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#2 FABIAN SAUL

IM KINO GEWESEN. GEWEINT.

von Holm-Uwe Burgemann
und Konstantin Schönfelder

Der Raum hält sich in Pastell­tönen. Der langgezogene Messing­tresen mag manchen eine Heimat bieten. Ein Mann sitzt auf einem der Dreh­stühle, seine Füße baumeln. Die Szene ist beinahe ein Gemälde von Edward Hopper. Allein die Morgen­sonne, die durch die hohen Fenster­wände fällt, erinnert uns daran, dass wir nicht in dessen nächtlichem New York sind, sondern in Berlin-Mitte, im Hackbarth’s. Es ist 10 Uhr. Fabian kommt uns telefonierend ent­gegen. Als er uns sieht, eilt er, sein Gespräch zu beenden. Er hat mit einem gemein­samen Freund gesprochen, bemerken wir. Wir sind einander kaum bekannt, aber diese Reminiszenz gibt uns einen Vorschuss. Wir umarmen uns.

Fabian Saul, 32, Chef­redakteur des Magazins Flaneur, Komponist, Autor bei Matthes & Seitz Berlin, ist vorgestern gelandet, nachdem er in Taipeh die letzten Angelegen­heiten geregelt hat. Er ist müde. Seine Augen­ringe sind tief; seine Haut, leicht gereizt. Er ist ständig unter­wegs, wie er sagt, und dass das normal für ihn sei. Aber sein Körper scheint davon wenig zu wissen und verrät ihn. Er wird später an diesem Tag gesagt haben, dass wir den Anfang des Gesprächs besser verheim­lichen. We prefer not to.

Wir blicken auf einen ehemals polierten goldenen Tresen, die Wand hinter dir ist in indigo­blauen Kacheln gefliest. Ist das dein Lebens­raum oder eine Kulisse?
Es gibt für mich nur simulierte Routinen. Ich sage immer, hier beginnt mein Tag. Tatsäch­lich bin ich in diesem Jahr nur vier, fünf Monate in Berlin gewesen. Sehr viele Tage beginnen nicht hier. Aber in meiner Vorstellung ist das ein Ort, an dem der Tag anfängt. Ich wohne hier um die Ecke und so ist das für mich eine Art erweiterter Wohnraum. Diese Simulation von Routine habe ich ganz genauso an anderen Orten der Welt, die stelle ich an jedem Ort sehr schnell her. Als ich das erste Mal im Hackbarth’s gewesen bin, musste ich an die Filme von Roy Andersson denken. Dort inszeniert er sehr leise, unscheinbare Orte. Eine Bar, ein Teppich­geschäft, alles unspektakulär. Aber er geht auf die Nuancen ein: Farben, die Temperatur, das Licht. Er schafft dadurch minimale Verschie­bungen, die uns den Raum anders anschauen lassen. Wir merken: Das hier ist ein Ort, den wir kennen, aber irgendetwas stimmt hier nicht. Es ist eine Kulisse.

Was tust du, wenn du hier sitzt?
Hier geht es für mich vor allem darum, zu lesen und zu schreiben. Das ist, was hier stattfindet. Es ist der einzige Ort, wo ich nicht in Bewegung bin, was sonst meistens der Fall ist, weil ich ja sehr viel verreise. Es ist mein Fixpunkt. Hier bewege ich mich nicht – oder auf eine andere Art. Es geht ums Lesen. Es geht ums Schreiben.

Es ist interessant, dass du diesen Ort als einen Raum der Stille beschreibst oder als einen statischen Raum, einen Raum in dem du statisch bist. Denn in einem der ersten Texte, die Roger Willemsen veröffentlicht hat, wird die Bar als ein Durchgangsraum aufgefasst. In Die Bar als Lebensgefühl beschreibt er, dass sie letztlich ein Ort ist, an dem man immer ent­weder ein Ankommen­der oder ein Gehender ist. Und das würde man ja annehmen, wenn du sagst, dass hier dein Tag beginnt. Du gehst hier rein und gehst dann in den nächsten Raum. Jetzt sagst du aber, dies ist eigentlich ein Ort, an dem du dich nicht bewegst. Ein Ort der Ankunft ohne Abreise.
Der Durchgang­sort, das klingt jetzt sehr nach einem öffentlichen Ort. Eine fremde Figur, die ich bin, wird eingeführt …

… eine halbe, eine halbierte Öffentlichkeit vielleicht auch.
Wenn du am Tresen sitzt, wird auch Intimität hergestellt. Ich empfinde diesen Ort als Erweiterung meines Wohnraums.

Fabian Saul I

Goodbye to Berlin

Diese Intimität kopiert sich bei dir in fremde Räume, nach Taipeh, São Paulo, Moskau, Athen – die Stationen, die das Flaneur-Magazin genommen hat – und du versuchst, indem du immer wieder neue Orte aufsuchst, das Reisen selbst zu habituali­sieren. Das Reisen, das ein Prozess ist, der immer auch plan­los verläuft und auf Unverhofft­heiten spekuliert.

Ja, und das tut es ja. Es sind wenige Räume, in denen ich alleine mit mir bin. Das betrifft nicht das Thema der Einsam­keit, das ist ein ganz anderes. Vielleicht hast du recht, es hat für mich gar nicht so sehr einen Unterschied gemacht. Die letzte Woche war ich in Taipeh, jetzt bin ich in Berlin. Es gilt immer weniger, dabei eine Schwelle zu überschreiten, sodass man sich akkli­mati­sieren muss, um in einem anderen Raum anzukommen. Dieser threshold fällt irgendwann fast weg, die Routine ist die Bewegung. Dann ist die Bewegung natürlich im weitesten Sinne das, was andere in einer Alltags­konstellation erfahren.
Das Flaneur-Thema wird mit der Ent­schleunigung assoziiert und so in eine merkwürdige Nähe zu Slow Food und Slow Travel gerückt, was ich sehr merkwürdig finde, weil ich glaube, dass, wenn man die Figur des Flaneurs aus dem 19. Jahrhundert herauslöst und mehr an die Techniken des Flanierens, die psychogeography, denkt, dass dann die Beschleuni­gung eine genauso entscheidende Rolle spielt. Es geht darum, dass man Räume in einer anderen Parallelität lesen kann und durch die Beschleunigung eine Art layering entsteht. Ein Palimpsest der Wahr­nehmung, das essentiell für dieses Projekt ist. Das gehört ebenso dazu, wenn ich sage, diese Räume sind viel stärker benachbart in meiner Wahr­nehmung, als es vielleicht der Fall wäre, würde man davon ausgehen, dass das hier einfach nur eine andere Zeitzone ist.
So einen Ort wie das Hackbarth’s kann ich dir für fast jede Stadt, in der ich gewesen bin, nennen. Ich frage mich, ob das ein bürgerliches Über­bleibsel ist, dass ich trotzdem noch eine Simulation von Routine, oder von Alltag, herzustellen versuche.

Du könntest das für jede Stadt sagen, in diesem Augenblick? Wie heißt der Ort in São Paulo, der parallel zu diesem steht?
Dort ist der Ort eine kleine Padaria, eine Mischung aus Bäckerei, Corner Shop, Späti. Ein kleiner convenience store, aber mit erweitertem Bar­bereich und Café. Dort habe ich morgens meinen Tag begonnen und immer die gleiche Bestellung aufgegeben.

Athen?
Athen ist ganz einfach, weil das ein Ort war, mit dem wir auch immer noch ganz eng verbunden sind. Ein Café auf der Fokionos Negri, der Straße der fünften Ausgabe des Flaneur Magazine.

Die Raum­wahr­nehmung verläuft entlang von Gefühlen. Für dich ist ja das Sehen als Tätigkeit ganz ent­scheidend in allen deinen Arbeiten – ob im Magazin oder in deinen Arbeiten als eigen­ständiger Autor …
… und jetzt habe ich ja auch noch das erste Mal eine Brille … (lacht)

… du siehst also heute zum ersten Mal wie nie zuvor. Das ist übrigens auch die Analogie zu Joshua Oppenheimers »The Look of Silence«. Der Protagonist ist Optiker und stattet die Täter, die er im doppelten Sinne sehend machen will, mit Brillen aus. Wir hatten in unserem Vor­gespräch schon besprochen, dass es bei dir eine Poetik des Sehens gibt, die vom Kino kommt, eine cineastische Poetik des Sehens. Wie sieht sie aus?
Alle meine Arbeiten haben mit dem Sehen und dem Kino zu tun. Alle Arbeiten bilden in irgend­einer Form immer wieder einen Text, der um dieses Thema rotiert. Aber: Es gibt dafür kein klar abgestecktes Theorie­gebäude, keine klare Haltung. Es ist etwas Dynamisches, etwas Fluides, es bewegt sich – wie auch die Texte. In Boulevard Ring ist es offensichtlich, dass es um eine solche Kreis­bewegung geht, das Kreisen um einen blind spot, der nie ganz erfassbar ist. Worum es mir geht, ist, die unterschiedlichen Aus­einander­setzungen, die unterschied­lichen Texte – und da können wir die Musik hinein­denken – als einen Text zu verstehen, der immer weiter­geschrieben wird und der sich auch wider­sprechen kann.
Man kommt zu diesem gemein­samen Flucht­punkt der Texte am ehesten über das Kino. Beim Boulevard Ring gibt es eine Bewegung im Raum, die dazu führt, dass ein Prozess der Vergegen­wärtigung anläuft. Das heißt, die verschiedenen Schichten, die Vergangen­heit, auch die Projektion, auch die Zukunft, werden alle in einem Prozess des Gehens, also der tat­sächlichen Konfron­tation mit dem Stadtraum, vergegen­wärtigt. Sie werden sichtbar – es werden viele Dinge sichtbar, die nicht unbedingt offensichtlich und augenscheinlich sind im Stadt­raum – und gleichzeitig werden sie neben­einander­gestellt. Auch bei den Texten im Flaneur arbeiten wir oft mit einer Montage­technik. Es geht um eine Sammlung von Fragmenten, um das Arrangement dieser Fragmente. Oft arbeite ich so, dass ich ganz viel Material habe und dann am Ende nur lösche. Ich bin wie ein Bildhauer, der zunächst das Material zusammen­fügt und dann nur noch wegnimmt.
Aber die Frage des Kinos: Es ist wichtig zu sagen, dass das Magazin selbst »Flaneur« heißt, aber der Flaneur erst einmal eher die Bezeichnung dieser literarischen Figur ist. Mir geht es um das Flanieren im Sinne von Kultur­techniken, die man ableiten kann aus dieser Figur, und da kann man teilweise zurück­greifen auf die besondere Konstellation, in der der Flaneur auftaucht. Gleichzeitig ist es wichtig, das davon abzulösen, sodass wir nicht immer zu diesem 19. Jahr­hundert-Dandy zurück­kommen. Es geht um Techniken, die einen zeit­losen Charakter haben oder die zumindest für unsere Phase der Moderne, oder Post­moderne, oder wie wir das nennen wollen, immer noch relevant sind.
Die grund­sätzliche Perspektive auf diese Beobachtung des Stadt­raums scheint auch beim Flanieren eine cineastische zu sein. Es gibt bei Christopher Isherwood einen bestimmten Satz in seinem Goodbye to Berlin – das sind eigentlich Tage­buch­auf­zeichnungen aus den späten 20er, frühen 30er Jahren, ganz interessante Jahre, und er beobachtet diese Stadt, die am Ver­schwin­den ist und wo plötzlich Neues passiert. Er schreibt: »I am a camera with its shutter open.« Und beschreibt einige Szenen: »One day all of this will have to be developed.« Er beschreibt damit eigentlich ein Konzept der Stadt­beobachtung, des Flanierens, des Laufens durch Berlin, das auch aus der cineastischen Perspektive kommt.
Der cineastische Ansatz scheint mir insofern gut, weil alle Begriffe, die mit dem Flaneur und dem Flanieren auftauchen, uns zurück­bringen zum Beginn der Moderne. Diese Figur taucht immer zu den Über­gängen auf, zu einem anderen Zeit­verständnis, einem anderen Raum­verständnis, einem anderen Klassen­verständnis, einer anderen Rolle der Groß­stadt. Es bringt uns zurück genau an diese Schwellen. Da spielt dann die Dimension der Menge in der Groß­stadt eine wichtige Rolle, die Menge, in der man untergehen, aber gleichzeitig als Individuum hervortreten kann. Hier existiert eine Parallele zum Medium des Kinos, das nicht zufällig zu einem zentralen visuellen Medium der Moderne wird und als Voraus­setzung auch die Menge hat. Es ist die Menge, die ins Kino geht und sich dabei im Kino selbst beobachtet. Die Stadt­wahr­nehmung auf der einen Seite und eine gleich­zeitige Intro­spektive gehen parallel und verlaufen synchron.
Zwei Dinge fallen mir noch ein. Zum einen gibt es diese zwei Sätze bei Kafka, die einzigen, die er je über das Kino geschrie­ben hat: »Im Kino gewesen. Geweint.« Du bist also in einem Raum des Kinos, mit sehr vielen Menschen, bist aber gleichzeitig als Individuum in der Einsam­keit der Erfahrung, die dir diese Intro­spektion erlaubt.
Das zweite Beispiel ist ein Film­beispiel: »La Notte« von Antonioni. Die Hauptfigur, Lidia, fängt nachts an, durch die Stadt zu laufen. Milano, im Jahr 1961. Das ist eine Phase, und das nicht nur in Mailand, wo die Moderni­sierungs­prozesse nach dem Krieg statt­finden, die ja sehr drastisch sind, vor allem bezüglich des Autos, das neu hinzukommt. Sie geht nachts durch die Stadt, sie guckt diese alte Architektur von Mailand an. Es gibt kein Narrativ, entlang dessen sich diese Handlung vollzieht. Wir beobachten sie, das schweig­same Reflektieren der Architektur in der kompletten Einsam­keit der Nacht – die Nacht spielt eine große Rolle, und auch der bevorstehende Morgen als ein wichtiger threshold. Den findet man auch bei Edgar Allan Poe in zentralen Flaneur-Texten …

… oder in Rembrandts Nachtwache …
Genau! Bei Antonioni ist permanent day-for-night gedreht, sodass die konkrete Uhrzeit nie klar ist. Lidia ist also nachts unterwegs und sie schaut sich die Stadt im Vergehen an und gleichzeitig entsteht diese neue, modernisierte Stadt. Auf dieser Schwelle, auf der sie sich befindet, passieren viele interessante Dinge. Einmal, dass es keine klare Narration gibt, keinen Grund gibt dafür, was sie da tut. Da sind wir bei der aimless wanderer, der Flaneuse, einer Spazier­gängerin ohne Grund. Und dann ist ihr Blick auch kein analytischer. Also nicht: »Aha, aber was ist denn hier? Moderni­sierung? Neue Häuser hier und da die alten.« Der Blick ist einer, der sie selbst miteinbezieht in diese Leere der Moderni­sierung, dort wo die Vergangen­heit am Verschwin­den ist und gleichzeitig das Neue noch nicht ganz auftritt. Das gibt es auch bei Kracauer. Diese Leerstelle der Moderne beschreibt er sehr schön: »Die Moderni­sierung bringt immer eine Leere hervor, aber diese Leere ist fruchtbar.« Lidia beobachtet das und gleichzeitig merken wir im Laufe des Films, dass diese Leere, die sie im Stadtraum beobachtet, eigentlich die Leere in ihrer Beziehung, in ihrer Ehe, die am Verschwinden ist, widerspiegelt. Das ist die parallele Lesart.
Es gibt eine schöne Szene, in der ihr Mann sie sucht. Als er sie findet, ist sie in einem Park und er fragt: »Was machst du hier draußen?« Sie antwortet: »Es gibt keinen Grund. Ich bin einfach nur losgelaufen.« Plötzlich fängt ihr Mann, gespielt von Mastroianni, an, die Stadt anzuschauen. Das ist eine wunderbare Ein­stellung: Er guckt in die Kamera, ins Publikum. Das ist fast wie ein Spielberg Face – wir als Zuschauer sehen das »Monster« noch nicht, oder was immer von der Gegenseite auf ihn zukommt, aber wir können es bereits in seinem Blick lesen. Er schaut die Stadt an, weil er die Stadt zu lesen versucht. Er sieht sie als ein Ungetüm, etwas, das ihm Unbe­hagen bereitet und dann sagt sie: »Komm mal her.« Und sie schauen beide auf die Stadt – wir als Zuschauer sehen die Stadt nie – und dann sagt er zu ihr: »Komisch, es ist alles wie immer. Es hat sich gar nichts verändert.« Wir lesen in seinem Blick dennoch dieses Bedrohliche. Und dann kommt sie hinzu und sagt: »Aber das wird es sehr bald.«
Von so einer Veränderung geht die Flaneur-Figur immer aus. Ich habe die Leipzig-Ausgabe begonnen mit einer ersten Seite, auf der lediglich steht: »We concern ourselves only with places that may soon vanish.« Das ist als Programm für dieses Heft zu sehen. Dieser Moment, in dem sie das sagt, »aber das wird es sehr bald«, wirkt wie eine Prophe­zeiung, die für beides stimmt: für Mailand, das im Verschwin­den begriffen ist und sich transformiert; und auch für die Ehe, die verschwindet. Antonioni schafft es, beides parallel zu lösen und zu zeigen: Das eine ist vom anderen nicht verschieden. Gleichzeitig merken wir, dass die Handlung, das Narrativ, die Erzählung in ihrer Kausalität vollkommen uninteressant sind. Nur Räume und Blicke und wie sie miteinander im Verhältnis stehen. Ich weiß gar nicht, ob ich noch irgendwie auf der Spur bin, deine Frage zu beantworten (schmunzelt).

Du beschreibst, dass Perspek­tiven und Gefühle persönlich sind. Die Erfahrungen, die diese Personen im Film machen, sind singulär. Der Flaneur wird von dir nun als ein Einzel­gänger beschrieben. Der Flaneur selbst ist eine Singularität. Dann beschreibst du, wie diese verschie­denen singulären Perspek­tiven parallelisiert werden. Ebenso bist du auf die Menge eingegangen, die Menge an Menschen im Zuschauer­raum, die Menge an Menschen in der Groß­stadt. Ich musste an die Idee der Multitude denken, die auf Spinoza zurückgeht. Diese meint für Michael Hardt und Antonio Negri nicht einfach nur eine Menge, sondern eine Menge von Singulari­täten, die dennoch gemeinsam arbeiten.
Das ist, glaube ich, ganz wichtig. Ich würde nur nicht vom Persön­lichen der Perspektive sprechen, sondern vom Subjektiven – bei »persönlich« höre ich eine Gering­schätzung für das radikale oder politische Potenzial. Im Magazin heißt es zum Beispiel: »fragments of a street«. Diese Fragment­haftig­keit der Wahr­nehmung bezieht sich auf unsere tat­sächliche Wahr­nehmung, auf das, was ich beschrieben habe im Boulevard Ring. Ansamm­lungen von Fragmenten, die durch den Stadtraum vergegen­wärtigt werden und nebeneinander stehen. Aber genauso, um jetzt das Konzept der Multitude aufzugreifen, bezieht es sich auf alle Positionen, die neben­einander gestellt sind. Das bedeutet nicht, weil es sich um subjektive Wahr­nehmungen handelt, dass sie keine Relevanz für den Wahrheits­gehalt haben und sich daraus keine Form der Erkennt­nis ableiten ließe. Im Gegenteil, ich glaube, dass zwischen diesen Fragmenten eine andere Erkenntnis hervortritt, die sich aber von dem Anspruch auf Voll­ständig­keit und von dem Anspruch, einen Ort komplett erschließen zu können, gelöst hat. In einem schönen Text von Perec, An Attempt at Exhausting a Place in Paris, dokumentiert er failures – denn das ist natürlich unmöglich: to exhaust a place in Paris. Aber indem er das als Experiment­anordnung, als Ziel eines Textes vorgibt: »Ich werde diesen Ort komplett erschließen, indem ich alles aufschreibe, was passiert und jede Taube dabei gezählt wird« – indem er das tut, ist er bereits gescheitert. Es geht darum, dass zwischen den Texten, wo die einzelnen Frag­mente neben­einander­gestellt werden, irgendetwas hervortritt, was sich nicht sagen lassen würde mit einer einzigen Stimme. Die Vielstimmig­keit also; nur durch die Vielzahl der subjektiven Perspektiven kann das, was gesagt wird, auch gesagt werden.
Diesen Satz »This could be Kantstraße.« [auf dem Umschlag der ersten Ausgabe des Flaneur Magazine] finde ich ganz wichtig, essentiell, denn es ist – wie sagt man das? – es ist ein Konzept der totalen Enttäuschung. Vorne steht schließlich drauf: Kantstraße. Der Titel dieser Ausgabe ist »Kantstraße«. Und dann schlägt man das Heft auf und liest den ersten Satz. Man arbeitet direkt gegen die eigene Erwartungs­haltung und sagt etwas wie: »Beides ist wahr. Es handelt sich hierbei um die Kantstraße – und auch nicht.« Beides muss gleichzeitig wahr sein. Es ist keine Privat­angelegen­heit, nur, weil es sich um Intro­spektion handelt. Darin steckt auch ein radikales Potential, was Guy Debord und die Situationisten versucht haben heraus­zuarbeiten. Wir können uns die Schichten vergegen­wärtigen, zu einer Lesart der Stadt in ihrer Verfasst­heit als etwas finden, was immer Prozessen der Zerstörung unterworfen ist. In der Geometrie dieser Stadt können wir nur lesen, wenn wir uns aus der Logik dessen befreien, was eigentlich von denjenigen, die die Macht über die Stadt­planung haben, intendiert ist. Wenn wir uns davon lösen können, können wir die Geometrie der Stadt, die darunter liegt, sichtbar machen. Es ist eine Art von revolutionärem Akt. Es tritt etwas zutage, was die Stadt als etwas Zerstörtes, Zerstörbares zeigt.
Außerdem geht es um die militärische Logik, um die tatsächliche Materialität der Stadt. Dann reden wir von Straßen nicht mehr als Straßen, sondern von Straßen als Grenzen. Dann reden wir vom Boulevard nicht als Boulevard im bürgerlichen Sinne, sondern als Bollwerk. Dann reden wir von den Highways als essentielle Mittel, um Ghettos zu schaffen und auch davon, dass die Dinge nicht so sind, wie sie erscheinen, sie aber dem Bewohner der Stadt in der Moderne verkauft werden. Sie bedeuten noch etwas anderes.

Wir kommen darauf zurück, wollen aber kurz Halt machen und das Augen­merk auf das Sehen des Fragmentierten richten und es mit dem Kino und dem Film in Verbin­dung bringen. In der Art und Weise, wie du beschreibst, ist dein cineastischer Hinter­grund spürbar. Du kommst vom Kino. Damit bist du intellek­tuell groß geworden.
Eigentlich würde ich sagen, dass ich aus der Musik komme. Ich habe das Gefühl, das Kino ist eher der Flucht­punkt und weniger das, wo ich herkomme.

In welchem Verhält­nis stehen der Film und das Kino? Wie unter­scheiden sich die Theorien des Films und des Kinos? Und in welchem Verhältnis steht das zu einem großen Begriff, der dein Projekt umschreibt: Poetologie des cineas­tischen Sehens?
Beide Ausdrücke werden oft synonym gebraucht, obwohl sie das nicht sind. Es gibt viel Film­theorie, die sich am Medium des Films abarbeitet, die sich mehr oder weniger anschaut, wie Wahr­nehmung im Film funktioniert und wie sich Wahr­nehmung durch das Medium des Films verändert hat. Das umfasst beides das Feld der Film­theorie. Für mich ist das nicht so interessant. Wenn es um die Frage geht, was mir am Kino wichtig ist, dann gehen wir natürlich in eine ganz andere ontologische Perspektive, weil wir von einer Kino­theorie sprechen müssen, die nicht ansetzt im späten 19. Jahr­hundert, sondern viel früher, vor etwa 13.000 Jahren. Demnach wird uns sehr schnell deutlich werden, dass die Erfindung des Films als Medium gar nicht so sehr unsere Wahr­nehmung verändert hat, sondern: dass sie maßgeblich unserer Wahr­nehmung entspricht. Ich bin skeptisch, was das Potential des Mediums angeht, unsere Wahr­nehmung verändert zu haben oder verändern zu können. Im Übrigen betrifft das auch viele Diskurse um Augmented Reality und Virtual Reality. Ich habe das Gefühl, dass man hier oft geblendet ist von der Neuheit des Mediums, und dann darüber völlig vergisst, nach der Neuheit des eigent­lichen Bildes zu fragen.
Es gab in Frankreich Funde von Knochen­stücken, Medaillons, die rund sind und in der Mitte ein Loch aufweisen. Zusätzlich sind auf beiden Seiten Zeichnungen eingeritzt. Meistens ist auf der einen Seite ein Tier zu sehen, das läuft, was wir daran erkennen, dass es, wie bei der Höhlenmalerei auch, sehr viele Beine hat. Und auf der anderen Seite ist meist eine Darstellung vom Tier im Moment des Todes zu erkennen, mit einem Pfeil zum Beispiel, im Kontext der Jagd, des Sterbens. Lange Zeit hat man nicht gewusst, was der rituelle Grund für diese Objekte ist, bis man in derselben Region Pflanzen­fasern entdeckte, bei denen man davon ausgegangen war, dass sie zu einer frühen Form von Stricken gehören. In der Kombination damit wird das Ganze zu einem Apparat: Wenn man die Pflanzenfasern durch das Knochenloch hindurch dreht, passiert es, dass zwei Bilder aufscheinen: Leben und Tod. Konzeptionell gesehen ist das das Grundprinzip des Kinos. Ich will das deswegen sagen, weil ich das Gefühl habe, dass unser Blick verstellt ist. Wir haben einen Fokus auf das Medium – was vielleicht auch den rasanten Wechseln von Medien und techni­schen Ent­wicklungen im 20. Jahrhundert geschuldet ist –, sodass wir uns ganz stark daran abarbeiten, diesen schnellen Entwick­lungen beizukommen und sie theoretisch zu untermauern. Man merkt das daran, dass die Forschung bei diesen Entwicklungen zu spät dran ist und erst nachträglich versucht, alles einzuordnen. Ich habe das Gefühl, dass unser Blick verstellt ist, weil wir uns an den Interfaces abarbeiten und den Blick darauf verlieren, warum man überhaupt ins Kino geht.
Was mich also interessiert, ist eine Kino­theorie, die viel früher ansetzt, eine, die beschreiben kann, wie das, was wir als Kino bezeichnen, permanent in der Wirk­lichkeit schon angelegt ist. Wenn wir wieder zurückgehen auf diese fragmentarische Wahr­nehmung, von der wir gesprochen haben, und wenn wir davon ausgehen, dass die Stadt, wie sie uns beim Flanieren erscheint, überhaupt nicht unterscheidbar ist, wobei es sich um bloße Formen der Kulisse oder Fiktion handelt, dann kommen wir sehr schnell zu der Erkenntnis, dass die eigentliche Geometrie der Stadt ganz anders ist, als die Stadt uns erscheint. Wir können eine Logik von Projektion und Inszenierung erkennen und ich glaube, dass diese letztendlich immer aus einer Idee des Kinos kommt. Die Architektur und die Räume können plötzlich ganz anders erscheinen. Sie sind nicht länger Teil der objektiven Wirklichkeit, auf die wir uns alle einigen können, sondern hochfiktive Projektionen und Konzepte, die im Prinzip auch zu den tieferen Schichten der Stadt gehören, weil sie schon anachronistische Elemente haben.
Es kommt der Aspekt hinzu, dass wir uns tatsächlich in diese Räume auch selbst projizieren, weil es meist Räume sind, die wir bewohnen und durchqueren, die uns selbst aber gar nicht meinen. Sie sind nicht für uns gebaut worden. Ich lebe in einem Haus, in einer Wohnung, die mit mir nichts zu tun hat, außer, dass ich mir sie aneigne, mich in sie hinein­projiziere und sie dadurch zu einem Teil meiner Erzählung mache. All diese Mechanismen, die eigentliche Materialität und Archi­tektur der Stadt, die fragmentierte Wahr­nehmung und die Intro­spektion bis hin zur Apparatur, von der ich eben sprach – bei all diesen Mechanismen glaube ich, dass eine Kinotheorie sie zu erfassen mag, die sich nicht für das historische Medium des Films interessiert. Das Medium des Films ist zwar eine sehr interessante Erscheinung, aber keine, die maßgeblich unsere Wahr­nehmung verändert, verschiebt oder grundsätzlich in Frage stellt. Diese techni­sche Entwicklung entspricht unserer Wahr­nehmung. Wir leben immer schon in einer Form von AR und VR. Diese Konzepte sind viel größer als die technische Neuerung selbst.

Fabian Saul II

Lass uns doch etwas Verwegenes tun. Du sagst: Kino­theorie ist nicht Film­theorie. Lass uns über einen Film sprechen und zwar aus einer kino­theoretischen und eben gerade nicht film­theoretischen Perspektive
(freut sich) Gehen wir jetzt ins Kino?

Wir gehen ins Kino, ja, aber nur gedanklich. Wir wollten mit dir sprechen über einen Film, der dir sicherlich bekannt sein wird und zwar über Ingmar Bergmans »Wie in einem Spiegel«.
Natürlich bekannt! Ich habe vor zwei Jahren eine Residenz in Ingmar Bergmans Räumen auf Fårö verbracht. Ich war in Ingmar Bergmans Haus und er war zu diesem Zeit­punkt seit knapp neun Jahren tot gewesen. Sein Anwesen auf Fårö, der kleinen Insel in Schweden, ist zwar relativ unbekannt, aber eine Residenz. Und eine ganz merk­würdige noch dazu. Es ist keine wirklich offizielle, sie ist in irgendeiner Form einge­gliedert ins Schwedische Film­institut – aber die sind sich dort ein wenig unsicher, wie man mit seinem Erbe umgehen soll. Auf jeden Fall habe ich dort für einen Monat an Ingmar Bergmans Schreibtisch gearbeitet, wo er alles geschrieben hat, wo noch alles vollge­kritzelt war …

… im Holz?
Die ganze Wohnung ist vollge­kritzelt. Bergman hatte viele Schlaf­störungen und gesund­heitliche Schwierig­keiten. Er hat selbst in seiner Auto­biografie geschrieben, dass das größte Vermächtnis, das er an das schwedische Kino hinter­lassen habe, all die zusätzlichen Toiletten neben den Regie­räumen wären, die sie wegen ihm hätten bauen müssen. Ich bin dort gewesen und habe einen Monat lang jeden Tag in seinem Kino gesessen, was er in eine alte Scheune hinein­gebaut hatte. Ich habe an seinem Klavier, das seine Frau gekauft hatte, gearbeitet, von seinen Tellern gegessen, seine Video­kassetten geschaut. Viele Filme, mit denen ich mich intensiver beschäftigt habe, auch auf VHS, habe ich mir Szene für Szene in Ingmar Bergmans Sessel vorge­nommen, zum Beispiel »La Dolce Vita« von Fellini. Die Frage passt also sehr gut, denn auch »Wie in einem Spiegel« habe ich dort, in Bergmans Kino sitzend, gesehen.

Wir bestellen eine zweite Runde: Kaffee, Tonic. Wir pausieren. Die Frage nach Bergmans Film steht aus. Fabian erzählt von einem Traum.

Ich hatte einen wieder­kehrenden Traum, mehrere Jahre lang. In diesem Traum gibt es einen Auto­unfall. Im Wrack des Autos finde ich eine Kassette. Auf dieser Kassette sind Lieder drauf. Niemand weiß, wem diese Lieder gehören. Die Radios fangen an, diese Lieder zu spielen, die sehr schön sind. Niemand weiß, von wem sie sind. Es ist eine Leer­stelle, es wird herum­gefragt, wer das Lied kennen könnte. Aber niemand weiß es. Diesen Traum hatte ich ganz oft: dieser Unfall, die Kassette, und die Lieder, die ich finde. Ich hab angefangen, mehrere Songs zu schreiben, die diese Lieder sein sollen, die ich im Traum gehört hatte.
Jahre später bin ich nach Moskau gekommen, für die Flaneur-Ausgabe und das Buch. Wiktor Zoi war in Russland eine Licht­gestalt wie im Westen vielleicht John Lennon. Er war eine zentrale Figur der Perestroika, und ist auf der Höhe des Erfolgs, am Ende des Kalten Kriegs, bei einem Auto­unfall in Lettland gestorben. Das Interessante daran ist, dass ich diese Geschichte davor gar nicht kannte, genauso wenig wie die russische Band, Zois Band, Кино [Kino], die ich zu der Zeit viel gehört habe. Da ich eine große Nähe zu John Lennon habe, wurde auch Wiktor Zoi zu einer wichtigen Figur für mich, die deshalb auch einige Male im Buch auftaucht. Im Wrack des Autos, nach Zois Unfall, hat man Kassetten gefunden mit den Liedern für das nächste Кино-Album, das noch nicht aufge­nommen worden war. Er hatte seine Gesänge bereits aufgenommen und später hat die Band die Lieder mithilfe dieser Fund­stücke aus dem Auto rekonstruiert. Sie haben posthum eine Art Trauer­album produziert, wo Wiktor Zoi ein letztes Mal drauf ist. Und diese Beschreibung der Szene von Wiktor Zois Tod war exakt die aus meinem Traum, den ich jahrelang hatte. Genau die Kassette, die man gefunden hatte, mit den Liedern, die dann überall im Radio gespielt und zu großen Hits wurden. Mit dem Unter­schied, dass man dort wusste, von wem sie sind. Als ich das zum ersten Mal gelesen habe, fragte ich mich: Woher kenne ich diese Geschichte? Ich kenne sie doch. Es war die Geschichte aus meinem Traum.
Ich glaube, dass die Unter­scheidung zwischen den Traum­welten und den fiktiven Anteilen von Geschichten in diesen Momenten obsolet wird. Beides ist eine Erzählung; und da, in diesem Moment, decken sich beide Erzählungen. Ob das tatsächlich so gewesen ist, weiß ich nicht. Es ist definitiv eine schöne Geschichte für die Band. Wiktor Zoi ist zwar gestorben, aber seine Stimme ist noch da. »Hier ist das, was er euch sagen will.« Das ist wie ein letztes Credo.
Vielleicht ist das auch eine Art self-fulfilling prophecy. Es erfordert eine Schärfe des Bewusst­seins für diese Story. Das ist ja nicht so einfach bestimmbar. Es setzt eine Sensibilität für die Form der Über­lagerung und des Arrangements voraus. Ich habe mich sehr stark dieser Person Zoi genähert, weil es plötzlich einen persönlichen Bezug gab.

Ich habe gestern den Film »Achteinhalb« geschaut, von Federico Fellini. Es hat sich mir noch kein besseres filmisches Beispiel gezeigt, in dem un­unter­scheidbar ist oder wird, was im Film, außerhalb des Films, was für den Film angedacht, was Wirklich­keit, was Traum ist und so weiter. Alle künstlichen Trenn­linien gehen auf, werden aufge­brochen, aufge­hoben. Fellini macht im Grunde in diesem Film einen Film. Er scheitert, weil er eigentlich weg will vom Film, er wird eingeholt vom Film. Dann träumt er Dinge, die Realität werden – so oder so ähnlich. Er erlebt Realitäten, die er träumt. Im Lichte dieses Films ist es also uner­heblich, von Traum oder Realität zu sprechen. Denn es kann gar niemand mehr unter­scheiden.
Ja, Fellini ist da auch sehr wichtig, wenn man sich anschaut, dass Fellini ursprünglich aus dem Feld der Neo­realisten gekommen ist, die mit einem ganz anderen program­matischen Ansatz fürs Filme­machen gearbeitet haben. Wie sehr er das in diese ganz intro­spektive Welt übersetzt und sich mit Träumen beschäftigt, sodass ganz klar ist, dass es immer schon das Medium des Traums im Film ist. Es ist unerheblich, das eine vom anderen zu unterscheiden. Es ist sehr virtuos miteinander verstrickt, sodass man sich als Zuschauer auch darauf einlässt, diese Trennlinie fallenzulassen. Das ist das Erstaunliche daran: Fellini entwickelt nicht mit Setz­kästen von Außen ein tolles Konzept. Du bist als Zuschauer in dieser Logik miteingeschlossen. Du wirst zum Träumenden. Das ist Fellinis Genie.

Wir wollten noch über einen anderen Film sprechen. Nicht aber auf kon­ventio­nelle Weise, mit der Film­theorie, sondern mit der Kino­theorie, die nicht das Medium Film und nicht nur das Kino als Ort meint. Kurz zur Szene aus Bergmans Film, obwohl du ihn wahr­schein­lich besser kennst als wir. Ich lese mal vor, was wir uns aufge­schrie­ben haben:

»Ich bin kürzlich durch diese Wand gegangen.« Sie steht an einem vertikalen Riss, der durch die Tapete geht. »Ich habe mich dagegen gelehnt wie gegen eine Hecke und dann war ich durch.« Sie ist zer­schlagen. Unter Tränen. »Ich sehne mich nach diesem Augen­blick, wo die Tür sich endlich öffnet, sehne mich nach ihm der da kommt.« Der Junge, ihr Bruder: »Wer soll denn kommen?« Ein Gott, sagt sie, wird zu uns ins Zimmer kommen. Sie ist schizophren. Ein Gott komme herunter, durch den Wald, in der Ferne das Brüllen der Raubtiere. Sie sei einmal in dieser Welt und dann in der anderen. Sie bleibt auf dem Boden liegen. Noch während er geht, fragt sie, was er hier wolle.

Ich möchte zwei Dinge zu dem Film sagen. Erstens, zum letzten Satz dieses Films. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie es auf deutsch synchronisiert wird, aber ich denke, es wäre etwas wie: »Der Vater hat gesprochen.«

»Der Vater hat mit mir gesprochen«, sagt der Sohn.
Und er blickt in die Kamera dabei. Der ganze Film läuft auf diesen Satz hinaus. Ich muss hier weiter aus­holen. Es gibt diesen Song von Leonard Cohen: »Lover, Lover, Lover«. Das ist ein sehr wichtiger Song, weil er den Begriff des Lovers in dreifacher Gestalt meint und zwar einmal als den Liebhaber, einmal als die Vaterfigur und einmal als Gott. Bei diesen drei Identitäten des Lieb­habers – oder des Vaters oder Gottes –, gibt es etwas, wo die Unter­scheidung zwischen den drei Figuren wegfällt. Das bezieht sich bei Leonard Cohen stark auf jüdische Mystik. Er arbeitet mit Versatz­stücken von anderen Texten. Ich glaube, dass es als Orientierung für den Film ein ganz guter anderer Text wäre, den man dazulegen könnte. Diese Szene der Schizo­phrenie bezieht sich auf eine Messias-, auf eine Erlöser­figur. Eine Erlösung, die am Ende des Films ausge­sprochen wird, wenn es heißt, dass der Vater mit »mir« gesprochen hat. Das ist der erlösende Moment.
Es ist ein ganz zentraler Film für das gesamte Oeuvre von Bergman. Es geht nach meiner Lesart permanent um dieses Konzept von »Lover, Lover, Lover«. Es gibt ein schönes Zitat aus Bergmans Autobio­grafie, wo er davon spricht, dass er als Sohn eines Pastors seine ganze Kindheit in den Räumen der Kirche verbracht hat. Er schreibt davon, dass Jesus sagt, man solle sich nicht fürchten, denn im Hause seines Vaters seien genug Zimmer. Bergman schreibt ein wenig süffisant: »Danke, Jesus. Aber wenn ich es jemals schaffen sollte, meines eigenen Vaters zu entfliehen, dann werde ich bestimmt nicht bei jemand anderem einziehen.«
Aus den Räumen des eigenen Vaters auszuziehen, genau darum scheint das komplette Ouevre von Bergman zu rotieren. Und dabei tauchen die Figuren, die in Bergmans Filmen Lieb­haber sind – oder Gott als Idee der Erlösung – immer in der Logik des Vaters auf. Das Entkommen aus diesen Räumen ist so schwer, weil im Prinzip alle gefangen sind in dieser Logik von »Lover, Lover, Lover«. Die Abhängig­keiten, die Beziehungen, die gestrickt werden, sind alle bestimmt über die Logik des Vaters. Die Emanzipation, von der Bergman spricht, und das ist so schön am Ausschnitt mit den Zimmern, den ihr vorgelesen habt, ist tatsächlich eine räumliche. In dem Film taucht ein Haus auf. Man kann das ganz psycho­analytisch lesen, was auch so intendiert ist von Bergman. Die Rolle des Dach­bodens, der ja einmal in der Architektur und Poetik des Hauses derjenige Raum ist, der das Gebälk darstellt, der Raum, der sich dem Himmel öffnet. Der offene Raum, ein stark rationali­sierender Raum. Und trotzdem übernimmt im Film noch die Funktion des Kellers, mit den alten Truhen, den alten Schichten, den alten Tapeten, den Spinn­weben, die Dinge, die allesamt noch abge­lagert sind – all das wird mitgenommen hinein in den Raum der rationalen Logik. Der eigentliche Gegen­pol zum Dach­boden wäre ja der Keller. Auf dem Dach­boden finden alle diese Dinge der Vergangen­heit statt, aber mit der Intention, sie zu rationalisieren und sie in die Logik des wachen Zustandes mit hinein­zunehmen. Die Schizo­phrenie von Karin [Hauptfigur im Film] arbeitet sich genau daran ab.

Der Keller ist eher ein Ort des Lagerns und nicht wieder Antastens. Der Dach­boden ist in Geschichten meistens beschrieben als der Ort, an dem wir Dinge wiederfinden. Wir finden die Dinge nicht im Keller. Wir finden Dinge auf dem Dachboden.
Genau. Das heißt, im weitesten Sinne sind Ablagerungen Dinge, die wir wieder­finden, die sich einordnen lassen in unsere Logik des wachen Zustandes und in die rationalisierende Logik der Welt, während die Dinge im Keller, die immer im Verbor­genen liegen, stärker assoziiert sind mit der Nacht, mit dem Traum, mit der Unfähigkeit, zu sehen. Und wenn wir im Keller sehen können, dann nur partiell, weil wir mit einer Taschen­lampe oder einem Leuchter unterwegs sind. Das sind ja die Bilder, die uns zum Keller einfallen. Das heißt: die Dinge dort nicht wieder­zufinden, sie dorthin zu tun, weil wir nicht mehr sehen wollen, sie verdrängen. Wir haben diese Sachen aus diesem Grund dahingestellt.
Aber wie du sagst: Diese Dinge auf den Dach­boden zu bringen, entspricht genau dem Versuch, in die andere Welt vorzu­dringen. Der Dach­boden bietet dazu noch eine messianische Lesart als Öffnung zum Himmel. Gleichzeitig bleibt die Unverein­barkeit. Es wird zwar versucht, diese Dinge in die Logik des Dach­bodens zu bringen, aber da sträubt sich etwas. In gewisser Weise etabliert die Schizophrenie eine Form des Widerstands im Film. Alle Grund­themen von Bergmans Arbeit sind in jedem Fall darin enthalten und lesbar. Ich sehe die messianisch-göttliche Figur, die Vaterfigur und und die Liebhaber­figur als unterschiedliche Schattierungen ein und derselben Figur.

I am a camera with its shutter always open

Wir gehen aus der Bar, die Fabians Wohn­zimmer ist, und öffnen uns dem Tag. Fabian geht heute sozusagen zum ersten Mal »raus«. Wir steigen in den Mini, der um die Ecke geparkt ist. Fabian hat eine Playlist vorbereitet für den Weg zur Kantstraße. Es läuft der erste Song.

In every dream home a heartache /
And every step I take /
Takes me further from heaven /
Is there a heaven? /
I’d like to think so

Kennt ihr den Track? Ein Song von Bryan Ferry, hier gemeinsam mit Jane Birkin. [Zum ersten Mal setzt eine Frauen­stimme ein.]

Open plan living /
Bungalow ranch style /
All of its comforts /
Seem so essential

Hier wohne ich übrigens, in dem Haus. (zeigt mit seiner rechten Hand auf das Haus, das man durch das Beifahrer­fenster sehen kann) Ich muss noch auf das Break warten, bis ich etwas zu dem Lied sagen kann.

I blew up your body /
But you blew my mind

Das Lied in dieser Version mit Jane Birkin habe ich zum ersten Mal in der Volks­bühne gehört. Endstation Amerika, Castorfs Adaption zu Tennesse Williams A Streetcar Named Desire. Wenn Castorf etwas konnte, dann war es Format. Diese Szene, in der eine Vergewal­tigung statt­findet. Amerikani­sches Interieur. Dann, in einem Moment, hören alle auf zu sprechen und stehen still. Dann ist Ruhe. Und dann haben sie »In Every Dream Home a Heartache« extrem laut gespielt. So laut, dass es geschmerzt hat. In diesem Track gibt es die Beschreibung amerikanischer Räume, amerikanischer Architektur.
Wir hatten ja gerade über Bergman und Väter gesprochen. Ich habe daran gedacht, dass Kino für mich, in meiner Kindheits­erinnerung, damit beginnt, dass wir Auto fahren und Musik hören. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich drei Jahre alt war. Zum Mauer­fall. Wenn ich als Kind Bilder des Mauerfalls gesehen habe, musste ich weinen. Einmal wegen der Emotionalität der bevor­stehenden Wieder­vereinigung. Und aber auch wegen des Verlustes des Vaters. Der Mauerfall hatte immer diese doppelte Bedeutung für mich gehabt.
Mein Vater ist Arzt und wenn er Dienst hatte, musste er innerhalb von 15 Minuten im Kranken­haus sein können. Meistens hat die Über­gabe, wenn wir am Wochen­ende bei ihm waren, auf einem Park­platz stattge­funden. Vor einem Möbel­haus, in irgend­einem kleinen Nest. Meistens war das Sonntag­abend. Wir haben nie miteinander gesprochen, aber wir haben Musik gehört. Dieses Bild: Die vorbei­ziehenden Land­schaften, die Musik im Auto – damit beginnen meine frühesten Kindheits­erinnerungen. Auch das Warten in der langen Schlange Richtung Westen, das ist mein erstes Bild über­haupt. Es ist die Zeit, in der ich auch meine Nähe zur Musik entwickle. Eigentlich ist die Musik die einzige Intimität, die ich von meinem Vater erfahren habe. An diesem Ort, im Auto. Wir haben nur vermittelt über die Musik mitein­ander gesprochen, vor allem über die Beatles, die Stimme John Lennons, die zur Stimme meines Vaters geworden ist.
In meiner kindlichen Perspektive hat eine strategische Verwechs­lung stattgefunden. Die Stimme von John Lennon war immer präsent, die meines Vaters über­haupt nicht. Ich schreibe dazu gerade auch einen Text, in dem ich auch die zugehörigen Orte bewusst verwechsle. Das Dakota Building in New York, in dem John Lennon gelebt hat. Und die Burg Hanstein, in der Nähe von Heiligen­stadt, wo ich aufgewachsen bin. Die Burg Hanstein lag fast direkt auf dem Grenz­streifen. Sehr viele Jahre hat man die Burg gesehen, aber man durfte nicht hin. Diese Konstellation der umliegenden Dörfer und die unerreichbare Burg hat den Ort stark aufgeladen. Er wurde zu einem Ort der Verheißung, wo man irgendwann vielleicht einmal hindarf. Ich habe als Kind zu meiner Mama gesagt: »Mama, ich habe das Gefühl, dass wir bald an der Grenze Blumen pflücken werden.« Ich habe das in den Monaten vor dem Mauerfall irgendwie mitbe­kommen. Meine Mutter war sehr nah mit den Demonstrations­bewegungen, viele ihrer Freunde waren involviert.
Das Dakota Building in New York wirkt auf mich wie eine städtische Burg. Für mich ist das eine interessante doppelte Parallele. Mein abwesen­der Vater, John Lennon, der immer anwesend ist durch seine Stimme und gleich­zeitig tot ist. Und dann die Orte: Sehnsuchts­ort auf der Grenzlinie, Sehnsuchts­ort New York. New York war das Versprechen für ein Klein­kind aus Thüringen, das in der Grenz­region aufwächst. New York war die Welt. In meiner Vorstellung wurden dort alle Sprachen gesprochen.
Später bin ich dann wirklich nach New York gefahren und tu es immer noch. Jedes Mal, wenn ich in New York ankomme, stecke ich immer mein Gepäck in den Keller der Penn Station. Dann laufe ich von Penn Station durch Manhattan, nach Norden, bis zum Dakota Building, gegenüber des Central Parks, der an dieser Stelle in Strawberry Fields umbenannt wurde. Ich sitze dann dort auf der Mauer. Und das trägt noch eine weitere Verwechslungs­geschichte in sich. Auf dieser Mauer hat John Lennons Mörder gesessen, nachdem er ihn ermordet hatte. Er ließ sich dort festnehmen, mit dem Buch The Catcher in the Rye in der Hand.

Es ist still geworden im Hintergrund, die Musik ist ausge­gangen. »Die Musik ist ausge­gangen«, sagt Fabian irgendwann und spielt das nächste Lied.

Boulevard Ring, zu diesem Buch gehört die Band Kino, das Lied Kamchatka.

Кино (Kino)
Камчатка (Kamchatka)

О-o, это странное место »Камчатка«.
О-o, это сладкое слово »Камчатка«.
Oh, such a strange place, »Kamchatka«,
Oh, such a sweet word, »Kamchatka«.

Es geht hier auch um eine Verwechslungs­geschichte. »Strange place« – hier wird der Ort gelesen, aber auch das Wort, »sweet word«. Kamchatka ist das Ende der Welt, der von Menschen­hand unberührte Ort. Die wilde Natur Kamchatka. Gleichzeitig meint Kamchatka ein Restaurant in Sankt Petersburg, wo Wiktor Zoi gearbeitet hat. Er musste zu Sowjet-Zeiten im Keller Kohlen schippen, um das Restaurant zu betreiben. Wiktor Zois erste Gitarre hatte dann die Form einer Schaufel, an die man Seiten gebunden hat. Das ist das Working Class-Narrativ. Für mich ist Kamchatka als Idee etwas, dass sich vom eigentlichen geo­graphischen Ort ablösen kann. Auf der Rückseite unserer Flaneur-Ausgabe von Rom haben wir ein großes Zeichen abgedruckt, das auf Rome, New York State hinweist. Schon in der äußeren Gestaltung des Heftes sagen wir damit: Wenn wir über Rom sprechen, sprechen wir über den Ort Rom. Wir müssen aber gleichzeitig immer auch über die Idee Rom sprechen, die sich vom geo­graphischen Ort abgelöst hat. Die Idee von Rom, die sich übersetzen lässt bis in die USA. Rome, New York State. Fast alle Flaneur-Autoren sind auch Übersetzer geworden. Baudelaire, derjenige, der den Flaneur in die Hochliteratur eingeführt hat, war Übersetzer von Edgar Allen Poe. Walter Benjamin war Übersetzer von Marcel Proust. Franz Hessel war Übersetzer. Die Frage der tatsächlichen Über­setzung von Texten, aber eben auch von Orten und den Projektionen von Orten, steckt immer schon in der Figur des Flaneurs. Es gibt die Anekdote von Franz Hessel, wie er an einem sonnigen Tag durch die Stadt läuft. Er hat die Hose hochge­krempelt und den Regenschirm aufgespannt. Franz Blei fragt ihn: »Warum denn, Herr H.?« – »Es regnet in Paris«, sagt Hessel.
Walter Benjamin hat das Nachwort zu Hessels Buch geschrieben und darin von der Idee der Wieder­kehr der Flaneure. Es geht darum, dass sie sich Frankreich anwesend machen: durch die Aus­einander­setzung, durch die Über­setzung franzö­sischer Literatur. Die Literatur ins Deutsche übertragen und in Berlin von Paris lesen. Diese Verbindung zeigt sich auch in der Stadtentwicklung: Berlin können wir nicht ohne Paris verstehen. Es ist unmöglich. Wir fahren gleich über den Kurfürstendamm und die Champs-Élysées.
Die Frage der Über­setzung ist enorm wichtig. Und wenn wir von Kamchatka reden, geht es um die Idee von Kamchatka. Ich schreibe in meinem Buch: »Wir sitzen in Moskau, Fremde unter Fremden, und wenden uns unserem eigenen Unbekannten zu.«
»What a strange place, what a sweet word, Kamchatka«. Für mich ist auch der Klang der Worte wichtig, jenseits ihrer Bedeutung. Deswegen habe ich sie meinem Buch im russischen Original vorangestellt und nicht übersetzt. Franz Hessel, der durch das sonnige Berlin läuft und sich in ein Paris imaginiert, in dem es gerade regnet: das sind cineastische Konzepte. Wir sind im Kino. Die hochgekrempelte Hose, der Regenschirm. Es geht um Projektionen. Und dabei sind wir jenseits des Films und trotzdem im Kino, in der Logik des Kinos.

Du hast gesagt, jedem, der dir etwas bedeutet, machst du eine Playlist.
Ich mache mein ganzes Leben lang schon Playlists und Mixtapes. Ich mache mir selber jeden Monat eine Playlist. Das ist eine Art von Memo­technik. Wenn du mich fragst, was letzten Frühling gewesen ist, muss ich auf meine Playlist gucken. Dann kann ich genau sagen, was passiert, wo ich gewesen bin, wie ich mich gefühlt habe, mit welchen Texten ich mich gerade aus­einander­gesetzt habe. Es ist also treffend, dass wir mit dem Auto fahren und Musik hören. Bei einem Auto geht es ja auch um die Neben­einander­stellung von Bildern mit den Mitteln der Beschleunigung und nicht um Ent­schleunigung. Auf der journalis­tischen Ebene wird das Flanieren mit dem Sonntags­spazier­gang verwechselt. Sie denken beim Flanieren nur an die recreational methods, um Montags wieder arbeiten zu können. Aber darum geht es ja gerade nicht.

Flanieren wir gerade auf vier Rädern?
Im Moment nicht. Wir haben ein konkretes Ziel, wir haben Zeitdruck. Und wir sind zu viert im Auto, die Introspektion kommt hier zu kurz. Das Auto würde ich aber nicht aus der Stadt­wahr­nehmung herausnehmen. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg müssen wir danach fragen, wie Städte trans­formiert worden sind von Autos. Die sogenannte auto­freundliche Stadt hat maß­geblich die Grenzen der Stadt, die Straßen­führung, die Macht­strukturen weitergedacht. Das wird besonders deutlich, wenn man nach dem Wasser in der Stadt fragt. Wasser ist ein wichtiger Träger von Gedächtnis. Berlin ist ein Sumpf, Moskau ist ein Sumpf. Beide Städte sind in ihren Sprachen assoziiert mit der Etymologie des Sumpfs. Es gibt andere Orte, die es nicht im Namen haben, und dennoch: Taipeh ist ein Sumpf, Sankt Petersburg ist ein Sumpf. Wir leben in Sümpfen. Aber wir merken es nicht. Athen besteht aus 400 Flüssen und wir sehen keinen einzigen. Meistens benutzen wir die Flüsse, um entlang von ihnen große Straßen zu bauen, große Verbindungs­linien. In der Logik des Verkehrs findet man dann viele Schichten des Wassers wieder. Meistens ist das Verhältnis der eigentlichen Bewohner der Stadt mit dem Wasser traumatisiert. Es ist nicht mehr zugänglich. Wegen des Wassers leben wir hier, aber wir sind eigentlich nicht mehr am Wasser. Wir sind vom Wasser getrennt.

Als wir den vergangenen Raum verlassen haben, hatten wir gesagt, dass das ein relay ist, Deleuze und Guattari schreiben in ihren Tausend Plateaus davon. Eine Staffel­stab­übergabe: von einem auf das nächste. Eine ständige Weiter­gabe, ein ständiger Aufschub.
Jetzt gleich wäre noch »Words« gekommen, das 80er-Jahre-Lied. Das lief bei dem Film »Call Me By Your Name« im Radio. Den schaffen wir noch, bevor wir ins Kino gehen. Hier auf der Ecke war mal das Kant-Hotel. Das wollte ich euch zeigen. Jetzt steht da »Best Western« drauf. Der Name war schon immer größer als der Ort selber. Ein hässliches Gebäude neben einem McDonalds. In diesem Hotel hat in den 20er-Jahren der große iranische Schriftsteller Hedayat übernachtet. Als wir zur Kantstraße hier gearbeitet haben, ist mir aufgefallen, dass der Name Kanthotel in seinen Briefen auftaucht. Er hat einen euphorischen Brief an einen Freund in London geschrieben. Er schreibt darin, dass er Berlin liebt und hierbleiben will. Er möchte auf der Kant­straße einen Buchladen für persische Literatur eröffnen. Daraus ist nie etwas geworden, weil er später in Paris gelandet ist und sich in einem kleinen Appartement das Leben genommen hat. Ich habe einen anderen iranischen Dissidenten getroffen: Abbas Maroufi. Er war der erste nach der Iranischen Revolution, der Literatur­kritiken westlicher Autoren veröffentlicht hat. Er wurde dafür im Iran zu Peitschen­hieben verurteilt und musste nach Deutsch­land fliehen. Aufgrund der Hedayat-Briefe hat er eine Fläche auf der Kant­straße gesucht und diesen Traum Hedayats umsetzen wollen. Der kleine Laden heißt heute, natürlich, Hedayat. Diese Geschichte bewegt mich sehr.

Fabian Saul III

Wir sind im Kant Kino, um die Bilder zu schießen. Fabian fühlt sich wohl. Wir wollen im Anschluss auf die Kant­straße, Fabian will uns eine Geschichte der Stolper­steine erzählen. Als wir raus aus dem Kinosaal sind, rutscht ihm aus der Jacken­tasche die Taschenbuch­ausgabe von Gaston Bachelards Poetik des Raumes. Wir sprechen nun im Gehen.

Gibt es ein Buch, dass du immer bei dir trägst?
Wenn ich reise, habe ich immer ein kleines goldenes Buch dabei. Es sieht ein bisschen aus wie eine Bibel in diesem Einband. Das sind die gesammelten Lied­texte von Leonard Cohen. Das ist ein Stichwort­geber für mich. Ich habe natürlich auch eine große Nähe zu Marguerite Duras. Gaston Bachelard, Poetik des Raumes. Das einzige Buch, das ich immer auf der Handy-App dabei habe, ist Benjamins Passagen-Werk. Ich finde, das ist ein Text, bei dem das mobile Aufrufen konstitutiv zum Lesen dazugehört, zum Lesen des Fragments. Ich kehre immer wieder dorthin zurück. Ich will das gar nicht zu stark machen, weil das ja so naheliegend ist: Der Flaneur, das Magazin, Benjamin. Aber natürlich ist er eine zentrale Referenz. Das Gute bei ihm ist, dass er das inter­disziplinäre Denken gelebt hat und in unterschied­lichsten Kontexten auftaucht.

Fabian Saul IV

Du wolltest auch über Stolper­steine sprechen.
Ich habe im ersten Magazin eine Geschichte über die Stolper­steine gemacht. Und ich finde die Entstehung von ihr sehr interessant. Gerade, weil das Fragmen­tarische, Schichten etc. auf sehr abstrakte Konzepte zielen, hilft eine konkrete Illustration, um sie besser zu verstehen.
Ich habe mir die Frage gestellt: Lebt noch jemand von dieser Familie, die deportiert worden ist? Ich habe mit dem Künstler Gunter Demnig, der das Stolper­stein-Projekt macht, recherchiert. Irgendwann habe ich die Nummer von einem Anwalt der Familie bekommen, der mir wiederum eine Nummer in Seattle gegeben hat. Das war die Nummer des zum Zeit­punkt der Deportation 6-jährigen Michael. Er ist der Sohn der Familie, er hat Auschwitz überlebt. Ich habe bei ihm angerufen und es fiel mir sehr schwer: Wie fange ich so ein Gespräch an? Sein erster Satz war: »Wir haben Deutsch­land 1947 verlassen und du bist der Erste, der anruft.« Das war der Einstieg in eine Freund­schaft übers Telefonat. Er hat zwei Bilder, die den Krieg überlebt haben und die er in einem Safe in Seattle hat, gescannt. Wir haben sie gedruckt.
Das viel Wichtigere war, dass er mir aus seinen Kindheits­erinnerungen Räum­lich­keiten, hier in Berlin, beschrieben hat. »Ich gehe nach rechts, wieder nach links, da war die Sand­kiste, da war das …« Er ist seine Kindheits­erinnerung durch­gegangen und ich bin am nächsten Tag auf die Kant­straße und habe versucht, die Wege zu rekonstruieren. Ich bin die gleichen Wege seiner Beschreibungen gegangen und habe versucht, mich mit seinen Kindheits­erinnerungen räumlich zu synchro­nisieren. Ich bin in das Gebäude hineingegangen, es war eines der wenigen, dass den Krieg unbeschadet überstanden hat. Alle umliegenden Gebäude mussten neu gebaut werden. Aber dieses Haus ist von keinen Bomben getroffen worden und dieser Zufall ist mir gar nicht aufgefallen, als ich mich zum ersten Mal für die Stolper­steine interessiert habe. In dem Haus ist es sehr beeindruckend. Es ist noch im Zustand der 20er Jahre. Der alte Fahrstuhl ist drin, der Stuck ist erhalten, die Spiegel. Seine Beschreibungen wurden für mich tatsächlich nach­voll­ziehbar und ich konnte mich im Haus gut orientieren. Dort sind die Briefkästen, Treppe hoch, vierter Stock, auf der rechten Seite war die Eingangstür. Ich habe dann an der Tür geklingelt. Mir hat jemand aufgemacht, der vor drei Monaten dorthin gezogen ist. Er hatte überhaupt keine Ahnung davon, was Stolper­steine sind. Dann fing ich an, ihm alles zu erzählen: die Geschichte der Familie, der Zimmer … Er konnte damit gar nichts anfangen. Das war der Moment, in dem der Versuch der Synchroni­sation an eine Grenze gestoßen ist. Das, was mich über die Stimme am Telefon betroffen gemacht hat, war nicht übertragbar. Und trotzdem habe ich ihm das erzählt.
Kurz bevor wir mit dem Magazin in den Druck gegangen sind, hat Michael mir gesagt, dass er die Stolper­steine nie gesehen hat. Er hat kein Foto davon. Er hatte nur in einer Zeitung in Seattle von dem Projekt gelesen und daraufhin eine Behörde in Berlin angerufen und für die Steine bezahlt. Er wollte nie wieder zurück nach Deutschland, aber er wollte, dass an diesem Ort die Namen seiner Familie zurück­gebracht werden. Ich wollte also ein Foto von dem Stolper­stein machen, die Steine waren aber sehr dreckig. Ich habe angefangen, sie zu putzen. Und währenddem ist mir klar geworden, dass dieser kleine Akt das ist, was diese Geschichte bewirkt hat. Die oberste Schicht haben wir berührt.

Wir stehen vor den Kant­garagen. Es fährt eine Fahrrad­fahrerin an uns vorbei und winkt lächelnd in die Kamera, die uns schon den ganzen Tag unauffällig filmt. Fabian lächelt zurück: »Nice try«. Wir kommen nicht in die Kant­garagen, Versicherungs­gründe sagte man uns im Vorfeld. Das Gebäude ist bau­fällig. Es hat sich kürzlich ein Investor gefunden, der wohl bald aus der Ruine ein Startup-Zentrum macht. Der Eingang ist von Holz­brettern versperrt, sie sind mit einer Eisen­kette zusammengehalten. Wir rütteln an der Kette. Symbolisch versteht sich. Sie klimpert dumpf. Wir posieren vor der Kamera. Das ist jetzt wie Privatfernsehen.

Warum sind wir hier?
Die Kant­garagen sind der Nachbau eines Park­hauses in Detroit. Das wurde in den späten 20er-Jahren gebaut. Der Ort ist eine Projektion: Die Zukunft der Städte – dieses Versprechen gibt dieser Bau – sieht so aus. Dieses Gebäude hieß »Kant­garagen­palast« und ist mit der Idee verbunden, dass man künftig Paläste für Autos baut. Es gibt abschließ­bare Boxen, in denen die Autos abgestellt werden und sich um die Autos gekümmert wird. Es gibt eine Tank­stelle darin, es gibt einen Mechaniker. Diese Vision vom Auto als Luxus­gegenstand, dem eine eigene Wohnung in der Stadt einge­räumt wird, ist nie Realität geworden. Es ist eine über­zogene Vors­tellung aus der Früh­phase des Auto­mobils. Die großen Heils­versprechen des Autos wurden später viel nüchterner betrachtet, besonders nach dem Zweiten Weltkrieg. Orte wie Kassel zum Beispiel sind ja eine große Ernüchterung davon, wie das die Städte verändert.
Das hier ist aber das Bild einer anderen Vision. Diese Vision hat für Berlin nie gestimmt, der Ort wurde nie dafür benutzt, wie es das Gebäude vorsieht. Das Halb-Öffentliche des Gebäudes hat dazu geführt, dass es zu ganz anderen Nutzungs­formen gekommen ist. Man hat hier Bücher während des Zweiten Weltkriegs gelagert und manche verbotenen Bücher haben die Nazi-Diktatur überlebt. Später wurde hier geschmuggelt, es wurden Waffen gehandelt, die RAF hat hier ihre Geiseln gehalten. Die halb-öffentlichen Boxen, diese Auto-Zimmer in der Stadt haben plötzlich verschiedene Funktionen gehabt, aber nie die vorgesehene. Dadurch wird der Ort interessant. Kant­garagen­palast, dieser Name war von Anfang an aus der Zeit gefallen. Es gibt eine Idee einer Stadt, die in diesem Gebäude implizit ist; das ist der Versuch einer Übersetzung.

Wir sind im Lon Men’s Noodlehouse, einem taiwa­nesischen Restaurant. »Wir gehen wegen den Suppen hierher«, sagt Fabian. Wir bestellen Dumplings, die wir gemeinsam aus der Tisch­mitte essen und die in der Karte als Maul­taschen ausgewiesen werden. Wir trinken Tsingtao-Bier. Wir sind albern, ausge­hungert, und vergleichen unsere Stäbchen­techniken. Wir sind an die Seite eines Durch­gangs gepresst, der weder für uns noch für die Bedienung breit genug ist. Niemand nimmt Anstoß. Wir reden über Astro­logie und chinesische Stern­zeichen. »Ich bin Feuer­tiger, versteht das als Warnung«, sagt Fabian. Das Berliner Lon Men ist ein Knoten­punkt: Es taucht in der ersten Ausgabe des Flaneur auf, »Issue 01: Kantstrasse, Berlin«. Fünf Jahre später sind wir wieder her, wo alles ange­fangen hat. Überall Kreise, die sich zu schließen versuchen. Berlin, Taipeh, Berlin. Dazwischen der Rest von allem.

Vor drei Tagen habe ich im Lon Men in Taipeh Dumplings gegessen. Jetzt sitzen wir hier im Lon Men’s Noodlehouse in Berlin, die Analogie zu dem taiwane­sischen Beispiel.
Ich hatte einen sehr intensiven Sommer in Taipeh. Ich war fast drei Monate dort. Wenn ich für das Magazin an einen Ort gehe, mache ich sehr wenig Vor­recherche. Dann komme ich an und laufe sehr viel und treffe sehr viele Leute. In sehr kurzer Zeit nähere ich mich dem Ort an: durch ex­zessives Laufen und den Aus­tausch mit den Menschen, die diesen Ort bewohnen. In dieser Phase bin ich ein Flaneur, bin im Schwamm-Modus. Ich nehme alles auf und versuche, so wenig wie möglich heraus­zufiltern. Ich versuche, mit der Stadt jenseits von Hierarchien in Kontakt zu kommen. Derjenige, der auf dem Markt Zuckersirup verkauft, ist genauso relevant wie die Kultur­ministerin von Taiwan. Ich will alles zu­lassen. In den zehn Wochen vor Ort habe ich nur zwei Tage eine Pause gemacht. Wenn das andere mit­erleben, sind sie bereits nach einem Tag fertig. Für mich bedeutet diese Hin­gabe auch, die physische Dimension kennenzulernen.

Ist der Flaneur ein Stenograph?
Überhaupt nicht. Ein Steno­graph ist bürokratisch akkurat, was für das Flanieren irrelevant ist. Die Steno­graphie strebt nach einer Dokumentation der Vollständig­keit. Der Flaneur arbeitet eher mit dem Ver­zerren der Erinnerung. Mit einer Straße zu beginnen, bedeutet auch, dass wir die nationalis­tischen Narrative über­springen können. Wir setzen an, wo wir immer vom Detail, von der Nuance aus sprechen, nicht vom großen Narrativ. Im Magazin beschreiben wir manchmal aus der Erinnerung die Orte. Da findet eine wichtige Ver­zerrung statt.
Ich mache kaum Pausen, schlafe wenig und bin permanent in einer Aufnahme­situation. »A camera with its shutter open«. Ich bin an meine Grenzen gegangen. Am Ende hatte ich eine Augen­infektion und der Arzt fragte, ob ich genug schlafe. Es sei eine typische Reaktion der Augen auf mangelnde Ruhe. Die Augen trocknen aus und werden anfällig. Die Schutz­mechanismen des Auges greifen nicht mehr. Ich empfand das als Ausdruck der physischen Dimension dieser Arbeit. Sie wird sichtbar am Auge.
Es waren 40 Grad, es war Taifun-Zeit, mit extremen Regen­fällen. Da ist man weit weg von der Idee eines erbaulichen Spazier­gangs; der Unter­scheidung von Freizeit im Vergleich zur Arbeits­zeit. Den Stadtraum wirklich zu erlaufen ist anstrengend.

Wir hatten den »Gesprächs­plan«, dass wir mit dir über den Flaneur als Figur isoliert sprechen: als ein Gesprächs­block. Nun fällt mir aber auf, dass sich das Denken des Flaneurs immer wieder in alle Themen hinein­schleicht. Alles, was wir von dir hören, sehen, lesen, anfassen können, kann in der Figur des Flaneurs aufgehen.
Muss es so etwas wie ein zentrales Motiv geben? Führt nicht diese Vor­stellung von einem Zentrum weg vom Fragmen­tarischen? Ich verstehe den Wunsch, einen Flucht­punkt zu finden. Du hattest heute gesagt: »Du kommst aus dem Kino.« Nein, ich gehe dorthin. Das Kino ist der Flucht­punkt: Das Kino will ich theoretisch erfassen, ich will Filme machen. Ich glaube, dass mein Ursprung, und danach habt ihr ja gefragt, eher in der Verbindung von Kino und Musik liegt. Die Auto­fahrten, die ich beschrieben habe. Das ist der Kern meines künstlerischen Schaffens.

Fabian Saul V

Und damit schreibst du dich in die personi­fizierte Geschichte der Cahiers du Cinéma ein. Es gibt diese Bewegung vom Film zur Theorie, vom erfolg­reichen Regisseur zum Honorar­professor. Aber es gibt auch die Gegen­bewegung: von der Arbeit am Text, an der Reflexion, hin zur Praxis.
Ja. Damit kann ich viel anfangen, die Referenz verwende ich selbst sehr oft. Die Frage nach dem Über­geordneten ist weniger wichtig als die Methodik. Die theoretische Aus­einander­setzung hebt nicht die Sprach­losig­keit auf, um die es mit aller künstleri­schen Beschäftigung geht. Dafür ist es notwendig mit den Mitteln des Films zu arbeiten und das hat etwa die Nouvelle Vague getan. Es gibt theoretische Über­legungen, die dazu hinführen, aber die Sprach­losigkeit, um die es letztlich geht, kann nicht aufgehoben werden. Ich kann nicht auf den Film verzichten und stattdessen einen Essay schreiben. Nein, die Ausdrucks­mittel bleiben notwendig. Deswegen ist die urgency groß, unmittelbar künstlerisch tätig zu bleiben. Der Kontakt mit den Dingen an sich, bei Bachelard heißt das Ekstase der Bild­neuheit, ist immer dringlich. Es verhindert das Theorie­gebäude. Die akademische Form ist die Behauptung einer Sprache; die Abwesen­heit einer Sprache ist im Ausdruck eines künstlerischen Aus­drucks immer evident und unüberwindbar.

Geht es dann darum, dass Ab­wesende an­wesend zu machen?
Die Abwesenheit muss benannt werden. Die Strategie der Vergegen­wärtigung: Dinge, die nicht sichtbar sind, werden es in der Benennung. So ist es auch im Boulevard Ring. Die Vergangen­heit, das Gegen­wärtige, das Zukünftige wird in seiner Verschieden­heit aufge­hoben und vergegen­wärtigt. In dem Moment, wo die Dinge neben­einander gestellt werden, wirken sie aufeinander ein. Es geht nicht um ein mapping, dass man die Dinge so arrangieren müsste, wie sie meiner Vorstellung entsprechen. Ich stelle die Dinge neben­einander, damit sie dann zu mir sprechen. Damit ich erkennen kann, was zwischen ihnen verborgen gewesen ist. Um sie zum Sprechen zu bringen, ist die Vergegen­wärtigung notwendig. Es geht um eine Anhäufung von Material, ich arbeite wie ein Bild­hauer. Der ursprüngliche Text ist viel, viel länger als der, den ich letztlich drucke. Er ist da und dann wird von ihm weg­genommen. Wir müssen das Material anhäufen, um dann sicht­bar machen und unter­scheiden zu können.
We concern ourselves only with places that may soon vanish. Es geht um das Verschwinden. Wir enden immer wieder an den Enden der Stadt, in den Kerben, in den dunklen Seiten.

In den »Falten der Stadt«, schreibst du im Boulevard Ring.
Es geht um die Trümmer, das Zerstörte und Zerstör­bare der Stadt. Das Flanieren findet immer aus dieser Perspektive statt. Es ist in Deckung mit Benjamins Geschichts­begriff: Es gibt eine Unaus­weichlich­keit des Zerfalls.

Uns bleibt kaum noch Zeit. Wir kaufen Mate und die Schoko­riegel, die unser gemeinsamer Freund gerne isst. Dann hasten wir zum letzten Raum. Ein Spiel­platz im städtischen Nirgendwo, zu dem wir keinen Bezug haben. Zum ersten Mal an diesem Tag betreten wir einen Raum, ohne an einem Ort zu sein. Das Licht ist schnell verschwunden; als hätte es jemand eilig ausge­löscht. Fabians wieder­kehrende Sorge, nicht alles erzählt zu haben, nähert sich ihrem Höhe­punkt. Dort angekommen, wird er mit einer Rück­frage schließen: »Was hättet Ihr gesagt?«

Fabian Saul VI

Fortschritt / Sturm

Wir beginnen ohne eigene Frage. Wir schauen die ersten zwei Minuten einer Arte-Dokumentation über Marguerite Duras. Sie spricht. Play.
»Ich weiß die Dinge nicht, bevor ich sie schreibe. Ich schreibe viele Einkaufs­zettel mit Dingen, an die man denken muss. Ich mache auch Bücher. Ich schreibe auch Zettel, aber ich mache auch Bücher. Wenn es mir zu undurch­sichtig wird zu entwirren, was mit mir selbst passiert, mache ich ein Buch. Das sind indirekte Wege, um zum Tod zu gelangen. Man macht immer ein Buch über sich selbst, egal was die anderen behaupten. Es gibt keine erfundenen Geschichten.«

Sehr schön. (kurze Pause) Ihr habt mich nicken gesehen. Ich glaube ja, dass das nun keine direkte Frage ist, sondern eine Suggestion. Es gibt zwei Sachen, die darin auftauchen. Einmal dieses Den-Text-nicht-wissen-bevor-man-ihn-schreibt. Ich habe vorhin kurz einmal ange­sprochen, dass es eine Idee davon gibt, dass die Dinge vergegen­wärtigt werden, damit sie zurück­sprechen. So, wie das auch in den Texten funktioniert. Erst wenn man sie neben­einander­stellt, erkennt man, was zwischen ihnen passiert. Es gibt also keine voraus­eilende Konzeption, es gibt den Masterplan nicht oder, um es jetzt mal wieder mit dem Flaneur zu sagen: Es gibt keinen Blick von oben, auf die Kartierung, sondern nur die Boden­perspektive, aus der die Dinge fragmen­tarisch erscheinen. Und die Manifes­tierung dieser Frag­mente erlaubt dann, dass sie zurück­sprechen und dass das, was zwischen ihnen stattfindet, sichtbar wird. Von daher glaube ich, dass die Methode des Schreibens genau dem entspricht. Und gleichzeitig – weil der Tod da auftaucht: Ich hatte ja im Vorgespräch davon gesprochen, dass ich glaube, dass es nur einen Text gibt. Der Boulevard Ring ist so verstanden Teil eines größeren Texts, an dem ich schreibe, ein Versuch, ein Essay im besten Sinne. Er ist Teil eines Text-Versuchs, der aber noch nicht beendet ist mit diesem Text.

Und was sich auch zeigt, wenn du davon sprichst, dass es nur einen Text gibt, ist der Gedanke eines Werks, das über allen Büchern steht und dieses Werk ist aber – und das ist einer der Gründe, warum wir dir das eben vorgespielt haben – eines, das sich in Einkaufs­zetteln zu erzählen scheint, aus kleinen Fragmenten besteht, die nicht so eng zusammen­hängen wie andere Textsorten.
Es gibt kein großes Narrativ. Das ist eine Perspektive, die ich in der Zusammen­arbeit mit Matthes & Seitz immer stark mache: Mir ist wichtig, dass die Texte zusammen­hängen können und das es auch jemanden gibt, der perspek­tivisch mit mir diese Art von Schreiben eingeht. Ich will Werke schaffen, die sich auch wider­sprechen dürfen. Denn ich glaube, es gibt viele Wider­sprüchlich­keiten, die ich nicht auflösen, nicht berei­nigen möchte. Das würde man tun, wenn man es auf ein großes Narrativ abgesehen hätte. Ein großes Narrativ müsste konsistent sein in seinen Kausali­täten. Das muss dieser Text nicht sein. Die Erkenntnis erscheint in Zwischenräumen.

Was sich zeigt, wenn du das beschreibst – und das hat sich schon über den ganzen Tag gezogen – ist, dass ein Wort, ein Adjektiv, eine Schlüssel­funktion zu haben scheint: fragmentarisch. Das Buch Boulevard Ring haben wir direkt nur wenige Male benannt, aber natürlicherweise oft davon gesprochen. Weil das so ist, weil es diese Verwandt­schaft gibt zum Flaneur Magazine – es gab die Ausgabe zu Moskau, jetzt gibt es dieses Buch –, könnte man es als die Konser­vierung des Magazins bezeichnen. Magazine wirft man weg, Bücher nicht. Du hattest darüber gesprochen, was damals, in der ersten Ausgabe zur Kantstraße, als Präambel stand.
»This could be Kantstraße.« Wir saßen gestern Nacht um kurz vor zwölf noch vor diesem Satz und glauben, dass dieser Satz, so wie er dort steht, eine Lüge ist. Sicher: Dieses Buch, dieses Magazin, ist nur eine Perspektive. Aber gerade, was die Kantstraße, was den Boulevard-Ring betrifft, ist es doch eine einzige Perspektive. Diese Ausgaben sind die maßgeblichen Portraits ihrer Straßen. Und daher ist dieser Konjunktiv eine Lüge. In dem Augenblick, wo du diesen Satz aussprichst und dem voranstellst, begehst du einen perfor­ma­tiven Wider­spruch. Und wir vermuten, dass du diese Lüge intendierst.
Er arbeitet gleich auf der ersten Seite aktiv gegen das, was das Versprechen des Magazins ist. Das ist klar, ja. Das Entscheidende ist doch, dass wir, wenn wir über die Straße sprechen, auf eine Art über die Straße sprechen, dass sie Beginn eines Gesprächs und vielleicht auch sein Ende ist – deshalb diese Ring-Idee –, dass wir aber dazwischen eigentlich über alles sprechen können. Das heißt, im besten Sinne ist es ein Text, der von allem handelt, nur nicht vom Boulevard.
Es gibt auf der einen Seite den Fixpunkt, den man zum Anlass des Sprechens nimmt. So würde ich das im Hinblick auf das Magazin verstehen. Es ist eine Einladung zum Sprechen, wenn man so will. Es bedeutet aber auf der anderen Seite nicht, dass das Material der Straße, die unter­schied­lichen Einlass­tore, die unter­schied­lichen Diskurse, die die Straße anbietet – es bedeutet überhaupt nicht, dass sich die im Material der Straße erschöpfen. Im Gegenteil, ich glaube sogar, dass alles, was uns von der Straße wegführt, am Ende zu ihr hinführt. Das ist wichtig für das Magazin und auch wichtig für den Boulevard Ring-Text.
Ich verstehe, was ihr mit »Lüge« meint. Es ist ein paradoxer Einstieg, mit dem man vielleicht klarmachen will, dass hier kein Anspruch auf Vollständig­keit erhoben wird. Ich glaube aber, dass es vor allem darauf verweist, dass es auch um alles andere geht. Das Medium der Vergegen­wärtigung ist die Straße, der Anlass des Gesprächs ist das Material, das die Straße bietet. Aber es erschöpft sich nicht in dieser Straße. Ich kann nicht mit Sicherheit auf die Frage antworten: »Sprechen wir tatsächlich von diesem Ort?« Oder, wie ich es vorhin gesagt habt: Ich spreche am Anfang des Buchs über Kamchatka. Kamchatka taucht als eine Idee auf, die mit dem Wort Kamchatka eigentlich nichts zu tun hat. Trotzdem ist es der Einstieg zum Boulevard Ring und ich halte das für richtig. Als Gegenfrage: Wenn ihr sagt, das ist eine Lüge, dann wertet ihr es ja auch, oder?

Wie du das beschreibst, erscheint es sehr über­zeugend. Auch sichtbar ist: Mit diesem Magazin, mit diesem Buch, stoßen wir an die Grenzen ihres Mediums. Das, was du tun möchtest, das, was dein Anspruch ist – die situative Assoziierung – kann sich in diesen Formaten nicht ereignen. Es gibt Formatgrenzen. So gelesen, erscheint das nach­voll­ziehbar. Es ist wie ein Codewort, das du sprichst. Du sprichst aus: »Ich möchte nur nochmal sagen, dass das – auch wenn wir es gleich nicht mehr ernst nehmen können – eigentlich ein Konjunktiv sein soll.« Und deshalb sagst du auch: »This could be Kantstraße.«
Wenn wir genau hin­schauen, würden wir sehen, dass dieser Satz im Magazin in Anführungs­zeichen steht, es eben ein Ausruf ist. Wir sähen aber, dass das Wort »could« kursiviert ist. Das müsste es nicht sein für einen bloßen Konjunktiv als Ausruf. Vielleicht müsste man darum schließen, dass ihr da etwas hinein­gesteckt habt in dieses eine Wort, in dieses »könnte«. Wenn der Leser also gütig ist, dann sagt er, das ist gar keine Lüge.
Es gibt am Ende von der ersten Ausgabe, sozusagen direkt nach dem Text, der das Konzept des Magazins zusammen­fasst, ein Editorial, das mit dieser Passage endet: »Wir haben dem noch etwas hinzuzufügen«. Ich arbeite dort mit verschiedenen Zitaten. Wenn man das Magazin nun auch als einen Text versteht, als einen body of work, dann hat sich das Magazin dahin entwickelt, dass, wenn ich mir jetzt die São-Paulo-Ausgabe anschaue, es gar keine Trennlinie mehr von Kapiteln gibt und von typischen Magazin­strukturen. Es wird ein Text, der so fragmentiert ist, dass er mehrere Autoren hat. Der Text ist in beide Richtungen offen, schließt an etwas an, was schon vor dem Schreiben begonnen hat und er ist auch nach hinten hin offen. Auch dafür ist dieses »could« wichtig.

Dieser Nachtrag hatte also die Funktion eines Appendix, eines Anhangs. Was du dann beschreibst gerade, ist, dass du eigentlich einen Text schreiben willst, der sich selbst anhänglich ist – und damit offen.
Genau, der in beide Richtungen offen ist. Kommen wir nochmal auf die Konzeption. Ich hatte auch schon vom Traum, der in die Projektion, in den nächsten Tag hinein­wirkt, von diesem avant­gardis­tischen Griff, gesprochen. Der Text hat schon vor dem Schreiben begonnen, hat immer schon davor begonnen und geht auch nach der letzten Seite noch weiter. Das gilt genauso für das Magazin. Gleichzeitig kommt noch hinzu, dass es immer wieder gilt, dieses Versprechen, das ja auch mit dem Titel schon gegeben wird, »Kantstraße«, aufzulösen und dagegen zu arbeiten, damit nicht der Eindruck entsteht, wir erheben einen Anspruch auf Vollständig­keit.

Es ist ja oft so, dass das Ende eines Gesprächs ebenso gut ein Anfang sein könnte. Wir haben uns eine letzte Frage aufgehoben, die ebenso gut eine Einstiegs­frage sein könnte. Eine Frage, die wir uns, um die Dramaturgie unseres Gesprächs, die wir alle beein­flusst haben, nicht zu gefährden, aufgehoben haben. Wir haben versucht, sie zu schützen, dich und uns alle zu zügeln. Sie richtet sich auf den Angelus Novus, das Gemälde von Paul Klee. Wir sehen dort einen Engel von vorn, die Flügel aufgespreizt. In der neunten These aus »Über den Begriff der Geschichte« schreibt Benjamin dazu:
»Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf darge­stellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu ent­fernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufge­rissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausge­spannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangen­heit zugewendet. Wo eine Kette von Begeben­heiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammen­fügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhalt­sam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmer­haufen vor ihm zum Himmel wächst. Das was wir den Fort­schritt nennen, ist dieser Sturm.«
Das Weiter­getrieben­werden ist das Schicksal des Flaneurs. Was uns bei all dieser Idee des Angelus Novus als Flaneur­figur auffällt, und darauf verweist Benjamin nicht, ist, dass der Engel zur Seite schaut. Was glaubst du, wohin er schaut?
Der Engel schaut zur Seite – das ist eine sehr schöne Beobach­tung. Ich bin mit dem Text, wie ihr vorhin schon gehört habt, sehr vertraut. Das Wichtige an dem Text ist der letzte Satz: »Das, was wir den Fort­schritt nennen, ist dieser Sturm.« Dieser letzte Satz ist ein sehr Benjaminischer Move. [wir schauen gemeinsam das Bild Paul Klees auf dem iPad an] Das ist interessant. Er schaut zur Seite. Hier, bei seinem rechten Auge ist nicht klar, worauf genau es gerichtet ist. Diese Kraft, dieser Sturm, von dem wir sprechen, diese Unaus­weich­lichkeit – all das ist irgendwie in dieser Haltung zu sehen. Es ist ein Abwenden von den Trümmern, über die Benjamin spricht, von dieser Katas­trophe. »Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen.« Dieser Moment ist doch das Entschei­dende beim Engel. Er möchte verweilen, er möchte die Toten wecken und das alles zusammen­fügen. Diese Möglich­keit aber ist ihm genommen. Eigentlich gibt es da einen Teil der Imagination des Engels, die das, was ihm verwehrt bleibt, nicht einfach abschüttelt. Er ist nicht in einer Situation, in der er sich mit dem Verwehrt­bleiben abfindet. Diese Flügel wirken zugleich wie erhobene Hände, wie eine Kapitulation vor der Unaus­weich­lichkeit, von der Benjamin spricht. Die eigentliche urgency entsteht in dem Moment, in dem klar ist: Er möchte verweilen, er möchte die Toten erwecken, aber es ist nicht möglich. So behält es immer noch die ursprüngliche Intention.
Und dann kommt der Sturm ins Spiel, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Mein Eindruck ist, dass vieles von dem, was beschrieben ist in den Trümmern und so weiter – dass vieles in diesen aufge­sammelten Fragmenten, die er zusammen­fügt, eigentlich in seiner Imagination statt­findet. Es ist ja ein sehr verkopftes Wesen; der Kopf ist schlüssiger­weise auch sehr viel größter dargestellt als der Körper. Und der Blick des Engels: Ich habe nicht den Eindruck, dass er auf irgend­etwas fokussiert ist. Mein Eindruck ist eher, dass er eine Hilflosig­keit ausdrückt. Das eine Auge schaut zur Seite, das andere ist irgendwo dem Sturm ausge­setzt. Vieles von dem, was er aufsammelt, die Idee von diesen Trümmern, das erscheint mir als Teil der Fiktion dieses Engels. Es gibt ja keinen Moment, in dem irgendeine Form von Ver­weilen und Zusammen­fügen stattfindet. Aber es gibt trotzdem diese Motivation und ein Arrangieren und Collagieren in der Imagination. Benjamins Um­gang mit der Geschichte selbst, speziell in seinem Schreiben, ist ja den Bildern dieses Auf­sammelns der Dinge und des Zusammen­fügens des Zer­schlagenen sehr verwandt. Ich habe bislang noch nie auf die Augen geachtet (betrachtet das Bild genauer).
Dieser Text ist sehr zentral. Ich arbeite oft mit ihm. Vielleicht steckt in diesem Satz auch etwas Konstruktives: »Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken, das Zer­schla­gene zusammen­fügen.« Trotzdem schreiben, obwohl man weiß, dass das Zusammen­fügen unmöglich bleibt. Ich hab ja, als wir bei den Stolper­steinen standen, gesagt, dass die Frage besteht, was ein Text schaffen kann und dass am Ende immer Ernüchterung bleibt. Denn all das, das Verweilen, das Wecken der Toten, das Zusammen­fügen ist nicht möglich – und bietet trotzdem einen Anlass zum Schreiben. So würde ich auch Benjamins Arbeit verstehen. Es besteht die Einsicht in die Trümmer der Geschichte und wir versuchen uns dennoch. Wir wenden uns zu. Darin besteht auch meine Arbeit.

Wir sprachen mit Fabian Saul im Berliner November 2018. Wir haben das Gespräch fortgesetzt.

Produktion: Simon Böhm, Victoria Pöhls und Ole Burgemann
Fotografien: Holm-Uwe Burgemann

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#2 Fabian Saul
Kapitel I–III
I Außen im Innen (Goodbye to Berlin)
II Innen im Außen (The Shutter Open)
III Versöhnung

»Das Nervenende der Straße heißt ›Bar‹, man verweilt hier nicht, man stößt sich ab, von innen betreibt man allezeit seine äußeren Geschäfte, mit der Straße hat man immerzu zu schaffen. Darum hat die Bar drei Sinnesorgane: den Spiegel, der das Innen doppelt, das Fenster, das das Außen spiegelt, das Telephon, das die Entfernung hereinholt.« Roger Willemsen, »Die Bar als Lebensgefühl« in Insa Wilke (Hg.), Ein leidenschaftlicher Zeitgenosse. Zum Werk von Roger Willemsen (Fischer 2015)

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