Buch nie verleugne. Ich tue nicht so, als sei das ein Buch, das heute geschrieben sein könnte. Das knüpft an das an, was du mit ethnologischem Interesse meintest. Es ist mir deshalb wichtig, dass das Buch gleich auf dem Cover als ein Übersetztes erkennbar ist, als Spiel mit der Distanz, das Spiel mit der Indirektheit – wenn ein Buch vor hundert Jahren geschrieben wurde und heute gelesen wird, spielt das auch über Bande. All diese Verfremdungen sollen nicht versteckt, sondern im Gegenteil: herausgestellt werden. Deshalb betone ich also die gute Übersetzung, das ist mir wichtig. Und das mute ich dem Leser zu. Viele Leser wünschen, in das Buch einzutauchen und zu vergessen. Was man ja letztlich auch kann. Doch der Rahmen spiegelt diesen mehrfach gebrochenen Blick, den wir auf die Bücher heute haben, wider.
In der inneren Ästhetik der Bücher gibt es ebenso Leitlinien. Es gibt den Blick der Entwurzelung und der Ortlosigkeit. Viele der Bücher haben etwas mit Exil und Fremdheit zu tun, mit dem Blick auf das Land und darauf, was das Land hergibt. Viele dieser Linien sieht man erst im Nachhinein. Und ganz viele Bücher spielen zu Zeiten von Wendepunkten in der Geschichte des Landes. Oft spielt Revolution eine Rolle, Krieg und Umbruch. Aber das ist vielleicht gar keine ästhetische Frage, sondern eher eine, die das betrifft, worüber Autoren schreiben. Es ist schwierig, ästhetische Linien zu ziehen. Alles, was ich jetzt sagen wollte, findet ein Gegenbeispiel. Was man dennoch sagen könnte: Es gibt viele Bücher, die sich in kein Romankorsett pressen lassen. Ich veröffentliche zwar auch Romane, aber ebenso zahlreiche Bücher, die dieses Format auflösen. Ich würde sagen, bei Škėma fängt das schon an. Ob das wirklich ein Roman ist, könnte man diskutieren. Die Reiseskizzen von Harry Martinson, Reisen ohne Ziel. Ich habe viele Erzählbände. Bei Caragiale sind es nicht mal mehr Erzählungen, so klein sind diese Texte geworden. Ich mag es, wenn Texte als Form indifferent, uneindeutig sind oder changieren. Mir fällt es, wie gesagt, schwer, eine ästhetische Linie zu benennen. Hast du einen Ansatz und deshalb die Frage gestellt?

Ich dachte, du hättest ein Bild eines idealen Buches. Und dass wir daher deine Bücher von diesem Bild aus lesen könnten. Wie lässt sich ein Programm systemati­sieren? Was ist der abstrakte Gedanke hinter den Projekten? Jedes Buch ist aufwendig und du bist immer beteiligt, von Anfang bis Ende. Es gibt ja in diesem Verlag …
… außer mir niemanden. (lacht)

Und deine Beine sind die Über­setzer:innen. Gibt es ein Zauber­wort, das deine Bücher sprechen?
Was wirklich wichtig ist für die Verlags­geschichte knüpft sich an den Punkt, an dem ich das Gefühl hatte, ernster genommen zu werden, an dem das Ein-Paar-Bücher-machen zu einem Programm wurde. Ich glaube also, auch wenn ich die Frage nach dem Kern unmöglich beantworten kann, dass es eine Wiedererkennbarkeit und eine starke Geschlossen­heit in meinem Programm gibt. An diesem Punkt, persönlich und für den Verlag, ist ein einzelnes Buch in ein Programm umgeschlagen.

Es bestehen also Verwandschafts­beziehungen zwischen deinen Büchern. Und es gibt ein Programm, offensichtlich …
… aber keinen Katalog. Die Programmatik ist regional eingeschränkt. Es geht um Nord- und Osteuropa. Ich verlege tote, vergessene Autoren. Ich bin noch nie weiter als bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurückgegangen, weil das nicht meiner Vorliebe entspricht. Es gibt eine einge­schränkte Gruppe von Büchern, die überhaupt in Frage kommt, veröffentlicht zu werden.
Was ich nie sein wollte und hoffentlich nicht bin ist: dogmatisch. Ich finde Dogmatismus sehr unangenehm. »Warum machst du einen ungarischen Autor, Ungarn ist Mittel­europa und nicht Osteuropa?« Warum einen schottischen Autor, den ich gemacht hatte, weil ich mich so für die Möglichkeit begeistert habe, mit Esther Kinsky zusammen­zuarbeiten. Schottland gehört auch nicht zu Nord­europa. Diese Form von Freiheit und Undogmatis­mus möchte ich mir herausnehmen. Ich möchte Entscheidungen treffen können, die von außen so aussehen, als widersprächen sie den Regeln. Dogmatisch möchte ich nicht werden. Konsequent will ich sein.

Sebastian Guggolz I

Erben und Abweichen

Wir haben über Geschichte und Gegen­wart deines Verlags gesprochen. Das darf nicht unter­schlagen, dass du davor nicht nichts gemacht hast, was mit Büchern zusammen­hing. Du hast bereits erwähnt, dass du am Umbau von Matthes & Seitz zum heutigen Matthes & Seitz Berlin beteiligt warst. Du warst Lektor. Ein Beruf, von dem viele glauben, das sei die bessere Vokabel für einen Korrektur­leser. Manche Autor:innen machen ihre Lektor:innen selbst bekannt. Roger Willemsen sprach oft von seiner »Raupe«, dem Lektor Jürgen Hosemann. Wie hat dich diese Arbeit als Lektor auf deinen eigenen Verlag vorbereitet?

Ich war bei Matthes & Seitz der einzige Lektor. Ich habe also sowohl die Arbeit gemacht, auf die du abzielst, aber dazu als Lektor in dem Bereich gearbeitet, in dem ich auch jetzt noch tätig bin – mit Übersetzern zusammen. Ich konnte bei Matthes & Seitz alles kennenlernen. Das war für mich ein großes Glück. Insofern gibt es eine eindeutige Vorbereitung im Sinne der Ausbildung: Wie arbeitet man mit übersetzten Texten? Da gibt es auch Auseinandersetzungen mit Leuten, die sagen, ich könnte das nicht. Viele Lektoren sagen, man müsse die Ursprungssprache beherrschen, um einen fremdsprachigen Text lektorieren zu können. Das sehe ich – naturgemäß – ein bisschen anders. Die andere Sache ist die Arbeit mit den lebenden Autoren. Ich glaube, meine Geschichte als Lektor ist sehr stark davon bestimmt, dass ich da ziemlich reingerutscht bin, und das sehr früh. Ich habe im Hauptfach Kunstgeschichte studiert, und Germanistik nur im Nebenfach. Mir war jedoch immer klar, dass Literatur ein großer Bestandteil meines Lebens ist – und dennoch hatte ich mich für Kunst­geschichte entschieden. Ich wollte promovieren und hatte auch angefangen, aber dann schnell gemerkt, dass das überhaupt nicht meins ist. Das Akademische hat mich zu wenig interessiert und befriedigt. Während meiner Promotion, mit 24, 25, habe ich bei Matthes & Seitz als Praktikant angefangen und ziemlich schnell gesehen: Genau das ist es, was ich machen will – und die Doktor­arbeit ist es nicht. Dann habe ich nach einer kurzen Übergangs­phase, wo ich für andere Verlage als Korrektor und Lektor gearbeitet habe, sehr schnell bei Matthes & Seitz angefangen: erst als Volontär, dann als freier und schließlich als fester Mitarbeiter. Ich war Mitte 20. Was mich geprägt hat, ist, dass mir Andreas Rötzer, der Verleger von Matthes & Seitz, sehr schnell sehr viel Verantwortung gegeben hat. Nicht im Sinne der Programmgestaltung, der Auswahl – eine der wichtigsten Aufgaben des Lektors. Da war ich deutlich weniger involviert als Andreas selbst. Sondern insofern, als dass Andreas mir große Texte und große Autoren zugetraut hat. Eine der ersten Lektorats­arbeiten war Schalamow. Der gehört in die allererste Riege der wichtigsten Autoren. Und ich durfte mit 25 Jahren Schalamow lektorieren. Bis heute weiß ich das sehr zu schätzen. Es führt zugleich dazu, dass meine Ansprüche sehr hoch sind. Ich konnte mich so früh mit großen Autoren intensiv beschäftigen, dass ich, glaube ich, zu vielen literarischen Experimenten gar nicht mehr bereit bin.

Warum wolltest du auch auf die Programm­gestaltung einwirken?
Da gibt es nicht einen Punkt – aber wohl eine Entwicklung. Mit Mitte 20 habe ich alles aufgesaugt und die Chancen zu nutzen versucht. Nach einer ersten Phase der Berauschtheit, des Glücks, der Freude, kam irgendwann der Punkt, an dem ich Entscheidungen bei der Auswahl mittreffen wollte. Ich war angekommen, hatte die ersten Bücher gemacht. Jetzt könnte ich doch auch mal »Tipps« geben. Oder es gab Bücher, an denen ich arbeiten musste, von denen ich dachte, dass ich sie nicht verlegen würde. Das ist ganz natürlich, dass ich in der eigenen Auseinander­setzung auch eine stärkere Haltung gewonnen habe. Ich wurde einfach selbst­bewusster im Zugang zu den Büchern. Das kommt automatisch, wenn man Erfahrungen sammelt, dass man dann irgendwann gestaltend wird. Und hier lässt sich auch nicht verhindern, dass Differenzen entstehen.

Der Konflikt war unvermeidbar.
Dieser ja. Aber der muss ja nicht zu einem Bruch oder einer Trennung führen. Wobei der Bruch von Lektor und Verleger verbreitet ist. Heinrich von Berenberg war viele Jahre Lektor bei Wagenbach und hat dann den Berenberg-Verlag gegründet. Suhrkamp hat eine ganze Riege an Lektoren, die sich selbst­ständig gemacht haben. Von Ammann über Weissbooks, über den Verlag der Autoren. Es gibt legendäre Geschichten von Lektoren, die irgendwann weggegangen sind. Thorsten Arendt, der jetzt bei Wallstein Mitverleger ist, war lange Zeit bei Suhrkamp. Es gibt viele, die ihre eigenen Ideen irgendwann umsetzen. Der Konflikt ist also unvermeidbar. Der Bruch ist es nicht.

Trägst du denn Erb­material mit dir herum? Wenn du darüber sprichst, nehme ich an, dass es Linien gibt, die du weitergeführt hast.
Auf jeden Fall. Es gibt Kontinuitäten, was die Übersetzer angeht. Ich arbeite mit Über­setzern zusammen, die ich durch meine Arbeit bei Matthes & Seitz kennengelernt habe. Oder Esther Kinsky, mit der ich zusammen­gearbeitet habe als Lektor bei ihren ersten Prosa­arbeiten und als Übe­rsetzerin. Das ist mein Erbmaterial. Das kann auch belastend sein, so als Rucksack. Es kann aber ebenso ein Netzwerk sein – Beziehungen.
Wahrscheinlich waren das Profil von Matthes & Seitz und meine Arbeit dort auch Gründe dafür, dass ich zuallererst Sach­bücher ausgeschlossen habe, weil man dafür als kleiner Verlag nicht die Kraft hat und für Sach­bücher einfach die Auflage zählt. Für die Auswahl der Literatur dachte ich ja, wie gesagt, anfangs noch, deutsch­sprachige Gegenwarts­literatur mit aufzunehmen, weil ich das als gute Kombination empfand. Aber ich kam schnell an den Punkt, an dem ich dachte, dass ich allein zu klein bin. Man möchte ja das Buch auch vermarkten und das Buch steigt in seiner Sichtbarkeit enorm, wenn man Veranstal­tungen macht. Ich wusste, das kann ich mir allein nicht leisten, da müsste ich jemanden einstellen und das wollte ich nicht.
Viele Beziehungen zu den Autoren habe ich in Freund­schaften weitergeführt. Mit Esther Kinsky habe ich weiter zusammen­gearbeitet. Diese Freundschaften sind ein bereicherndes, positives Erbe.

Wir sitzen auf einer Bank zwischen Grab­steinen, zwischen Gestorbenen, und gerade hast du, was man nicht lesen kann, wie nebenbei mit deiner Hand nach links gewiesen. Auf ein Grab. Auf das Grab von Martin Chalmers, der Esther Kinskys Mann war. Warum wolltest du in diesem Raum sprechen?
Zum einen wollte ich, ganz plump, einen Ort haben, an dem wir draußen sind. Das ist mir auch der nächste Ort, denn er ist nah beim Büro. Ich komme oft hierher. Dieser Friedhof ist ein unglaublich schöner Ort. Das war nicht die Intention, als ich den Ort vorgeschlagen habe, aber man kann an dem Grab von Martin einiges klären. Esther ist, über das Übersetzen hinaus, ein sehr prägender und wichtiger Mensch gewesen. Ich weiß gar nicht, ob sie das liest, ob sie es gerne liest. Aber das ist ja auch nicht entscheidend, das ist meine Geschichte. Esther, und mit ihr auch Martin, als er noch lebte ... die beiden verkörperten für mich einen Idealtypus von literarischen Intellektuellen. Martin war auch Übersetzer. Ein Schotte, der den umgekehrten Weg übersetzt hat, also ins Schottische. Er hat zum Beispiel Peter Handke übersetzt, Alexander Kluge, viele große deutsche Autoren. Er hat auch Klemperer übersetzt. Martin und Esther haben etwas ausgestrahlt, dass für mich so wichtig war. Bei ihnen habe ich gesehen, dass die Beschäftigung mit Literatur lebensfüllend sein kann. Sie haben nicht nur über Literatur gesprochen, aber man merkte, wie stark sie sich gegenseitig bedingten. Sie sprachen über Lebens­entwürfe, Geschichten, Auseinander­setzungen mit Themen. Diese Gespräche entsprachen so unglaublich stark dem, wie auch ich an Literatur herangehe. Das erzählt immer etwas über einen Weltzugang, über eine Vernetzung von Leben, Lesen und Schreiben. Das habe ich nirgendwo so gesehen.
Ich stand immer auch in Distanz, natürlich, ich war ja kein Teil der Beziehung. Aber sie haben mich stark an ihr teilhaben lassen. Und Martin, ganz besonders, war eine unvergleichliche Figur. Sehr ruhig und mit einem irrsinnig tief fundierten Wissen. Eine Bildung hatte er, wie ich kaum jemanden je kannte. Gespräche mit ihm haben immer zwangsläufig an einen Punkt geführt, an dem plötzlich ein Name erwähnt wurde, den ich noch nie gehört hatte. Oder selbst ein Sachverhalt. Aus Gesprächen mit Martin ging man immer klüger hervor, als man hineingegangen ist.

Du warst nicht Teil dieser Beziehung und doch hast du Anteil genommen – auf deine Weise. Aber ihr drei wart doch Teil einer Familie, einer großen, offenen Familie.
»Familie«, das klingt nach Hierarchie: Vater, Mutter, Kind …

… und du wärst dann das Kind.
Und das will ich nicht sein, obwohl es letztlich meine Rolle war. Das ist eine Art der Verwandt­schaft. Intuitiv besteht das gemeinsame Interesse an den gleichen Autoren, den gleichen Regionen. Kluge, Handke, Bernhard hatte er, glaube ich, übersetzt. Das trifft sofort in ein Herz, das dann schneller schlägt. Über Walser haben wir lange gesprochen. Es war irgendwie immer klar, dass wir die gleichen Autoren interessant finden. Und wenn der eine von etwas erzählte, war klar, dass es für den anderen interessant ist. Das ging so schnell, dass das Gespräch nie aufhörte und immer weiterging. Ihr Leben fand ich so beeindruckend. Bei Esther sieht man das in vielen Formen: diese Radikalität, mit der sie sich der Literatur verschreibt. Diese Radikalität ist ungemein anziehend. Dass wir uns unausgesprochen verstanden haben und dass wir es nicht aussprechen mussten, war gegeben.

Sebastian Guggolz II

Wir verlassen den Fried­hof und spazieren entlang der Straßen Schöne­bergs, die Sebastian gut kennt. Wir steigen ins Auto und fahren ins reiche Charlotten­burg, zum Literatur­haus. Im dortigen Café setzen wir uns an einen runden Tisch im Außen­bereich, der ein wenig zu groß für uns ist. Eine Gesell­schaft ist drinnen zusammen­gekommen. Bessere Anzüge gehen hinein. Mit jeder Hand­tasche könnte Sebastian ein weiteres Buch machen, es vor der Einsam­keit retten, glaube ich. Ein älterer, hagerer Herr steht rauchend am oberen Ende der Stufen und hält gelegent­lich die Tür auf. Er bewegt sich unsicher und gibt mir doch das Gefühl, wir könnten hier falsch sein, während er ganz richtig steht. Er wird für den Rest des Gesprächs äugen. In diesem Raum spricht man leise. Wir sind auf groß­bürger­lichem Terrain.

Du sagtest, du tragest einen Rucksack. Das ist eine Metapher und wir haben bisher nur rhapsodisch über sie gesprochen und noch wenig im Blick auf ihren Inhalt. Was hätte ich in deinem Rucksack gefunden? Und was sollte ein junger Verleger bei sich haben?
Ich kann nur sagen, was ein junger Verleger aus meiner Sicht im Rucksack haben sollte. Von den Verlagsgründungen der letzten Jahre waren wenige so wie meine. Die meisten sind Quer­einsteiger, die schnell Probleme bekommen, die ich aufgrund meines Rucksacks vermeiden konnte. Ich hatte bereits ein umfassendes Bild von den Aufgaben und Heraus­forderungen, die mir bevorstehen würden. Das hat mir geholfen. Auch hat das dazu geführt, dass der Verlag gleich auf der Flughöhe starten konnte, auf der er jetzt noch ist. Für mich war klar, dass ich ein professionelles Vertriebs­system brauchte: Vertreter, eine Auslieferung. Außerdem stand fest, dass ich von Anfang an eine Vorschau haben möchte, verbunden mit einem klaren Verlags­programm. Die erste Vorschau war darum auch ein Bekenntnis zu dem, was ich alles machen möchte. Ein Manifest. Ich hatte eine Vorstellung davon, wie ich die Presse ansprechen muss, wie ich auf sie eingehe.
Der Vertrieb ist dabei eine der Sachen, die viele unterschätzen. Ohne professio­nellen Vertrieb können sich erstmal wenig Leute für deine Bücher interessieren – denn sie sind schlicht nicht verfügbar. Sie tauchen nirgendwo auf. Das Bewusstsein dafür ist eines der wichtigsten Mitbringsel aus meiner Zeit bei Matthes & Seitz. Darüber hinaus konnte ich auf ein gutes Netz­werk an Übersetzern zurückgreifen. Einige wichtige Figuren im Betrieb kannte ich persönlich. All diese Beziehungen, die ich bereits geknüpft hatte, waren im Nachhinein sehr wichtig – wenngleich sie mir im Moment der Gründung nicht unbedingt bewusst gewesen waren.
Zuletzt hat mir das Schlagwort »Matthes & Seitz« mancherorts tatsächlich viel geholfen. Den Verlag kennt man mittlerweile, vor allem in der Szene. Er steht für etwas Gutes, etwas Anregendes. Wenn ich den Leuten also sagte, ich sei Sebastian Guggolz vom Guggolz Verlag, konnten die erstmal wenig damit anfangen. Wenn ich den Leuten aber eröffnete, ich hätte vorher sechs Jahre fest bei Matthes & Seitz gearbeitet und mich kürzlich mit einem eigenen Verlag selbstständig gemacht, dann wurde und werde ich sofort auf eine andere Art wahrgenommen. Dieses positive Stigma war ein Schlüssel.

Ist das eine der Oberflächlich­keiten des Literatur­betriebs?
Ich weiß nicht, ob das ober­flächlich ist. Denn die Tatsache, dass ich so lange bei Matthes & Seitz gearbeitet hatte und dass ich der erste Mitarbeiter war, den Andreas [Rötzer] einstellte, hat schon eine Menge mit mir gemacht. Diese Erfahrung ist mir bis heute extrem wichtig. Dass dieses Signalwort eine positive Wirkung entfaltet, würde ich nicht als ober­flächlich bezeichnen. Damit ist vieles verbunden.

Eine Kellnerin bringt zwei Mal schwedische Apfel­torte mit Sahne. Der hagere Alte blickt auf das Aufnahme­gerät.

Die Oberflächlich­keiten machen sich für mich an anderen Punkten fest. Hier funktioniert das eher wie ein Siegel. Ich glaube, die Leute sind erleichtert, wenn sie sehen, dass hier jemand den »klassischen« Weg gegangen ist: bei einem anderen Verlag als Lektor durchgesetzt, dort seine ersten Meriten verdient, sich ausprobiert, bevor er sich dazu entscheidet, selbst zu gründen. Die Motivation dazu ist in diesem Fall eine andere, als bei einem Quer­einsteiger, der beispielsweise davor in einem Kulturamt gearbeitet hat. Mir sind, ganz lyrisch gesagt, die Mühen der Ebene deutlich bewusst gewesen. Dies hat sich bewahrheitet: Bei vielen Schritten wusste ich bereits, welche Probleme auf mich zukommen und konnte ihnen besser begegnen.
Natürlich hab ich mich am Anfang auch ein wenig gegen diesen Mechanismus gewehrt. Ich wollte als ich selbst wahrge­nommen werden und nicht als das Produkt dessen, was ich vorher getan hatte. Aber ich habe mich recht schnell damit arrangiert. Wenn ich jetzt auch keinen Kontakt mehr mit Andreas Rötzer habe, so bleibt er natürlich bis heute eine prägende Figur für mich und wird es immer sein. Der Einfluss wird geringer und meine eigene Geschichte größer, aber dass es Teil meiner Geschichte ist, akzeptiere ich.

»Ich war der erste Mitarbeiter.« Das sagst du mit Stolz.
Nein, Stolz ist das nicht. Wichtig ist mir das mit dem ersten Mitarbeiter nur darum, weil der Verlag noch sehr klein gewesen ist. Heute hat der Verlag acht Mitarbeiter, ist sehr viel größer und auch insgesamt ein anderer als damals. Als ich angefangen habe, war Andreas allein. Es gab lediglich eine Halbtags­stelle, bei der sich um die Presse­arbeit gekümmert wurde. Eine Französin hat diese Stelle übernommen. Das war die einzige Mitarbeiterin zu der Zeit. Ich habe dann angefangen und einfach nicht mehr aufgehört, bis ich schließlich der erste feste Mitarbeiter im Verlag war. Was ich dabei empfinde, ist nicht wirklich Stolz, weil ich mir nichts darauf einbilde. Dass ich der erste Mitarbeiter war, hilft bei der Beschreibung der Situation, in der ich zum Verlag dazugekommen bin. Das Wachstum, das Andreas mit dem Verlag angestrebt hat – er wollte ihn größer machen, ihn professionali­sieren – war noch nicht eingetreten. Das heißt, ich bin zum Verlag dazugestoßen, als dieser so groß war, wie mein eigener Verlag jetzt. Und dieses kontinuierliche Wachstums­streben war auch einer der Aspekte, die mich am Ende dazu gebracht haben, zu sagen: Da möchte ich nicht mehr mitgehen. Mir ist es wichtig, das so zu erzählen, um zu verdeutlichen: Ich bin nicht hineingekommen im Rahmen eines Ausbildungs­berufs. Der Verlag ist mit mir gewachsen und ich mit ihm. Umso schmerz­hafter war am Ende der Punkt, an dem ich feststellen musste, dass es nicht mehr gemeinsam geht.

Eine gutmütige Perspektive auf diesen Konflikt, den du beschreibst, wäre zu sagen, dass gewisse Entscheidungen in der Ausrichtung des Programms irgendwann zwingend werden. Ich würde vermuten, dass die Gründe, den Verlag anders und breiter auszurichten, nachvollziehbare gewesen sind – obwohl du sie nicht geteilt hast. Könntest nicht auch du Gefahr laufen, dass dir mal Ähnliches passiert?
So etwas passiert mir nicht.

Warum?
Ich will nicht größer werden. Ich strebe nicht danach, wichtiger zu werden oder mehr Einfluss zu bekommen. Das liegt mir nicht, zumindest nicht im Sinne des Verlags. Ich bin der festen Über­zeugung, dass die aktuelle Größe meines Verlags die einzig mögliche für einen dieser Ausrichtung ist. Man müsste den Verlag komplett neu starten, wollte man ihn größer machen. Dafür bin ich nicht der Typ. Dahin geht mein Geltungs­streben nicht. Das äußert sich eher auf anderen Ebenen. Den Anfang der Vergrößerung bei Matthes & Seitz habe ich ja noch mitgekriegt. Mir war sonnenklar, dass die Verluste, die damit einhergehen, für mich gravierender sein werden, als das, was man am Ende vom Wachstum haben wird. Der Verlust der Freiheit, der Unabhängig­keit, der Konzentration oder der Überschau­barkeit etwa. All das sind Dinge, die ich unglaublich schätze und auch mit meinem Verlag suche, sie anstrebe. Das würde ich nicht aufs Spiel setzen.

Sebastian Guggolz III

Orientieren und Erschöpfen

Würdest du sagen, dass das Über­schätzen der eigenen Geltung etwas ist, was über Matthes & Seitz und damit auch über deine Geschichte hinausgeht, das vielleicht sogar, ein generelles Laster des Literatur­betriebes ist? Ein schlechter Ausweis?

Ein Problem des Literatur­betriebs ist immer schon gewesen: die Selbst­über­schätzung der eigenen Bedeutung. Wenn man sich die Zahlen anschaut, sieht man ja, wie irrelevant das alles, was dort gemacht wird, oft ist. Ich weiß aus Gesprächen mit Kollegen von Suhrkamp, dass ein von mir sehr verehrter Autor wie Josef Winkler, der für meine eigene Lese-Biographie unglaublich wichtig, ein Büchner-Preisträger ist, dass der weniger Bücher verkauft, als ich von meinen Büchern teilweise. Der Einsatz des Verlags steht in keinem Verhältnis zum Ertrag, den das Buch im Verkauf macht. Und das ist nur ein willkürlich gewähltes Beispiel. Die Auflage­zahlen sind gravierend gesunken. Vor zwanzig Jahren lag der Mittelbau deutsch­sprachiger Literatur bei 20.000 bis 50.000 Exemplaren, heute liegt er bei gut 6.000 bis 10.000. Wenn man sich ständig verdeutlicht, wie wenig Leute das Buch tatsächlich lesen, würde einen das zutiefst in Depressionen stürzen.

Müsste man es dann machen wie der Guggolz Verlag?
(lacht) Ja, natürlich! Was meinst du?

Ich meine: Ist das ein Modell? Das, was du machst, gerade auch mit Blick auf den Erfolg, den deine Bücher haben.
Mein Verlag ist nicht profitabel. Das muss man sich vor Augen führen. So schön es ist: Geld verdienen kann man damit nicht, wenn das denn das Kriterium für Erfolg ist. Es besteht dennoch die Möglichkeit, inhaltliche Integrität zu bewahren, diesen Weg in die Nische und Kleinheit zu gehen.

Macht Suhrkamp das denn nicht: inhaltliche Integrität bewahren?
Nein, natürlich nicht. Schau dir das Suhrkamp-Programm an. Ich finde das nach wie vor großartig und viele Bücher sind fantastisch. Aber ich weiß nicht, warum Elena Ferrante bei Suhrkamp erscheinen musste. Es hat deren Bilanzen gerettet. Aber einen mehrteiligen Unterhaltungsroman aus Italien zu veröffentlichen, ist in meinen Augen nicht die Sache von Suhrkamp.

Kann ein Ein-Mann-Verlag beurteilen, wie große Verlage gelingen können? Könntest du da helfen?
Nein. Die Mechanismen von Unter­haltungs­literatur und populären Büchern haben sich mir nie offenbart. Da war Matthes & Seitz auch in der Zeit, in der ich noch da war, zu klein. Ich merke aus Gesprächen mit Kollegen, dass viele darunter leiden, dass es einen extremen Erfolgsdruck gibt und allen irgendwie klar ist, dass es auf Dauer nicht zu halten ist. Ich glaube, Unseld hat damals die Misch­kalkulation in die großen Verlage eingeführt. Man macht ein paar sichere Erfolge, um sich vieles andere, wie Lyrik oder abseitige Essays, leisten zu können. Diese Querfinanzierung war in den 60ern, 70ern und 80ern super, in den 90ern lief es auch noch gut. Aber ein Konzept für die Zukunft ist es nicht.

So entstehen unsägliche Konstel­lationen, wo Autoren der Nischen­literatur schlecht über die populären Autoren ihres Verlags sprechen, immer versehen mit dem Zusatz: Es ist ja auch nicht ganz so schlimm, weil letztlich bezahlt sie oder er ja dafür, dass ich schreiben kann.
Ja, ein recht seltsames Konstrukt. Ich verstehe, dass sich einiges an Literatur einfach nicht rechnet. Aber es muss sich nur mal politisch der Wind drehen und schon werden einige Autoren nicht mehr gemacht. Dieses drohende Urteil, wonach der oder die sich bald nicht mehr rechnet, führt zu einer permanenten Bedrohung, aus dem Raster zu fliegen. Wenn die wirtschaftlichen Kriterien maßgeblich werden, sehe ich ein echtes Problem. Das geschieht bei großen Verlagen schneller als bei kleinen.

Wann hat dieser Trend zu Gefälligkeits­programmen begonnen?
Ich glaube, das war schon immer so. Auch am Anfang waren schnell Groschen- und Kolportageromane gewichtige Teile des Buchmarkts. Das ist dem Markt eingeschrieben. Ich fühle mich immer ein wenig beschmutzt, wenn ich im Bücherregal einer Buchhandlung einen Paulo Coelho neben einem meiner Bücher stehen sehe. Das kränkt mich. Mit dieser Kränkung muss ich leben. Ich finde es nur problematisch, wenn gesagt wird: Buch ist Buch, als gäbe es keinen Unterschied. Oder, was man auch oft hört, ist, dass alle sich so über den Erfolg von Harry Potter freuen, weil es Kinder zum Lesen brächte. Mag sein, aber das führt Kinder nicht dazu, dass sie meine Bücher lesen. Ich verspüre keine unmittelbare Dankbarkeit für Harry Potter. Es ist besser, sie lesen ihn, als nichts, klar. Aber nur weil sie Harry Potter lesen, sind sie noch nicht für die Literatur gewonnen.

Wäre ich jetzt Harry Potter-Fan – und ich kenne einige Freunde, die mit diesen Büchern aufgewachsen sind oder zumindest intensive Leser waren und heute Walter Benjamin lesen –, könnte ich sagen: Sieh mal einer an, der Sebastian Guggolz ist gekränkt.
(lacht) Nein, die Kränkung ist nicht mein Haupt­charakteristikum. Nur in dem Moment, in dem ich das im Bücherregal sehe. Natürlich gibt es den Weg über eine Einstiegsdroge. Das heißt nicht, dass jeder, der kifft, auch härtere Drogen nimmt. Aber wahr­scheinlich hat jeder, der später härtere Drogen nimmt, früher mal gekifft. Genauso ist es mit den Büchern. Nicht jeder, der früher Harry Potter gelesen hat, liest später dann große Literatur. Aber vermutlich ist jeder mit Kinder- und Jugendliteratur eingestiegen, um später zu den großen Texten zu kommen. Dennoch ist die Lösung des Problems, dass Leute weniger oder gar nicht mehr lesen, gerade nicht, ihnen noch mehr Unterhaltung zu bieten. Die Lösung läge schlicht darin, dass man es schafft, die Leute wieder zum Lesen von Literatur zu bringen. Man darf die Schwelle nicht absenken, nur um mehr Leute mitzunehmen. Nichts garantiert, dass sie den Weg auch weitergehen.

Setzt dein Literaturbegriff auf Überforderung?
Auf jeden Fall. Literatur ist immer Überforderung. Die Lektüre muss mir irgendwas geben, was ich ohne das Buch nicht hätte. Reine Ablenkung oder Unterhaltung reicht dafür nicht aus. Es muss eine Heraus­forderung involviert sein, eine Anmaßung, eine Überraschung, was nicht heißt, dass ich auf eine Pointe warte. Es muss irgendwas sein, was ich vorher so nicht gedacht hätte. Sonst sehe ich keinen Grund, zu lesen. Ich sehe auch keinen Grund, ins Kino zu gehen, wenn ich weiß, was ich sehen werde und zwar bis ins Detail. Es muss eine Form der Überraschung geben.

Würdest du diese Diagnose anlegen wollen an populärwissenschaftlich gestützte Diagnosen, wonach die heutigen Lesebeginner dieses Risiko, diese Ungewissheit, ein Buch zu kaufen, was ihnen keine Freude bereitet, nicht mehr ertragen können?
Dazu wage ich kein Urteil. Ich glaube, dass das klassische kultur­pessimistische Lamentieren über die schwindenden oder dümmer werdenden Leser ein unerschöpf­licher Topos ist. Heutzutage wird beispiels­weise mehr Zeitung gelesen als in den 60er Jahren oder einer sonstigen Hochzeit der Printmedien. Ähnlich mit Büchern: Man findet immer Leute, die Bücher nur oberflächlich oder halb lesen, sie nicht verstehen oder ganz mit dem Lesen aufhören. Aber ich stimme nicht ein in den Chor derer, die sagen: Es gibt heute keine Leute mehr, die richtig lesen. Das ist nicht wahr. Die wird es immer geben, wenn auch immer nur in kleiner Anzahl. Diese Gruppe wächst nach. Wir hier sind Teil der jüngeren Generation – ihr noch viel mehr als ich. Bei Veranstaltungen in Buchhandlungen sitze ich meist als Mitte-Dreißig-Jähriger vor Über-Sechzig-Jährigen, meistens Damen. Und die fragen: Ach, die jungen Leute lesen doch nicht mehr, oder? Das kommt sehr häufig vor. Ich erwidere dann: Schauen Sie mich an. Ich lese und bin auch jung. Und bei weitem nicht der Einzige. Ich weiß nicht, woher das kommt, dass die Leute immer glauben, nach ihnen kommt nichts mehr.

Wir hatten bereits über Lesebiographien gesprochen. Eingangs hatten wir uns konkret nach dem Buch gefragt, das dem Guggolz Verlag vorausging. Wie kam jemand, wie dieser Sebastian Guggolz, dazu, solche Bücher zu lesen, die er eben liest?
Das war ein langer Weg.

Vielleicht kannst du rhapsodisch, in ein paar Stationen, angeben, wie sich das entwickelt hat.
Meine Familie ist eine Familie der Pädagogen. Mein Vater ist Lehrer und meine Mutter Erzieherin. Heute ist sie Logopädin, sie hat umgeschult. Bücher und Lesen waren immer selbstverständlich. Es gab viele Bücher in unserem Haus und es wurde viel darin gelesen. Meine Eltern waren sehr anti-autoritär eingestellt. Wir waren viele Kinder, haben in einem alten Bauernhaus gelebt, alles war sehr frei, es gab vermeintlich wenig Hierarchie. Aber es gab auch – ohne das gegen meine Eltern zu richten – eine gewisse Intellektuellen­skepsis. Wir hatten viel Jugend­literatur bei uns zu Hause, ich hatte Zugang zu allem. Einen Thomas Mann und einen Goethe suchte ich aber vergeblich. Das existierte in meinem Kosmos nicht. So habe ich erst durch die Schule mitbe­kommen, dass Bücherlesen sich nicht in den Oetinger­büchern erschöpft.
Obwohl ich ein sehr enges, gutes und liebevolles Verhältnis zu meinen Eltern hatte, musste ich mich oft von ihnen entfernen, um zu dem zu kommen, was mich wirklich interessiert. Ich weiß noch, wie schwierig das war, als ich sagte: Ich will jetzt Literatur lesen. Die Impulse dazu kann ich bis heute nicht benennen. Denn diese Art von Literatur, wie ich sie schätze, war bei uns zuhause nie präsent. Das gab es nicht, höchstens mal in abschätzigen Bemerkungen im Stile von: Ach, Thomas Mann – bürgerliche Prosa. Wenn es es so eine Terminologie überhaupt gegeben hat. In jedem Fall wurde das als verkopft und überkandidelt abgelehnt.
Eine Mentorenfigur hatte ich auch keine. Eher verschiedene Lehrer, die mir den Raum auf verschiedene Weise geöffnet haben. Auch das Internet war hilfreich. Meine Eltern haben mir also zwar sehr dabei geholfen, die Praxis des Lesens als selbst­verständlich zu sehen. Aber das, was diesen eröffneten Leseraum füllt, musste ich mir selbst suchen.
Dann fällt mir noch eine weitere wichtige Station ein. Es war 1998, ich war sechzehn, hatte schon zaghaft angefangen, Schiller zu lesen. In diesem Jahr hat José Saramago, der portugiesische Autor, den Nobelpreis gewonnen. Ich weiß noch genau, wie ich von meinem Selbst­verständnis her dachte: Na, wenn der jetzt den Nobelpreis bekommen hat, dann muss ich den auch lesen. Also fing ich an, mir von meinem Taschen­geld und dem, was ich mir beim Zeitschriften­austragen dazuverdient habe, einmal komplett alles von Saramago zu kaufen und Saramago zu lesen. Das war der erste bewusste Gedankengang: Der hat den Nobelpreis gewonnen, das ist das, was mich interessiert, das, was für wichtig gehalten wird. Das war eine Initialzündung. Es war das erste komplette Werk, das ich bei mir im Zimmer im Regal stehen hatte. Von da an ging es sehr schnell. Ich las Autoren und Werke, nicht länger nur Bücher. Es ist einfach passiert.

War deine Geschichte ein Grund dafür, dich ins Fernsehen einzuladen? Sie erzeugt ein Bild von dir als jungem Liebhaber der Literatur. Wenn man heute einem Sechzehnjährigen erzählt, dass man sowas tun kann, klingt das kaum vorstellbar. Es klingt wie etwas, das heute nicht mehr geht und spielt damit wohl genau auf den Gestus an, gegen den du dich wehrst.
Genau, das glaube ich absolut nicht. Es war ja auch damals so, dass ich an meiner Schule, soweit ich weiß zumindest, der einzige war, dem es so ging. Ich hatte keine Klassenkameraden, mit denen ich darüber gesprochen hätte. Und ich glaube, dass es auch heute vereinzelt diese Leute gibt, die sich schon sehr früh für Literatur entzünden. Da bin ich mir ganz sicher, das muss einfach so sein. Natürlich könnte man sich überlegen, wie man Strukturen schafft, in denen es für diese Leute einfacher ist. So musste auch ich gegen Widerstände ankämpfen. Meine Klassenkameraden haben mich nicht verstanden.
Ich bin mir gleichzeitig sicher, dass die Hürde des Selbsttunmüssens gehabt zu haben mir bis heute hilft. Einerseits hab ich natürlich einen Komplex, weil ich nicht aus einem großbürgerlichen Haushalt komme und auch nicht wirklich aus einem bildungsbürgerlichen Umfeld, wo ich viele Dinge von Kindheit an mitgekriegt hätte. Ich werde wahrscheinlich mein ganzes Leben lang das Gefühl haben, etwas nachholen zu müssen und immer noch nicht genügend gelesen zu haben. Auf der anderen Seite treibt mich das wahnsinnig an. Vielleicht führte das dazu, dass ich in Aktion getreten bin und entschieden habe, es selbst zu machen.

Das scheint mir eine Erfahrung mit Literatur und generell mit höherer Bildung zu sein, von der man immer wieder liest. Didier Eribons Rückkehr nach Reims und auch die Parallelgeschichten von Éduard Louis erzählen vom Motiv der Abgrenzung von der eigenen Herkunft und Familie. Verbunden damit, dass es eine ur­sprüng­liche Verantwor­tung des Lesers gibt, die darin besteht, das man sich zwischen all den Büchern selbst orientiert.
Das würde ich definitiv so ausdrücken. Wobei ich vielleicht nicht ganz zustimme, weil es keine Abgrenzung zu meinen Eltern gab. Es war eher eine Fortentwicklung, weil ich mich nicht rechtfertigen musste. Sie haben sich gewundert, als ich anfing, Thomas Mann zu lesen, und haben mich vielleicht ein wenig schief angeschaut. Sie haben mir aber keine Steine in den Weg gelegt. Édouard Louis und Eribon sind krassere Beispiele. Meine Eltern hatten stets eine lesefreundliche Grundeinstellung, weshalb ihnen nie suspekt war, dass ich gelesen habe – nur eben, was ich las. Sie haben es aber zugelassen und sich bei ihrem antiautoritären Erziehungsstil eher darüber gefreut, dass ihr Kind sich selbst entwickelt.
Im Übrigen lesen meine Eltern heute alle meine Bücher. Sie strengen sich an, meine Mutter muss auch manchmal schlucken und sagt, durch gewisse Bücher hätte sie sich durchkämpfen müssen. Dennoch liest sie alles, weil es sie interessiert. Meine Eltern begleiten mich mit großem Wohlwollen, Unterstützung und Zuneigung. Widerständigkeit hab ich in meiner Familie nie erfahren. Was viel stärker war als die Erfahrung der Widerständigkeit – und das scheint mir auch durch das Lesen bedingt gewesen zu sein –, ist die Erfahrung der Fremdheit. Ich bin auf dem Land aufgewachsen und habe gemerkt: Das, was ich da erlebe, das können die anderen nicht nachvollziehen, weil sie diese Erfahrung nicht kennen. Von Leuten, die in Städten aufgewachsen sind, höre ich ganz andere Geschichten. Da gab es immer Verbin­dungen, da gab es Kreise, in die man sich begeben konnte. All diese Erfahrungen hatte ich frühestens mit dem Studium, weil es das bei mir früher schlicht nicht gab. Ich war früher immer allein mit meiner Lektüre, was ich auch gar nicht als schlimm empfunden habe. Deshalb würde ich nicht von Widerständen in meinem Fall sprechen, eher von einem leeren Raum. Das, was du gesagt hast, sich selbst orientieren zu müssen – das trifft auf mich zu. Ich musste alles selbst entscheiden. Es gab niemanden, an dem ich mich hätte orientieren können. Manchmal ist es ja ein Vorteil, jemanden zu haben, an dem man sich reiben, aufreiben kann. Selbst das hatte ich nicht. Ich hatte ein offenes Feld und wenige Orientierungsmarker.
Dieser Entfremdung ist eine Bewegung eingeschrieben, eine Weg-Bewegung von etwas. Und das hat auch etwas fast Gewalttätiges, etwas Aggressives an sich, etwas Demütigendes, Sprengendes. Ich habe mich fortentwickelt: weil man sich durchs Lesen Räume eröffnet, die man ohne das Lesen nicht hätte.

Vielleicht können wir an dieser Stelle zwei Dinge nebeneinander legen. Ich habe das Gefühl, dass deine Sätze zwischen zwei Farbigkeiten changieren. Es gibt die eine Gruppe von Sätzen, in der Literatur in einer sehr großen Pragmatik besprochen wird, vielleicht auch in einer Verquickung mit der ökonomischen Seite des Buchs. Die andere Farbigkeit ist diejenige der Leidenschaft, mit der du über deine eigene Lese­biographie sprichst, wie du das eben getan hast.
Vielen Leuten ist vielleicht nicht bewusst, dass deine Bücher in einer so kleinen Auflage erscheinen, dass sie für manche Zeit
­schriften und Magazine das Ende bedeuten würden. Du erzählst sehr freimütig, dass die Auflagen deiner Bücher zwischen 1.500 und 2.000 Exemplaren schwanken. Allein diese Zahlen weisen dich als jemanden aus, der für gar nicht so viele Menschen Bücher machen kann.
Ja. Das ist manchmal grotesk verzerrt, wie neulich im Frühjahr, bei dem rumänischen Autor Caragiale, der zum Leipziger Messeschwerpunkt Rumänien bei der F.A.Z. nicht nur Feuilleton­aufmacher, sondern auch Buch­messen­beilagen­auf­macher war und gleichzeitig in der Süddeutschen im Feuilleton groß besprochen wurde. Da denkt man als Außenstehender gleich: Oh, der wird jetzt verkaufen wie blöd. Am Ende hab ich dann nicht mehr als rund 1.300 Stück verkauft, bis heute. Das ist grotesk, wenn man sieht, wie die Bedeutung in Besprechungen hervorgehoben wird und sich trotzdem nur so wenige Leute dafür interessieren – von denen wahrscheinlich auch noch viele Leute sind, die das Buch verschenken. Ich weiß also gar nicht, wie viele am Ende das Buch tatsächlich gelesen haben werden. Das ist eine Kränkung. Eine wohl viel stärkere als die, mit Unterhaltungsliteratur in einen Topf geworfen zu werden. Und dennoch: Fünf Leser, die wirklich was damit anzufangen wissen, sind mir mehr wert als 3.000 Käufer, die es sich ins Regal stellen, weil sie das Cover mochten.

Diese fünf Leute, die du dir vorstellst …
… die können mich natürlich nicht finanzieren! (lacht)

Aber sie sind offensichtlich der Antrieb dafür, dass du kein Problem damit hast, fünf Stunden am Tag zu schlafen, auch eine Form von …
… Erschöpfung …

… ja, auch eine Form von Erschöpfung zuzulassen, die man auf den ersten Blick nicht mit deiner vermeintlich schöngeistigen Tätigkeit assoziieren würde.
So kitschig und idealistisch sich das anhören mag: Es ist wirklich Selbstzweck und selbsterfüllend, was ich mache. Ich hoffe, dass ich es so lange wie möglich machen kann, weil ich trotz meines Fernsehquiz-Geldsegens darauf angewiesen bin, dass die Bücher zumindest ein bisschen funktionieren. Bedingt durch ökonomische Zwänge kann ich einfach nicht alles machen, was ich gerne machen würde und nicht so lange, wie ich möchte. Und trotzdem ist das alles so unglaublich erfüllend und so schön mit all den Geschichten und den Erfahrungen, die ich drumherum mache. So komme ich überhaupt nicht auf die Idee, nachts, wenn ich weiß, ich muss dieses Buch bis morgen noch zu Ende lesen, zu denken: Ach, was hab ich mir damit nur eingebrockt? Der Gedanke existiert nicht. Ich würde lieber gar nicht schlafen, als irgendwelche Abstriche zu machen.

In einem Interview, das du gegeben hast, sagtest du, dass diese Summe, 250.000 Euro, die du gewonnen hattest, dich wieder ruhig schlafen lasse. Du möchtest vielleicht nicht schlafen, weil du diese Bücher machen möchtest. Aber zumindest gibt es eine Minimierung der Rückfallwahrscheinlichkeit, sodass du nicht umfällst.
Das hat mir nachhaltig geholfen. Diese Quiz-Geschichte war gute zwei Jahre nachdem ich den Verlag gestartet hatte. Das war ein Zeitpunkt, als ich noch sehr viele Schulden hatte und absolut kein Geld mehr zur Verfügung. Es war klar: Das nächste wird das letzte Programm, wenn jetzt nicht irgendwas passiert. Dann diese Quizshow. Durch den Gewinn war ich schuldenfrei. Wenn der Verlag irgendwann mal kein Geld mehr haben wird, dann stelle ich ihn ein, bin aber nicht mit einer Privatinsolvenz auf Jahre hin geschädigt. Dazu kommt, dass ich stark das Gefühl habe, mich mittlerweile bewiesen zu haben. Selbst, wenn ich also schon in zwei Jahren den Verlag nicht mehr weitermachen könnte, könnte ich sagen: Da war was. Ich hab was gemacht. Das gibt mir eine größere Ruhe. In der Zeit zuvor konnte ich wirklich sehr schlecht schlafen, weil ich Existenzsorgen hatte. Irgendwie hab ich die jetzt nicht mehr, auch wenn meine Sorgenlosigkeit vielleicht unbegründet sein mag und ich mir besser welche machen sollte. Ich bin abgehärtet. Ich mache das auch schon seit vier Jahren. Selbst wenn das jetzt nicht klappen sollte, ist der Resonanzraum inzwischen so groß, dass ich nicht ins Nichts fallen würde. Am Anfang hatte ich hier starke Bedenken, durchaus Angst. Jetzt nicht mehr. Es gibt genug Leute, die gesehen haben, was ich machen und schaffen konnte. Ich glaube, dass ich darum im Katastrophenfall etwas Neues finden würde. Dass es Leute gibt, die an mich glauben.

In diesem Sinne könnte man resü­mieren, dass die Geschichte des Guggolz Verlags als eine, die von großen Unwahr­scheinlich­keiten geprägt war, die sich dann doch verstetigt haben, als eine Geschichte, die heute, in der Rückschau erzählt, alle Widrigkeiten beinahe merk­würdig klein erscheinen lässt, dass diese Geschichte die ideale Geschichte ist für einen Büchermacher.
Auf jeden Fall. Für mich ist das die ideale Geschichte. Ich kann es nur als Glücksgeschichte erzählen. Ich würde allerdings nie behaupten, meine Geschichte sei eine Modellgeschichte. Ab und zu werde ich von Kollegen angesprochen, die planen, einen Verlag zu gründen, weil meine Verlagsgeschichte nach außen hin so stimmig, in sich schlüssig und gelungen aussieht. Natürlich kann ich Tipps geben. Modell stehen kann ich nicht. Das geht nicht, weil es eine viel zu kleine und individuelle Geschichte ist. Ideal im Sinne eines Vorbilds kann ich darum nicht sein. Mit meiner Haltung und der Art, wie man eine Haltung entwickelt oder bestimmte Dinge angeht, möchte ich aber beispielgebend sein.

Ist die Leidenschaft, die du für das Buch empfindest, durch das Schaffen und den Aufbau dieses Verlags nicht gebrochen worden?
Kein bisschen, bis heute nicht. Es gibt auch da viele Geschichten von Leuten, die seit Jahrzehnten im Verlagsbetrieb arbeiten und mit der Zeit das Gefühl bekommen, abzustumpfen. Vielleicht bin ich auch noch zu sehr am Anfang, aber von mir kann ich das bislang nicht sagen. Wenn ich ein Buch finde, wie das lettische, von dem ich vorher erzählt habe, dann könnte ich tagelang davon schwärmen und denke auf einmal über Wochen, dass es kein tolleres Buch als dieses gibt. Diese Begeisterungsfähigkeit und diese Ergriffenheit sind keinen Funken weniger geworden.

Siehst du das als Seltenheit an, dass bei all dem pragmatischen Bezug, den du zu Büchern im Verlagswesen aufbaust, die ursprüngliche Leidenschaft nicht beschmutzt wird?
Wenige Leute sind im Stande, der Leidenschaft lange zu folgen. Ich sehe bei Kollegen meiner Generation, dass die gar nicht den Raum bekommen, so ihren Leidenschaften zu folgen, wie ich das kann, sich diesen Raum vielleicht auch selber nicht geschaffen haben. Aber es war ja auch ein unglaubliches Risiko, in das ich mich begeben habe. Es war überhaupt nicht klar, dass das alles gut gehen wird. Nicht jeder ist zu einem solchen Risiko bereit und in der Lage. Ich versuche diesen Punkt immer wieder damit auszudrücken, dass man Erfolg selbst definiert, dass man sich aus den klassischen Erfolgsgeschichten über ökonomischen Erfolg herausbegibt und sagt: Nein, das ist jetzt nicht das, was für mich zählt. Für mich zählen andere Dinge. Und das ist mit unglaublich viel Kraftaufwand verbunden und bedeutet immer wieder, frustrierende Erlebnisse auszuhalten. Wenn man ein so kleines und spezialisiertes Unternehmen hat, wie ich, dann ist es aber grundsätzlich notwendig, die klassischen Bewertungskataloge infrage zu stellen.

Der größte Teil des Rucksackinhalts war letztlich also das literarische Selbst­bewusstsein?
Ich glaube, dass – weil der Rucksack ja vorhin die allgemeine Metapher war für das, was ich von Matthes & Seitz mitgenommen habe – sich dieses Selbstbewusststein gar nicht so sehr dort ausgebildet hat, sondern eher nebenbei. Eher in Begegnungen, wie solchen mit Martin und Esther, wo ich gemerkt habe: Leute, die ich zutiefst bewundere, vertrauen auf ähnliche Kriterien. In dieser Art von Austausch hat sich der Rucksackinhalt dann so ergeben, hat sich ergeben, dass ich irgendwann meinem literarischen Urteilsvermögen vertraut habe. Ich habe gemerkt: Wenn ich das gut finde, dann ist das auch gut. Und dann muss ich da nicht noch fünfmal abklopfen, ob es anderen genauso geht. Die Tatsache, dass es mir gefällt, bedeutet etwas.

Am Ende des Gesprächs ein Rück­griff auf eine Frage, die weiter zurückliegt, aber sich jetzt vielleicht besser beantworten lässt. Wir hatten darüber gesprochen, ob es eine einzelne Sache gibt, einen Ariadne­faden, den du auslegst, wenn du durch das Labyrinth deiner eigenen Arbeit im Guggolz Verlag gehst. Du meintest vorhin, dass du darüber nachdenkst, ob es so etwas gibt.
Das ist zwar kein Ariadnefaden, weil er nicht sichtbar ist. Aber man könnte es als Leitlinie von mir bezeichnen: Ich habe in den letzten 15 Jahren gelernt, meinen eigenen Urteilen zu vertrauen. Es ist ein Gewinn an Selbstbewusstsein, den ich persönlich in meiner Geschichte als zentral verorten würde. Es ist nichts, was man von außen sofort sieht. Es ist eine Haltung.

Zu dieser Haltung gehört – und das ist eine Anekdote über dich, die ich sehr aufschlussreich fand – dass, weil du so viel liest, du immer noch manchmal durch die Straßen läufst, mit einem Buch in der Hand, und auf einmal merkst, die Orientierung verloren zu haben. Ich würde die Geschich­te zum Abschluss weiterspinnen und dich fragen wollen: Was wäre, wenn du mit diesem Buch in der Hand durch die Straßen läufst, tief darin versunken, und plötzlich jemanden unangenehm heftig anrempelst und dieser Person als Zeichen der Entschuldigung …
… das Buch schenken müsste? (lacht)

Nicht dieses Buch unbedingt, aber genau: Du müsstest ihm irgendein Buch schenken. Welches Buch wäre das?
Das wäre natürlich immer das Buch, das mich zuletzt begeistert hat. Deshalb wechselt das alle paar Wochen.

Wenn das in fünf Minuten passieren sollte, auf unserem Heimweg, welches wäre es?
Aktuell wäre es auf jeden Fall Edvarts Virzas Straumeni, das ich vorletzte Woche gelesen hab, als ich in Lettland war. Ebenso hab ich dort Rainis, den lettischen Nationaldichter, gelesen. Aber den würde ich nicht verschenken.
Und was ich auf jeden Fall auch verschenken würde: Kathleen Collins, ganz neu erschienen bei Kampa, dem neuen Schweizer Verlag. Sie ist wieder­entdeckt worden. In den Achtzigern war sie relativ jung als Vierzigjährige verstorben, eigentlich Filmregisseurin, Schwarzafrikanerin, die aber – und das finde ich so interessant an diesem Buch – nicht diese klassische Underdoggeschichte erzählt, sondern aus einer schwarzen Upperclass kommt und ein ganz anderes Milieu beschreibt, als man es kennt aus den Sechziger- und Siebzigerjahren.
Kathleen Collins ist ein wenig die weibliche Gegenfigur zu James Baldwin. Ich kann nicht hundertprozentig einstimmen in die Jubelgesänge von allen Seiten über die Wiederentdeckung von James Baldwin. Ich finde James Baldwin als Figur sagenhaft toll und großartig. Seine Bücher aber finde ich nicht so toll und großartig, wie ich ihn als Figur interessant finde. Ich halte die Bücher für in die Jahre gekommen. Für mich sind sie in der Zeit verhaftet und auch einfach nicht brillant. Collins ist die noch Unbekannte, die jetzt entdeckt werden kann. Ihr Buch ist eine Sammlung von kurzen Texten, Skizzen, manche sind Erzählungen, die allesamt eine derartige Kraft haben und so auf den Punkt sind. Im Gegensatz zu James Baldwin, bei dem ich die Texte oft ein bisschen verschwafelt finde. Ich hoffe, dass Collins auch so rezipiert werden wird und bin gespannt, ob sie so gelesen werden wird wie von mir: als sagenhaft kluge, unglaublich beschreibungsgenaue Autorin eines schwarzen Milieus, was nicht die klassischen Klischees tradiert.

Wenn das alles so randständig und unentdeckt ist, wäre sie doch eigentlich eine, für die es sich lohnen würde, das Guggolz-Verlags­programm ein wenig zu dehnen.
Kathleen Collins ist ja verlegt, jetzt hat es ja jemand anderes übernommen. Würde ich so jemanden in einem Sprachraum finden, um den ich mich eigentlich nicht kümmere und könnte niemanden davon überzeugen, sie zu verlegen, dann würde ich eine Ausnahme machen. Einfach nur, weil ich sie großartig und wichtig finde. Auch das ist ein Motiv, das bei mir und meiner Arbeit immer wiederkehrt: das Bild ergänzen, das Bild erweitern. Ich würde alles dafür tun, dass sie erscheint.

Wir sprachen mit Sebastian Guggolz am letzten September­tag 2018 in Berlin-Schöneberg und -Charlotten­burg. Wir haben das Gespräch fortgesetzt.

Produktion: Simon Böhm, Konstantin Schönfelder
Fotografien: Holm-Uwe Burgemann

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#4 Sebastian Guggolz
Kapitel I–III
I. Anachronismen und Ausgrabungen
II. Erben und Abweichen
III. Orientieren und Erschöpfen

Im Rahmen unserer gemeinnützigen Arbeit nach § 52 Abs 2. Satz 1 Nr. 5 AO sind wir berechtigt, steuer­be­günstigte Zu­wendungen ent­gegen­zunehmen und darüber Zu­wendungs­bestätigungen auszustellen. Diese können Sie nach §10b EStG als Sonderausgaben bei Ihrer Steuererklärung geltend machen und erhalten so einen Teil des gespendeten Betrages zurück. Sollte das für Sie relevant sein, senden wir Ihnen diese im Anschluss an Ihre Spende gerne zu.