Was steht in den Schulbüchern am Anfang des 22. Jahrhunderts? Und warum glaubt Insa Wilke, dass es die Geschichten von Joshua Groß sein werden? Das fragen wir uns, während wir an jenem Morgen unseres Gesprächs die ersten mitteldeutschen Tannenwälder passieren. Die zurückliegende Moderne, hören wir Insa sagen, und ihre Stimme knistert aus den schmalen Handylautsprechern, habe drei große Umbrüche gekannt, die ihre Namen hatten: Freud, Ford, Marx. Dann spricht sie von Joshua.
Unser Gespräch mit dem Schriftsteller Joshua Groß beginnt weit vorher. Ehe wir von den Schulbüchern hörten und später durch die Eisfelder südlich von Göttingen gingen. Seine langen, sprühenden Mails waren, wie alles, was Joshua schreibt, eine histoire en miniature, in der Haiyti, Handyweitwurf und der Skisprung-Simulator seiner Kindheit wichtiger sind als die klassischen Referenzen, und für die »Pop« nur eine schwache Beschreibung wäre. Joshua kommt nicht allein. Lisa Krusche, seine Partnerin, selbst Schriftstellerin, steigt ebenso aus dem Kleinbus, auf dem noch das Handwerkerlogo des Vorbesitzers klebt. Auch Lu ist mit von der Partie, der wir aus lauter Höflichkeit ebenfalls ein Sandwich mitbringen, die sich jedoch als Hund entpuppt. Der Tag wird nicht halten, was er versprach. Schon zur späten Mittagsstunde ist die Sonne verschwunden. Wir wollen den See dennoch abschreiten. In unseren Händen das Mikrofon, in Joshuas eine analoge Kamera und ein Film von 36 Bildern.
Wahrscheinlich sind es die Schulbücher selbst, einst nur autoritärer Staub, die den Blick auf den Schulbuchautor Joshua Groß verstellen. Denn während es einfach ist, gesellschaftliche Erfahrung, und wird sie auch nur von einem Einzelnen geschrieben, auf ihren Gegenwartsgehalt zu befragen, so ist es doch so viel schwieriger und mühsamer auszuloten, inwiefern sie vorausweist, was gewesen sein wird, und wer wir waren.
Wollen wir so rum laufen oder wollen wir so rum laufen? Wir können auch so rum laufen.
Warst du eigentlich in deiner Jugend hin und wieder in Baggerseen schwimmen?
Nein, glaube ich nicht. Warum mir der hier sympathisch war, als ich nach einem Treffpunkt gesucht habe: Im Sommer waren Lisa, Lucy und ich bei Hildesheim an einem Baggersee. Und als ich den Wikipedia-Artikel gelesen habe, erinnerte mich das daran, weil wir morgens an diesen Baggersee gefahren sind, und da waren wir schwimmen, relativ alleine. Wir waren ein paar Stunden dort. Und als wir zurück sind, waren schon die Kieswege – so wie hier – allesamt zugestanden, überall waren Autos geparkt. Es war wohl ähnlich wie hier, dass der See eigentlich von Bewohnern gekapert wurde, als Naherholungsgebiet. Aber die Betreiber und örtlichen Instanzen sind dagegen vorgegangen. Das war ein ziemlich schöner Tag. Es war irgendwie absurd: Wir lagen da in dieser ziemlich abgeschiedenen, von Schilf umgebenen Minibucht, am Horizont ein Hügel mit eben dieser Burg drauf. Auf der anderen Seite eine Zucker-Raffinerie. Ganz viele Windräder. Irgendwie war das mystisch und da ist mir diese Goldaugenbremse auf den Arm geflogen, über die ich dann geschrieben hab. Die so seltsam aussieht.
Ich weiß auch, dass ich diese Kies- und Sandförderanlagen als Setting immer richtig cool fand. Und als ich meinen Führerschein hatte, sind Chris und ich manchmal mit dem Auto meiner Eltern durch die Gegend gefahren, so um Altdorf rum. Bei Nürnberg liegt der Reichswald, der fast die ganze Stadt umringt. Ein alter Kunstforst, ein künstlich aufgebauter Wald, und darin, weil der Boden so sandig ist, gibt es viele Sandgruben, Dünen und Förderanlagen. Und da sind wir manchmal abends oder nachts rein. Das war immer beeindruckend.
Weißt du, warum Baggerseen so gefährlich sind?
Nein. Weißt du das?
Es kann passieren, dass, wenn man die Böschung mit parkenden Autos zu sehr belastet, diese plötzlich abbricht. Unter dem Ufer – gewissermaßen subkutan – rutscht der Kies einfach weg.
Und dann wird man treibsandmäßig eingesaugt.
Man rutscht ab in den feinen Kies, gemischt mit dem schlammigen Wasser.
Und die Person, die abrutscht, stirbt?
Insgesamt sind fünf Personen an diesem Baggersee gestorben. Keine davon ist ertrunken. Zwei Suizide, noch in den 70er Jahren, dann ein Hitzschlag, und ein plötzlicher Herztod. Den fünften erinnere ich nicht. Das Motiv dieses Baggersees ist jedenfalls, dass einem etwas schlagartig entgleiten kann. Die Böschung bricht plötzlich ab. Jedoch nicht, weil sie instabil wäre. Es ist der Unterboden. Das macht die Sache tückisch. Ist das nicht auch ein Gegenwartsgefühl?
Mir fällt jetzt sofort diese Takeshi’s Castle-Challenge ein, über die ich {geschrieben: Ich erinnere mich auch, dass ich bei Takeshi’s Castle vom Drachensee irritiert war, weil es dabei so schwer schien, den Zufall auszutricksen. […] Obwohl es mir immerzu möglich war, mich criminal minded durch die Stadt zu bewegen, gab es in mir ein stockendes Verlangen, all dem zu entkommen, weil ich mich nicht sicher fühlte, weil ich spürte, dass ich mir alles, was mir grundlegenden Freiraum bieten würde, selbst erschaffen musste, mit allen Schritten immer wieder gegen die Abgründe, und mit allen Schritte auf die Abgründe zu, die lauerten, wo ich entlangging. Ich weiß, dass dieses Gefühl höchstwahrscheinlich aus mir heraus entstand, aber es entstand auch im Austausch mit dieser Stadt, die ein oft psychopathisches Verhältnis zu sich selbst hat. Nie konnte ich ahnen, welche Steine locker waren, immer mischte sich Verzweiflung in den Fun. Aber oft war es so, dass wir, meine Freunde und ich, es schafften, fast schon über den brüchigen Boden selbst zu rennen, und dabei brach etwas in unseren Brustkörben auf, etwas, wodurch es uns möglich wurde, der Zurückhaltung zu entkommen. (»Nürnberg, warum machst du diese?«, Entkommen) } hab. Mit den Skipping Stones, wo man von einem Ufer zum anderen über diesen See laufen musste: Verschiedene Steine, ich glaube 25, ragen aus dem See, fünf davon sind aber nur lose Attrappen. Spekulieren und Glück haben muss man dann. Eine wahnsinnig spannende Metapher für ein gegenwärtiges Leben, von dem man nicht weiß, was vom Grund her fest ist und wo das Ganze in sich zusammensacken könnte. Nur, dass da natürlich der Spielaufbau klar vorgegeben ist. Wenn man an der Böschung parkt und die abkippt, ist man ganz anders am Arsch. Aber okay. Eigentlich weiß man mit Blick auf die Gegenwart, dass unter der Böschung der Boden einsinkt. Das ist ja eigentlich das Schlimme – wobei – doch, das Schlimme. Wir wissen es. Und dann parkt man halt trotzdem – sozusagen.
Ich hab Takeshi’s Castle nach der Schule im Nachmittagsfernsehen geschaut, auf Pro Sieben.
Ich durfte ja eigentlich gar kein Fernsehen schauen. Nur Die Sendung mit der Maus mit meiner kleinen Schwester zusammen und, manchmal, Fußballspiele. Die Sportschau und wichtigere Fußballspiele. Was meine Mutter eben als wichtigere eingestuft hat, Länderspiele, Champions League manchmal, wenn Bayern München gespielt hat. Aber dann auch immer nur die erste Halbzeit. Solche Sachen wie Takeshi’s Castle konnte ich immer nur schauen, wenn ich bei meiner Oma war. Bei der war ich manchmal nach der Schule. Oder in den Ferien oder an den Wochenenden, wenn ich mal bei ihr übernachtet hab. Sie hatte ein Fernsehzimmer.
Bei der einen Oma haben wir Aquarelle gemalt zusammen. Sie hatte damals einen VHS-Kurs belegt. Ich hab das auch voll gerne gemacht. Hab aber sehr schnell gemalt, weil ich dann schon runter durfte zum Fernsehen. So um 16 oder 17 Uhr kam Takeshi’s Castle. Da wurde ich dann meistens schon wieder abgeholt. Vieles kenne ich also nur in Auszügen.
Was hat bei deinen Eltern den Fußball legitimiert?
Ich war halt voll der Fußball-Nerd. Mit fünf oder mit sechs hab ich angefangen, mich für Fußball zu interessieren und war hardcore. Vielleicht hatte es mein Vater angeguckt und ich wollte es auch anschauen. Und hab’s mir erbeten. Meine Mutter – ich weiß nicht, ob man sagen kann, sie wäre rigoros gewesen. Nicht hartherzig. Aber rigoros, ja.
Dieses Prinzip der Skipping Stones durchzog die ganze Sendung. Man tritt gegen einen Mechanismus an, gegen den man nur verlieren kann, weil die eigenen Fähigkeiten ab einem gewissen Punkt irrelevant sind.
Na ja! Das Geile daran ist ja, dass sie es entwickelt haben, nachdem die ersten Computerspiele auf den Markt kamen, die ganzen Jump and Run-Spiele, wo du von links nach rechts läufst und dir immer wieder Hindernisse im Weg stehen, du aber auch immer wieder anlaufen kannst. In der Sendung natürlich nicht. Ich mag das schon richtig gerne, dass die kapiert haben, wie gut es geht, so ein Spielprinzip wieder zurück in die Welt zu holen. So ein Jump and Run-Prinzip. Und dann bauen die diese fette Anlage. Ich schätz mal, dass pro Folge so 200 bis 300 Menschen gestartet sind und von Challenge zu Challenge hat sich das dann ausgesiebt, bis am Schluss zwischen zehn und 30 übrig waren, die diesen Endkampf gegen den Burgherrn gespielt haben. Ich hab nie gesehen, dass die gewonnen haben. Aber gelesen hab ich’s, dass es ein paar Mal passiert sei.
Du sagst also, man holt das Spiel in die Welt – und die Menschen, die zusehen, damit aus der Welt. Oder ist das letztlich doch nur Unterhaltung?
Es ist einfach Sport. Man testet sich. Auf eine epischere Weise. Nicht nur mit Ball und Tor. Eine künstliche Landschaft, wo Sachen, die natürlich programmierbar für den Gameboy sind, vorkommen, der Drachensee mit den Skipping Stones, Beschossenwerden mit Kugeln auf der Hängebrücke. Das sind so Fantastereien. Was voll Kindliches ist da mit dabei. Wo man als Kind über was drüberbalanciert und man sich dazu vorstellt, dass Krokodile drunter lauern und solche Sachen. Die ganze Imagination wird da gebaut, ins Leben geholt. Es ist einfach nicht nur im eigenen Kopf.
Das gibt es doch in Inherent Vice von Thomas Pynchon, wo der eine Typ mal sagt, dass er in einer richtig großen Scheiße drinsteckt. Owen Wilson spielt die Figur im Film. Irgendwann sagt er dann einfach so: »Als ich als Spitzel anfing, da fiel mir auf, wie oft mir Leute Fragen stellen, auf die sie die Antwort schon kennen, weißt du? Sie wollen sie nur mit einer anderen Stimme hören, einer, die nicht in ihrem Kopf ist.« Als ob es dadurch eine andere Form von Wirklichkeit, von Manifestation erhielte. Es muss immens Bock gemacht haben, sich dieses Setting von Takeshi’s Castle ausgedacht zu haben und das als Filmset umzusetzen. Habt ihr American Gladiators mal gesehen, wo zwei Teams gegeneinander die Wände hochkraxeln? Das sind auch Geschicklichkeitsspiele auf Zeit.
So wie das auch Feuerwehren machen, die gegeneinander antreten. Da werden Parcours gebaut und Hindernisse simuliert.
Genau. Ich hätte großen Bock, mal bei Takeshi’s Castle mitzumachen. Aber nicht im Fernsehen. Ich würde gern mal auf so ne Landschaft selbst Zugriff haben. Sich selbst austesten, ähnlich wie in manchem Sport. Kann man tausend Jahre drüber nachdenken, was das mit der Welt macht. Diesen Bereich abzustecken, zu verkleinern, sodass andere existentielle Erfahrungen möglich werden, vermengt mit Imagination. Dann bricht wieder alles auf, ist alles da, was in den anderen auch da ist. Aber in einer abgesteckten Umgebung.
Das schreibt er, weil es als Kind nicht notwendig war, ein eigenes Castle außerhalb der Welt zu haben, weil das, was im Kopf war, schon immer auch außerhalb des Kopfes war. Du schriebstkürzlich selber davon: Wie du dir von deinem Opa eine »Silberbüchse« hast machen lassen, selbst einer der Apachen warst, durch den Wald geschlichen bist, obwohl es für andere keinen Grund gab. Aber für dich, und genau darin lag wohl der Zweck.
Ja, das stimmt. Ich glaube, das stammt von Baudelaire. Auf Englisch heißt es ungefähr so: Genius is childhood at will. Oder sowas in der Art. Und Picasso – ich glaube, er war das, der gesagt hat, dass er sein ganzes Leben lang gebraucht hat, um wieder wie ein Kind malen zu können. Das find ich eigentlich noch viel schöner, weil ich das Gefühl hab, dass es möglich ist, sich dahin zurückzuarbeiten. Wirklich zu arbeiten. Dass man da wirklich hinkommen kann.
Wie es in der Kunst eine skilled, später eine unskilled oder deskilled art gibt. Eine Kunst, die nicht mehr von Fähigkeiten herkömmlicher Art Gebraucht macht, weil die Abbildung der Welt schwieriger geworden ist. Nun gibt es andersherum – nicht nur von der Welt ins Medium – auch eine Rückübersetzung: von den Medien in die Welt. Was passiert dann mit dieser Welt?
Es gibt ja auch sowas wie Post-Internet-Art. Diese Movements in der jüngeren Kunstgeschichte, wo in den Neunziger Jahren allmählich die Computer weiter verbreitet waren. Und Künstler:innen, die weg vom Kunstmarkt wollten, sich in einer anderen Sphäre verwirklichen konnten. Sie mussten realisieren, dass es weder Markt noch Publikum dafür gab. In der Post-Internet-Art wurden dann Ästhetiken erneut materialisiert, ausstellbar und damit käuflich.
Ich glaube, da ist – blöd gesagt – noch ein wenig mehr in der Welt. Ich frage mich, ob die Herkunft von Dingen, nur weil sie erfunden wurden, eine Rolle spielt. Könnte man sich bei einem Film ja genauso fragen. Jemand hat eine Idee für ein außerirdisches Wesen, für eine Architektur, die dann als Set umgesetzt wird, teilweise oder vollständig. Die ist dann eben einfach da. Ich frage mich wirklich, ob es eine Notwendigkeit an anderen Dingen oder Bildern gibt, die irgendwas in der Welt als … – ach, ich finde das schwierig, das so hierarchisierend zu sagen, als wäre dieses oder jenes tiefer in der Welt verborgen und damit hervorhebbar, materiell. Ich glaube einfach, dass da am Ende noch mehr Dinge da sind. Breite, keine Tiefe.
Kies ist auch nur Sand, after all?
Nein! Kies ist Kies und Sand ist Sand!
Aber ist das wichtig?
Ja, auf jeden Fall. Wie soll ich sagen? Für mich ist es wichtig, dass Kies Kies ist und Sand Sand. Vielleicht ist Sand ja auch nur jahrhundertelang abgeschmirgelter Kies. Aber trotzdem ist es in diesem Zustand Kies, das ist mir schon wichtig. Ich könnte aber nicht, will nicht bewerten, ob Kies wichtiger ist als Sand. Oder umgekehrt. Dass das eine vor dem anderen da war oder aus dem anderen entstand. Vielleicht mag aus dem Kies, wenn er sich selbst überlassen oder irgendwelchen Gezeitenkräften ausgesetzt wird, in ein paar tausend Jahren etwas anderes geworden sein, aus der Kiesgrube eine Sandgrube. Dann ist es eben so.
Ist nicht der Unterschied zwischen dem Internet einerseits und der Welt außerhalb nicht selber artifiziell?
Da hab ich in den letzten Wochen viel drüber nachgedacht. Und je länger ich das tue, umso weniger kann ich das beantworten. Weil ich auch leider zu wenig von so etwas wie Wahrnehmungsphilosophie weiß, oder von der Philosophiegeschichte im Allgemeinen. Was die Welt ist und was das Imaginäre – materiell, substanziell. Was da einen Unterschied macht. Ich finde das so schwer, auf Sachen zuzugreifen, die so außerhalb von mir liegen, wo es schon schwer genug ist, auf Sachen zuzugreifen, die innerhalb von mir liegen. Das so einzustufen in Wertungsverhältnisse. Internet künstlicher als die Welt? Das gesteh ich mir einfach nicht zu, hier zu werten.
Ist das nicht einfach konservativ, das zu glauben?
Wäre ich firm in der Philosophiegeschichte, dann wäre es vielleicht immer noch anmaßend, aber ich würde mir ein Urteil zutrauen. So kann ich immer nur drüber nachdenken. Okay – die Welt ist ein Ort. Und das Internet hab ich eigentlich auch voll lang als Ort betrachtet. Und zurzeit nervt mich das, das Internet als Ort zu denken. Vielleicht ist das immer noch so. Für viele ganz sicher. Aber mir wärs grade lieber, es mehr als Instrument zu sehen. Die Welt kann man nicht als Instrument sehen. Weißt du, was ich meine? Das Internet kann man sich in irgendeiner Form zunutze machen, ich kann mich darin aufhalten, kann wählen. In der Welt kann ich mich nur aufhalten. Wenn das Sinn macht. Sollen wir zu diesen Gänsen dort gehen?
Ich finde das eigentlich voll lächerlich. Und versuche, mich nicht allzu sehr damit zu befassen. Denn jedes Mal, wenn ich das tue … Können wir hier lang, kommt da noch was? Wir können es ja einfach mal versuchen.
Ja, das ist ein wenig angenehmer da drüben.
Schrittgeräusche auf jungem Gras, auf Schnee, auf Matsch. Der Wind raschelt in die Aufnahme. Lu hechelt. Das Gespräch ruht für eine Weile.
Du sagtest gerade, du fändest das »eigentlich voll lächerlich«.
Ich ärger mich auch total, dass ich das lächerlich finde, weil ich mich da gar nicht so reinknien will. Ich finde das einfach brutalst langweilig. Menschen, die sich mit Literatur befassen. Ach, ich will eigentlich gar nicht über die anderen Menschen sprechen.
Wenn ich mich mit Literatur befasse, dann ist doch jegliche Form von Literatur, jegliches Schreiben, – egal, wie materialistisch es sich gibt – irgendwie per se künstlich. Ich bau einen Plot, hab eine Dramaturgie, wähle eine Form, entwickle eine Sprache. Ich mach ja keine Jazz-Improvisationen, wo ich mit meinem Instrument verschmelzend auf der Bühne stehe und es wird live aufgenommen. Dann wird es ins Internet gestellt und ich hab keinen Zugriff mehr darauf, was ich gespielt habe. So ist es ja nicht. Ich schreib ja einen Text, kann mich hinterher entscheiden, ob ich den so lasse, wie er ist, oder ob ich den überhaupt veröffentlichen will oder nochmal neu ansetze. Ist ja nicht so, als ob ich wie ein Gestörter zweihundert Seiten Roman schreibe, der dann auf einmal veröffentlicht ist. Es ist ein komplett künstlicher Vorgang. Was würdet ihr denn sagen, woher das kommt mit dem Künstlichen?
Insa Wilke hatte beim Bachmann-Preis von den großen Umbrüchen in der Geschichte gesprochen, zu denen auch die digitale Revolution gehört, eine Revolution, die ebenso mit Namen verbunden werden wird, wie andere Revolutionen mit den Namen Marx, Freud, Ford. Und wenn der Umbruch in einer neuen Sprache liegt, betrifft das die Autor:innen. Dieses Neue erscheint artifiziell. Die Ebene beginnt zu wackeln. Die einstigen Unterscheidungen werden fragwürdig.
Ich finde das seltsam. Natürlich wird jeder Mensch die Welt auf seine eigene Weise wahrnehmen. Ich verstehe das nicht. Wenn ich mich wahrnehme, wenn ich schreibe, denke, dann bin ich ja fernab von jeglicher Konsistenz oder Kohärenz. Aber im Schreiben versuche ich ja schon, etwas Kohärentes herzustellen, Dinge zu filtern, auszuwählen, sodass all das den Inhalten, Formen und Atmosphären entspricht, sodass es dann in einem künstlichen Sinne dann zusammengehört. Vielleicht kommt's ja daher. Ich versuche durchaus, mit den Instrumenten, die mir zur Verfügung stehen, die immer beschränkt sind übrigens, dieses Lebensgefühl, das ich habe, wie sich die Welt für mich anfühlt, zu vermitteln. Das ist das Schwerste und Schönste am Schreiben: Was ich nicht in Sprache empfinde, was bröselig und brüchig ist, versprachlichen. Das eigene Gefühl ansatzweise, wenn nicht manchmal sogar umfassend mitzuteilen.
Aber zurück zum Künstlichen. Jetzt sehe ich hier vor mir diese Gänsefüße, da drüben die Pfützen, die so gletscherhaft zugewachsen sind. Irgendwas mit dem Wind, die Autobahn. Vorne laufen Lisa und du. Die Sonne ist auch irgendwie richtig geil hinter diesem weichen Wolkenmatsch. Dazu kommt dann noch, dass Lisa was von ihrem Vater erzählt, wir über Fußabdrücke sprechen. Alles ist gleichzeitig da, alles ist durcheinander. Egal, wie viel ich rausziehen kann, literarisch umsetzen, erzählen kann. Es muss ja künstlich sein. Wenn ich meinem Möglichkeitsempfinden, das schon weit über die sprachliche Fassbarkeit hinausreicht, eh schon mit Tricks begegnen, eine Fähigkeit entwickeln muss, um das spürbar zu machen. Um die Energie – mal blöd gesagt –, die ich hier spüre in diesem Moment, mitzuteilen. Jemand, der das liest, kann diese Atmosphäre auf ihre eigene Art spüren. Verstehen, wie es sich angefühlt hat, hier zu sein. Jetzt.
Vorhin habe ich gesagt, ich fände das lächerlich. Ich glaube, ich verstehe es einfach nicht, weil ich irgendwie nicht weiß, was Literatur denn anderes sein soll als genau dieses Künstliche.
Willst du mir kurz deine Kamera ausleihen, Joshua? – Wir können auch eine Gesprächspause machen.
Ich glaube, ich würde mehr da hinten fotografieren, bei dieser Förderanlage.
Wenn ich nochmal antworten darf auf deine Ausführungen zum Künstlichen …
… du kannst so viel dazu sagen, wie du möchtest! Weil ich ja selber keine Antworten hab.
Man könnte diese Wahrnehmung doch entschärfen, indem man sagte, es gäbe Realitäten auf verschiedenen Stufen. Die Kritiker:innen, die damals in Klagenfurt saßen, während du auf diesem Podest gesessen hast – eine beinahe mittelalterliche Form der öffentlichen Rede über jemanden, der als menschliche Plastik dort ausgestellt wird –, diese Leute stehen in ihrer Wahrnehmung einfach auf einer anderen Stufe. Auch der Surrealismus ist doch nichts anderes als die Vorstellung, dass es überhalb der Realität noch etwas anderes gibt. Und bei alledem ist das zunächst eine Fremdbeschreibung: Die da sind der Realität enthoben. Kommt nicht daher die Verwirrung?
Ja. Kann gut sein. Oder es ist halt so, dass die Vorstellung der Literatur doch eine andere ist. Dass ich mir etwas anderes davon verspreche. Ich kann es insofern nicht nachvollziehen, als dass ich selber oft überhaupt nicht denke, meine Texte wären unabgeschlossen oder wahnsinnig offen oder anti-narrativ oder sowas. Ich finde meine eigenen Texte eigentlich noch viel zu wenig abgefahren. Das könnte und sollte noch viel mehr sein. Mir fällt das schwer. Ich kann schlecht drüber sprechen. Ich möchte dann auch eine andere Literaturauffassung nicht schlecht machen oder abwerten. Aber wisst ihr: Wieso will man von Kunst immer das gleiche? Wieso immer die gleichen Muster bedient bekommen? Ich beschäftige mich mit Kunst, damit sich meine Wahrnehmung weitet, damit ich irgendwie Sachen spüre oder empfinde, die über das hinausgehen, wozu ich im Moment vielleicht fähig bin. Oder – ah, ich hab was!
Ich will etwas wahrnehmen, das über mich hinausgeht. Gut. Und jetzt fällt mir ein: Es gibt von César Aira einen Essay über Kunst in dem Buch Duchamp in Mexiko. Da schreibt er einmal über den Begriff, den sich die Welt – ich setze das jetzt bewusst in Gänsefüßchen – von »Kunst« gemacht hat. Der laut Aira irgendwann im 18. Jahrhundert entstanden sei. Aber ihm zufolge wäre da nicht eigentlich der Begriff Kunst entstanden, sondern der Begriff »Kunsthandwerk«. Das unterscheidet er voneinander. Was man bewerten kann als gute Kunst, sei darum gar keine Kunst, weil es sich dann immer schon zum Zeitpunkt der Bewertung im Kanonischen befinden müsse, schon erschlossen wäre. Wenn es innerhalb dessen mit dem Instrumentarium, das bekannt ist und gelehrt wurde, auf eine kunstfertige Weise arbeitet, Arrangements trifft oder Sachen, im literarischen Sinn, erzählt, dann kann man davon sprechen, dass es im kunsthandwerklichen Sinne gut gemacht ist. Das schließt an das an, was du vorhin gesagt hast, dass es eher um die Fähigkeit geht. Kunst ist also eigentlich dann Kunst, wenn sie einen neuen Kunstbegriff mitliefert oder entwickelt.
Wenn sie über das, was besteht, was gesichert ist, worin man sich auskennt, was also der Bewertbarkeit zugänglich ist, hinausgeht. Daran lässt sie Kunst erkennen. Das weitet das Wirklichkeitsempfinden und die Weltvorstellung. Damit kann ich agieren. Wenn in einem solchen kunsthandwerklichen Sinne dieses oder jenes gern gelesen oder gesehen wird – dann kann man auch kritisieren, ohne sich selbst implizieren zu müssen. Ich kann einfach sagen: Unter den Bedingungen, die ich kenne, ist das gut gemacht oder eben nicht. Das Instrumentarium lässt sich ganz einfach anwenden.
Wo laufen wir jetzt lang?
Wir suchen den Horizont nach unserem ungefähren Startpunkt ab. Eigentlich wollten wir den See nur umrunden.
Wir haben stillschweigend vorausgesetzt – und das sagt auch etwas über unser implizites Kulturverständnis aus –, dass das Label des Artifiziellen ein Angriff ist. Es könnte sich dabei auch um eine völlig neuartige Form des Kompliments an deine Literatur handeln.
Ha, ja. Ich denke einfach gern. Mich in die Lage zu versetzen, neue Wege zu finden, wo mehr möglich wird, als was schon da war und wenn man es schafft, nicht so sehr in diesem Festgesackten zu verharren – was wir hier jetzt eigentlich auch so praktizieren. Ich frage mich immer, ob Lob oder Kritik, ob eins von beiden was hilft. Im ökonomischen Sinne hilft Lob vielleicht mehr als Kritik. Auch, um Reichweiten zu erhöhen. Aber was hilft es der Sache?
Ich find’s ja auch schön, wenn andere Leute von meinen Texten berührt oder überrascht sind. Klar.
Was professionelle Kritiker:innen angeht: Das ist deren Job, das haben sie sich ausgesucht. Vielleicht braucht es dafür eine gewisse Kühle, eine analytische Distanz. Aber: Was bringt mir Lob und Kritik, wenn es sich über das stellt, was ich tue, und sagt, das wäre toll und das andere eben nicht.
»Dabei ist die Wahrheit ganz einfach: Wir haben alles der Sonne und ihrer Energie zu verdanken. Wir sind wunderbarer Ausdruck der Macht des Universums. Wir sind die Fingerspitzen der Kraft, die die Sterne antreibt, also tut gefälligst, wozu ihr da seid, und FÜHLT«, schreibt Tanya Tagaq. Als uns Joshua dieses Gespräch nach der Durchsicht zurückschickt, steht sie an dieser Stelle.
Jede Kritik hat das Problem, dass sie anschreiben, ansprechen muss gegen ein Paradox: das Paradox der normalen Perzeption. Wenn es wirklich Kunst ist, dann kommt das gerechte Urteil für sie immer zu spät. Die Maßstäbe des Urteilens über diese Kunst haben vor ihr nicht existiert. Die Kritiker:innen beginnen damit, Texte zu lesen und können sie nur richtig lesen, wenn sie deinen Text als einen Lehrkörper begreifen.
Ach, ich weiß nicht, lehren – das würde ich auf mich nicht beziehen wollen, dass ich den Anspruch habe, hier etwas zu lehren. Irgendwas spüren, ja. Mir ist aber natürlich auch klar, dass das nicht das Ansinnen einer Kritiker:in ist. Ich lese auch gar nicht viele Literaturkritiken. Kann so viel darüber nicht sagen. Aber je länger man lebt, finde ich, desto mehr kapiert man, wie wenig man weiß. Wie mystisch das Leben als solches ist und dass es voll tragisch ist, dass man einiges davon, das meiste sogar, nie wissen wird, nie so wissen wird, wie man es wollen würde. So umfassend, wie ich das wünschte. Dann kommt es mir in diesem Kontext einfach absurd vor, dass sich jemand in die Lage begibt, von einer ganz anderen Ebene aus eben runter zu gucken und zu sagen: »Das goutiere ich und das nicht.« – Wobei, stopp! Das stimmt nicht. Wenn das so gesagt würde, würde sich die Kritiker:in ja mit hineindenken. Es ist ja diese Pseudo-Objektivität à la »Beim nächsten Mal sollte er hier an dieser einen Stelle noch länger an diesem und jenem arbeiten« oder »Das hier ist nicht gelungen«. Dieser Gestus als solcher macht mich eigentlich schon perplex.
Ich möchte nochmal zurückkommen auf den Satz von dir, dass du mit Kritik und Lob wenig anfangen kannst, dass es dir mehr um das Denken geht. Das ist ein Gestus, den ich mit deiner Literatur verbinde. Und auch jetzt gerade mit unserem Gespräch. Wir suchen im Dunkeln. Nach etwas, das wir noch nicht kennen. An einer Stelle sagtest du dann: »Ah, jetzt hab ich was!« Du hattest irgendwas gefunden, ein Argument, eine Referenz. Ganz unprätentiös. Interessiert.
Eigentlich ist es gar nicht unprätentiös. Ich finde, dass es das Anzustrebende ist. Ich kenne vom Schreiben, dass ich mir etwas vornehme, was zu verbinden dann interessant sein könnte. Ich weiß ein Bild, denke mir drumherum einen Plot aus, Figuren, damit ich dann dorthin komme zu diesem Bild. Damit ich das Bild, von diesem Bild erzählen kann. Manchmal ist das voll vage, manchmal weiß ich es schon sehr genau. Und dann gibt es diese äußeren Anordnungen, künstlich wie Takeshi’s Castle, davor abgesteckt; ein Feld, in dem bestimmte Regeln, Theoreme und Gedanken wirksam sind. Und dann finde ich Schreiben einfach mühsam. Ich hab mir vorgenommen, das nicht mehr so negativ zu sagen. Aber ich fand es mühsam und auch belastend, mich zu diesen Dingen hinschreiben zu müssen. Mittlerweile merke ich aber auch, dass auf einmal etwas beim Schreiben passieren kann, das man verpasst hätte, wäre man nicht an diesen Punkt gelangt, hätte man nicht angefangen zu reden, zu sprechen. Irgendwann löst sich etwas heraus, manifestiert sich, materialisiert sich, wird greifbar oder habbar. Dann passiert was Interessantes. Wofür sich vieles, das nervig ist, lohnt. Vieles, was einfach Arbeit ist. Ist das deswegen unprätentiös? Das ist vielleicht einfach das Ziel.
Ein langgezogener Ruf bricht durch das Gespräch. Lisa ruft Lu hinterher, irgendwo im Feldgraben hat sie etwas aufgescheucht. Joshua setzt zum Pfiff an. Einmal lang, zweimal kurz.
Jetzt hab ich vielleicht gerade komplett euer Mikro gesprengt.
Das war Teil des Plans.
Es gibt eine Stelle in Rayuela von Julio Cortázar, wo Oliveira in Buenos Aires in seiner Wohnung sitzt und immer so vor sich hin pfeift. Und plötzlich regt er sich darüber auf, dass in der Literatur so wenige Autorinnen und Autoren ihre Figuren pfeifen lassen. Dann beschreibt er vollumfänglich diesen Pfiff, wie er den so aus seinem Mund heraus in die Welt bringt.
Was auch kein unvertrautes Motiv für dich ist: über das Pfeifen zu schreiben.
Deswegen hab ich es wahrscheinlich gemacht, stimmt.
Ich bekomme das Bild nicht aus dem Kopf, wo die Figur, das heißt: es hätte auch ein Mensch sein können, in einem Flugzeug sitzt, pfeift, und nach dem Flug fragt: »Hab ich gepfiffen?« und die Frau sagt: »Permanent.« Die Person hat sich mit dem Pfeifen besänftigt.
Ja! Bestimmt hab ich das geschrieben in Anlehnung an diese Passage von Cortázar.
Wir überspringen den Feldgraben. Joshua und Lisa geben dem Spaziergang stellvertrend für Lu 11 von 10 Experience-Points. Schnee, Hasen, Gänse, ein aufgescheuchter Fuchs, alles da. Währenddessen sondiert die Gruppe die Schuhsituation. Lisa erkundigt sich, ob sich irgendwer die Schuhe imprägniert habe. Holm scherzt, dass das bei Reeboks gar nicht erlaubt wäre. Alle freuen sich jetzt auf ein späteres Lagerfeuer.
Neben uns läuft ansonsten auch niemand entlang. Keine Spuren. Diese Brücke hier muss auch uralt sein. Steine, die sich zu beiden Seiten abstützen. Darunter jetzt ein Feuer machen!
Ich hab auch gelesen, was der andere Vorteil von Kies in diesem See ist. Weil das hier alles Kies ist, dringt das Wasser vom benachbarten Bach zum See durch und umgekehrt; so bleibt der Pegel immer gleich, unabhängig von den Wetterverhältnissen. Deshalb dürfen hier übrigens auch keine Zäune gebaut werden.
Weil sie sonst den Mechanismus unterbrechen würden. Verstehe.
Mir ist noch was zu Kies eingefallen: Es gibt in irgendeinem Roman von Boris Vian eine Art Zwischenkapitel. Der ganze Roman spielt in der Wüste und genau aus dem Grund, weil eine Eisenbahngesellschaft da eine Strecke durchbauen will. Mitten in der Wüste liegt ein Restaurant. Die Strecke soll genau am Restaurant vorbeiführen. Und dann schickt Vian also gut zehn Personen in die Wüste, die allesamt an diesem Bau beteiligt sind. Wie eine ganze Gesellschaft im Kleinen, wie ein Versuchsaufbau. Und in dem einen Zwischenkapitel – ich krieg’s nicht mehr genau hin –, aber da sagt er sowas über Kies. Es geht um die Frage, wie man Löwen aus der Wüste bekommt. Und dann heißt es: »Man muss die Wüste einfach sieben. Dann bleiben ein paar große Kieselsteine zurück. Und die Löwen.« Oder so was in der Art.
Und du meinst, das wird auch hier grad mit dem Kies gemacht – und wir sind die Löwen?
(alle lachen) Nee, nee.
Joshua meint, dass seine Literatur als ein einziges, riesiges Sieb zu verstehen sei.
(Joshua ist geradezu begeistert.) Also das ist geil! Lu hasst es so sehr, über diese vergitterten Luftschächte in der Innenstadt zu laufen. Lu kann da nicht drüber gehen. Sie zwängt sich dann immer außen vorbei, damit ihre Pfoten nicht auf die Gitter kommen. Letztens sind wir an einem Kanal vorbeigekommen und wollten drüber, weil auf der anderen Seite die Sonne schien. Da führte eine ganz alte Brücke hinüber, eine Eisenbahnbrücke, komplett aus Eisen. Die hatte an der Seite so einen kleinen schmalen Fußweg. Für Lu die Hölle. Ein Luftschachtgitter neben dem andern. Und sowohl Lisa als auch ich haben ja Höhenangst. Und dann sind wir da zu dritt in dreißig Metern Höhe über diesen Kanal gewankt. So wär das ungefähr, wenn Literatur ein Sieb wäre. Also, wenn man Höhenangst hat und es unterhalb des Siebs noch eine Höhe gibt. Oder eine Tiefe.
Wollen wir hier noch das Portrait von dir machen, Joshua, mit der rostroten Förderanlage?
Als wir diesen Ausflug begonnen haben, der mir so entschieden vorkommt, habe ich an Werner Herzog denken müssen. Der ja, als er hörte, dass die Kritikerin Lotte Eisner (die Eisnerin) erkrankt war, mit ganzer Bestimmtheit sagte: Es durfte nicht sein und also ging ich los. Und er ging zu Fuß nach Paris.
Diese Eisfläche vor uns erinnert mich zugleich an den Text, den du uns vorab geschickt hast, der sich mit der Hoffnung beschäftigt hat, die man an die Kunst richten kann. Darin hattest du die Frage gestellt, wie Kunst den Dingen angemessen sein kann. Dort schreibst du:
Kunst, das könnte das Gegenteil einfacher Bilder sein. Es gibt diesen sympathischen und anrührenden Meltdown von Werner Herzog, aufgenommen von Wim Wenders, im Film Tokyo-Ga von 1985. Herzog befindet sich auf der Aussichtsplattform des Tokyo Towers und sinniert vehement über die Notwendigkeit adäquater Bilder. Unter anderem sagt er: „Man muss also wie ein Archäologe mit einem Spaten graben. Man muss eben schauen, dass man aus dieser beleidigten Landschaft heraus noch irgendetwas finden kann. Sehr oft natürlich ist das verbunden mit Risiken, und die würde ich nie scheuen, und ich sehe eben: Es sind so wenige Leute heute auf der Welt, die sich wirklich etwas trauen würden, für die Not, die wir haben, nämlich zu wenig adäquate Bilder zu haben. Wir brauchen ganz unbedingt Bilder, die mit unserem Zivilisationsstand und mit unserem inneren Allertiefsten übereinstimmen. [...] Und ich würde mich nie beklagen, dass es zum Beispiel manchmal schwierig ist.
Ist diese Suche nach Angemessenheit jene Qualität, um die es dir in deinen Texten geht?
Ich glaube, wenn die Welt in jeglicher Hinsicht ein so entzündeter Ort ist, dann braucht es halt schon irgendwelche Bilder, innere Bilder, nicht nur filmische, wo sich etwas anderes ausdrücken lässt, wo man unter diesen ganzen entzündeten Schichten – jetzt hab ich schon wieder »unter« gesagt –, wo man etwas hervorholt. Vielleicht holt man aber auch nicht unbedingt etwas hervor, sondern, Mark Fischer sagt das doch: präinkorporiert. Dass man schon so sehr verseucht und die eigene Wahrnehmung vorgestanzt ist. Dann muss man nicht tiefer graben, sondern darüber hinauskommen. Um anders wahrzunehmen. Ich glaube, darin liegt eine Richtigkeit. Ich wüsste nicht, wie es anders zu schaffen wäre, dass sich etwas verändert, wenn man nicht aus diesem Vorgefertigten hinauskommt. Vielleicht muss man sich dem Vorgefertigten auch so sehr aussetzen, es so sehr durchdringen und dekonstruieren, dass man da was freilegen kann. Das mag schon sein. Aber ich glaube nicht daran. Da muss eine Zersetzung stattfinden, eine Auflösung. Und trotzdem muss man noch wo anders hingehen. Wo man noch nicht ist.
Ich hab gleichzeitig den Eindruck, dass es überhaupt nirgendwo hinführt, wenn man noch gar keine Ahnung davon hat, wo man hinmöchte, was man sein möchte. Partiell etwas Neues sagen.
Präfiguratives?
Wie meinst du?
Es gibt ja diese Idee, dass sich im Rückblick sagen lässt: Bestimmte Dinge haben eine kommende Gegenwart vorausgewiesen. So wie Insa von dir begeistert ist, weil sie, glaube ich, diesen Eindruck hat. Das lässt sich nicht beweisen, weil Präfiguration sich im Moment nie beweisen lässt. Aber dieser Moment, er wird wichtig gewesen sein. Und weil er wichtig gewesen sein wird, und weil darin auch die Schwere des zukünftigen Faktischen liegt, ist es wichtig, das heute nicht zu übersehen, nicht zu vergessen.
In Walter Benjamins Text über das Kunstwerk, da heißt es, meine ich, dass im Kunstwerk immer das Zittern des Zukünftigen zu spüren sein muss. Ich weiß aber nicht, ob ich versuche, das Zukünftige zu antizipieren. Ich habe außerdem nicht das Gefühl, dass das Zukünftige faktisch abgetrennt ist vom Gegenwärtigen. Die Zukunft als Zustand – das kennen wir nicht, aber wir kennen jetzt schon genügend Kräfte, die in der Gegenwart wirken. Wie beim Klimawandel: Anstieg des Meeresspiegels, Abschmelzen der Polkappen. Abbau des Sozialstaats: überhaupt keine Idee von Zukunft haben, nur kurz- bis mittelfristig politisch handeln. Solche Sachen kennen wir doch. Wir stecken schon in der Zukunft drin.
Es ist ja auch logisch, dass die Zukunft in der Gegenwart begraben liegt, teilweise einsehbar ist. Viel schwieriger als das zu sehen, ist es, das auszuhalten. Das Aushalten einer solchen Mehrwertigkeit … – vielleicht ist auch das ein Problem bei Kunst oder Literatur, wenn da ab und an so eine Eindeutigkeit vor sich hergetragen wird oder für sich beansprucht wird. Die meisten Dinge sind einfach mehrdeutig. Und dann gibt es auch Sachen, die eindeutig abzulehnen sind. Es wäre auch cool, zu wissen, was man ganz entschieden will. Aber dazu müsste vielleicht auch ein tieferer Einklang mit dem, was da ist, existieren. Kein Verleugnen. Das Verleugnen der Gegenwart – schon das bloße Nicht-Verleugnen der Gegenwart fuckt schon viele Leute ab.
Das Nicht-Verleugnen?
Ja, wenn man wirklich anfängt, die Gegenwart als das zu nehmen was sie ist, mit den Problematiken, die sie in sich trägt, mit der Hybris, die sie darstellt, wenn man das einfach nur wiedergibt, darlegt ... Sich dieser Verleugnung zu verweigern – das ist ein Affront.
Das ganze Material des Gegenwärtigen, sagst du also, ist schon da. Wir müssen es nur ausbreiten? So wie Benjamin ein Buch nur aus Zitaten machen will, wodurch aber etwas Neues entstehen kann, durch ihre neue sternenbildförmige Anordnung.
Bei dem Vorhaben mit den Zitaten würde ich nicht mitgehen – dafür ist mir Fantasie zu wichtig. Ich meine vielleicht, nicht aus Bequemlichkeit heraus zu agieren, obwohl wir nie so konsequent sind, wie wir eigentlich sein müssten, was etwa die Situation von Geflüchteten angeht oder die Abschottungspolitik der EU, oder in seinem Handyakku beispielsweise Kobalt zu haben, das in illegalen Minen im Kongo abgebaut worden ist, wo die Schächte so klein sind, dass da teilweise Kinder reinkrabbeln müssen, weil Erwachsene nicht reinpassen – das meine ich. Ich kann eine Reportage über solche Minen lesen. Und Apple und Samsung und andere Konzerne sagen trotzdem, dass sie nur Kobalt aus legalen Minen beziehen. Man weiß außerdem, dass es nicht mehr allzu viel Kobalt gibt und es deswegen in ein paar Jahren zu einem Ressourcenkrieg darüber kommen kann. Wir wissen diese Dinge. Trotzdem nutzt man die ganze Zeit sein Handy. Nicht unbedingt in der Verleugnung dieser Tatsachen, aber doch in deren Billigung.
Ich finde mich oft selber untragbar. Es ist schwierig, das auszuhalten, diese Spannung, diese Sprengkraft. Auf ökonomischen, sozioökonomischen, sozialen Ebenen. Wenn man andauernd am Ufer entlang geht, sollte man sich klar machen, dass es jederzeit wegbrechen kann. Sodass man dann hinterher nicht auf erschrocken tun muss.
Das Verleugnen ist schlimm, aber das Nicht-Verleugnen auch. Denn im Nicht-Verleugnen ist mitgesagt, dass ich mit dem Schlimmen, um das ich weiß, das ich also nicht verleugne, leben kann. Still einverstanden.
Ich glaube trotzdem, dass das Nicht-Verleugnen der konstruktivere Weg ist. Der richtigere. Es ist schön, hier sitzen zu können, hier am See, und dieses Gespräch zu führen. In Anbetracht anderer Ereignisse in der Welt wirkt es aber komisch. Es geht auch um die Frage, welche Bilder die Kunst sucht und wählt für eine solche Gegenwart. Es wäre viel gewonnen, wenn die Komplexität erstmal künstlerisch geschaffen wird. Und wenn es dann noch bei anderen Menschen ankommt, die es beim Lesen eines solchen Buches aushalten müssen, dass die Dinge nicht rückführbar sind, nicht letztgültig erklärbar. Dass es beim Zuschlagen des Buches weder die Guten noch die Bösen gibt, kein gelöster Plot, kein geplatzter Knoten, keine Katharsis – hineingezogen in die Verstrickungen sein, sich ihrer klar werden, das wäre ein Anfang.
Mit welchen Mitteln gelingt das? Ironie? Pathos?
Keine Ahnung. An Pathos glaube ich schon in gewisser Weise. An Ironie eigentlich gar nicht. Da wünsche ich mir eher, dass es ein tieferer Humor ist. Schon lustig. Aber nicht ironisierend. Eher sich der existenziellen Lächerlichkeit aussetzend.
Ich glaube, dass viel über die Form und über die Sprache möglich ist. Auch im Sich-Widersetzen gegen solche gekannten Sachen, im Aushebeln und Aussetzen, im Überwinden oder Transzendieren davon. Ich versuche mit verschiedenen Instrumenten, mich so tief wie möglich hineinzugraben, wie es mir möglich ist. Dem, wie es wirklich ist oder wie es sich wirklich anfühlt, so nahe wie möglich zu kommen. Vielleicht ist es möglich, dafür eine Sprache zu finden. Für diese Kombination aus einem sehr eigenen Empfinden, das man offenlegt und gleichzeitig dieser Weltwahrnehmung. Dass ich eine Sprache dafür entwickle, die in der Lage ist, mein Verstricktsein in die Welt auch in einem poetischen Sinne fassbar zu machen.
Das ist so eine Sache mit der Sprache. Je mehr man es schafft, sie individueller werden zu lassen, sie als Instrument variabel, breit und formbarer einzusetzen, desto komischer kommt sie mir vor, desto löchriger und seltsamer. Am Ende bin ich dann wieder bei den Bildern, Zuständen, Atmosphären. Bei den Energien, die im Text gespeichert sind, wovon der Text ein Abdruck ist. Wo ich das Gefühl habe, es zu schaffen, diese Energie des Denkens und Fühlens zusammen in diese Sprache, in diese Sätze hineinzubekommen, sodass sie daraus aufstehen. In der Wahrnehmung von Kunst implodieren dann eh Zukünfte, Gegenwarten, Zeiten, Themen, was auch immer. Im besten Fall setzt man sich einem Zustand aus, irgendetwas, das einen angreift.
Du sagtest einmal, du würdest dir wünschen, den Pathos im Geschriebenen stehenlassen zu können.
Ja, das stimmt. Wenn ich das im Schreiben schaffe, mir selbst insofern egal zu werden, als dass ich diese innersten Zustände zulasse, sie anzuerkennen und sie aufzuschreiben – dann setzt im Nachhinein schon auch oft ein Denken ein, das danach fragt, ob ich das wirklich so stehen lassen kann. Wie die Leute darauf reagieren würden. Das ist das schwierige Aushalten, im Spannungsfeld der Welt der Selbstzensur zu widerstehen.
Greift dich der Verdacht der Ironie persönlich an? Es klang so.
Es ist so, als würde mir eine Form von Berechnung oder Brechung unterstellt. Für mich bedeutet Ironie eine Distanzierung, einen Selbstschutz. Das, was ich schreibe, ein wenig zu überdrehen, irgendetwas drüberzustellen, Souveränität darüber zu beanspruchen. Diese Souveränität will ich nicht. Deswegen wäre das schade. Aber es passiert manchmal. Es greift mich nicht wirklich an. Neulich hat mich ein Journalist interviewt, der meinte, das Ende von Flexen in Miami sei zynisch für ihn, und ich meinte dann so: Gut, dann ist es eben zynisch für Sie. Ich habe das Ende nicht zynisch gemeint. Ich kann aber nicht ändern, wie er es liest (lacht). Das ist schon komisch manchmal, da schreibst du so ein ganzes Buch, und am Ende meint jemand eben, dass es zynisch war, wodurch das eigene Buch so instrumentalisiert wirkt. Im Fall von Flexen in Miami hätte ich das Gefühl, dass das, was ich auf 200 Seiten aufgebaut habe, einfach wieder einstürzen würde durch ein zynisches Ende. Das kommt mir irgendwie absurd vor
Der Aktivismus, den man darin lesen könnte, wäre nur eine Pose gewesen.
Ja.
So, wie wir sagen, dass der Spracherwerb beim Kind mit dem Wahrnehmen der Sprache Anderer beginnt, sagen wir, dass jedem Schreiben ein Lesen vorausgeht. Hast du in deiner Kindheit oder Jugend Literatur gelesen, die diesem Ideal, mit dem du ringst, nahegekommen ist?
Ich bin eher seltsam zur Literatur gekommen. Meine Mutter hat mir Kinderbücher gegeben, die ich auch gelesen hab. Mit zwölf circa – ich kann mich noch an Harry Potter erinnern – hat das dann aufgehört. Dann hab ich ein paar Jahre gar nicht gelesen. Mit 13 hab ich angefangen, Basketball zu spielen und bin darüber zur Rapmusik gekommen. Das war, glaube ich, eine erste … – ich glaube, es gibt diverse Rap-Alben, wo ich das erfahren hab, so eine Ernsthaftigkeit, die aber gleichzeitig nicht bedeutet, dass die Kunst, die dabei entsteht, bierernst ist. Wenn ich sage, dass mir mein Schreiben ernst ist, heißt das ja gleichzeitig nicht, dass es nicht humorvoll sein kann, poetisch und mit wechselnden Atmosphären. Kein ständiges Anschreien gegen die Welt. Zart.
Nach dem Abitur bin ich ausgemustert worden, das war der letzte Jahrgang, wo überhaupt noch Wehrpflicht bestand. Ich hab eigentlich damit gerechnet, dass ich einen Zivildienst machen werde, aber das musste ich dann nicht. In der zwölften und dreizehnten Klasse hatte ich schon auch wieder angefangen, zu lesen. Und dann hab ich mit dem Studium begonnen, erst Ökonomie, und am Anfang Theater- und Medienwissenschaften. Das war mir dann aber so suspekt, gleich in der ersten Woche, dass ich das abgebrochen hab und zur Politikwissenschaft gewechselt bin. Sowohl zur Ökonomie als auch zur Politikwissenschaft hatte ich sofort eine krasse Distanz, das hat mich interessiert, aber ich hab mich nicht so damit identifiziert. Es war nicht mein Forschungsfeld. Ich wusste eigentlich gar nicht, was das ist. Ich war ja jenseits von jeglichem akademischen Habitus aufgewachsen, ich kannte das nicht, habe mich nur fremd gefühlt. Ich konnte nichts einordnen, kannte keine Denkschulen, nichts. Ich hab mich dann eher ungestüm auf manches geworfen und vieles auch abgelehnt. Ich bin dann auf die Beatniks gestoßen. Von denen ausgehend auf den französischen Existentialismus, auf das Lateinamerikanische: Borges, Cortázar und dann Bolaño. Bei dem hab ich vieles wiederentdeckt, vorentdeckt, das hat mich von der Art des Schreibens geprägt, weil die mir nah ist und ich die toll finde. Und auch Richard Brautigan. Er, Cortázar und Bolaño waren die ersten drei, die ich komplett gelesen hab und auch immer wieder.
Ich muss zur Zeit viel drüber nachdenken, wie das war, weil ich ja gar keine Hilfe hatte, weil es ja auch kein geisteswissenschaftliches Studium war, das ich zuerst gemacht hab. Es war ein männlicher Blick. In den Politikwissenschaften gab es nur männliche Professoren. In der Ökonomie eh. Ich hatte voll die Ablehnung dagegen, in diesen BWL-Vorlesungen zu sitzen und mir diesen ganzen Quatsch reinzuziehen. Ich fand’s auch mal interessant, aber ich hab das Gefühl, dass ich es erst in den letzten Jahren schaffe, mich langsam von dem zu lösen, was mich da zu der Zeit stark und ungefiltert überrascht hat. Wahrscheinlich sagt man das immer wieder. Aber ich hab den Eindruck, dass jetzt gerade ein Beginn stattfindet, wo ich auf einer anderen Ebene einsteigen kann, sehen kann: wo ich Teile dessen, was ich selbst gerne schaffen würde, wiedererkenne. Dann hab ich aber auch –
(unterbricht sich) Ich labere grade voll random durch die Gegend …
… alles gut.
Gerade beschäftige ich mich jedenfalls intensiv mit John Coltrane. Und da ist mir aufgefallen, dass ich schon mit 18 Blue Train voll viel gehört habe, als ich in die Schule und später an die Uni gefahren bin. Und jetzt ist es noch viel intensiver, also was es mir gibt. Du hast vorhin schon Tarkowski oder Werner Herzog genannt. Das hat gar nicht so viel mit Literatur zu tun, mehr mit Ausdruck. Es ist nicht nur Literatur, wo ich das empfinde, was ich mir von meinem Schreiben wünsche. Viel mehr Musik. Ich fände das viel schöner, wenn man dem Schreiben andere Qualitäten zuschreiben kann. Auf literarische Weise wahrnehmen, über Bilder beispielsweise. Dieses Narrative, Dramaturgische – (überlegt). Dass man lernt, freier wahrzunehmen, gelöster. Thomas Bernhard hatten wir vorhin auch schon mal genannt. Oder Handke. Da passiert oft, was ich lustig und zugleich existentiell finde.
Gerade kommt es mir jedenfalls so vor, als könnte ich auf einem tieferen Level wahrnehmen, welche Positionen mich so geprägt haben, ohne dass ich so richtig verstanden habe, was mir widerfahren ist. Sind das dann Werte? Ich weiß es nicht. Eine Anhäufung an Einflüssen, die eine Wahrnehmungsweise nahegelegt haben, die ich zu gewissen Teilen übernommen habe. Die aber auch nicht mehr in Gänze änderbar ist. Ich setze tiefer, neu an. Bei dem, was mich an Kunst interessiert. Es fällt mir wirklich schwer, darüber zu sprechen, was mich anfänglich interessiert oder fasziniert hat, weil sich das nachträglich re-evaluiert in mir.
Die Vokabel »Literatur« ist hinderlich, denn sie schreibt fest. Sagt nicht: Schreiben ist eine Sprechweise unter vielen. Die Erwartungen der Kritiker:innen kommen alle aus einem Gebäude, an dem »Literatur« steht, und sie sprechen von dort, und selten mit anderen Mitteln. So wie du sprichst, kommst du immer von der Kunst her, vom Musischen, vom Musikalischen insbesondere. – Nicht vom Existentiellen.
Das stimmt. Aber ich würde auch nicht sagen, dass das Literatur ist – ich schreibe halt. Es ist ja auch eine fabrizierende Tätigkeit. Jegliche Form des Ausbrechens aus solchen Feldern, aus einem vorgefertigten Möglichkeitsraum, bedarf auch einer Auseinandersetzung mit den einzelnen Feldern im Vorhinein. Doch. Dann geht es schon in der Auseinandersetzung mit literarischen Formen darum, diese auszureizen, für meine Zwecke zu nutzen. Das ist nicht gleich Anti-Literatur. Es ist halt ein Feld, die Literatur. Ich finde das nicht wichtig. Das Schreiben gehört der Kunst an, irgendwie. Und dann – ja. Es ist ja nicht so, dass mich Literatur nicht interessiert.
(Lisa, die uns dreien gegenübersitzt) … das ist so, wie ich gestern meinte! Sobald man irgendwo das Label »Kunst« draufpackt, können das Leute ertragen, es ist legitimiert, erscheint in einem Verlag, ist ein schriftliches Erzeugnis. Das hat viel weniger mit deinem Schreiben zu tun als damit, dass Leute das aus irgendwelchen Gründen nicht ertragen können. Ihr Hirn platzt ihnen weg, weil Literatur auf einmal auch das ist, auch das kann, und dann müssen sie sich wegbewegen von ihrem jeweiligen Standpunkt, der halt bei Goethe stehengeblieben ist! Egal. Das regt mich voll auf, wenn Leute nicht ertragen können, dass das eben auch Literatur ist, und dass sie mehr kann als sie dachten. Das ist so absurd. Unter dem Label »Kunst« ist das auf einmal erträglicher oder greifbarer – da muss man sich doch mal fragen, was für ein Verständnis da bei den einzelnen Personen dahintersteckt.
Ich weiß überhaupt nicht, ob es für irgendjemanden relevant ist, was Literatur ist, solange man persönlich, mit sich selbst, in der Erfahrung des Lesens, des Hörens, des Sehens, des Wahrnehmens – einfach eine Erfahrung macht. Worum ging es denn bei einem Buch, das man gelesen hat? Darum, es gelesen zu haben? Oder ging es um eine Lektüreerfahrung, eine Kunsterfahrung? Möchte ich, dass das Gelesene in mein Leben eingreift, mich bewegt, berührt? Das Andere interessiert mich eigentlich nicht. Ich meine: Wieso wählt man sich 2021 das Feld der Literatur, das sich zumindest in einem ökonomischen oder aufmerksamkeitsökonomischen Niedergang befindet, wenn es einem nicht um die existentielle Erfahrung geht?
Der Literaturbetrieb hat etwas Mikrobisches. Ich weiß manchmal nicht, was die Leute bewegt, sich mit Literatur zu befassen, wenn es bei dem Label »Literatur« dann am Ende doch darum geht, sich über etwas zu erheben, etwas klein zu machen, für Konventionen, für das Bekannte einzustehen. Das finde ich seltsam.
Es gibt von dir ein Buch, Faunenschnitt, das in Kooperation mit einer Künstlerin entstanden ist. Ich bin nicht sicher, ob es nur mein Exemplar betrifft, ob meines defekt ist, weil dort nämlich Seiten verschlossen sind.
Nein! Das ist überall so.
Die Bilder, die darin enthalten sind, lassen sich durch Anheben der Seiten oder das Hineinschieben von einem Gegenstand, durch die Entwicklung von Techniken, einigermaßen sichtbar machen. Man könnte sie aber natürlich auch ganz rabiat einfach aufschneiden. In die Leseerfahrung also eingreifen, indem man so weit geht, das Objekt des Textes zu beschädigen. Das finde ich sehr radikal.
Das nennt man japanische Bindung. Eine Druck- oder Bindungstechnik. Bücher werden ja immer in solchen Bögen gebunden und am Schluss maschinell abgecuttet, damit du sie öffnen kannst. Früher war es so, dass du das auch noch selber machen musstest. Ich hab dazu wirklich kein Buchdruckwissen oder Buchherstellungswissen, aber ich könnte mir vorstellen, dass es mit dieser maschinellen Tatsache zu tun hat, dass du den Gesamttextkörper nicht mit diesem einen Cut nochmal um ein Ministück abgehackt bekommen hast, weshalb man das dann eh selbst machen musste. Das war dann hier auch nicht meine Idee gewesen, sondern die von Hannah Gebauer, die sich viel mit so Künstlerbüchern und dem Publizieren als künstlerischer Praxis auseinandergesetzt hat. Also Künstlerbücher generell – ein spannendes Medium. Und wie da mit Büchern noch umgegangen wird, wie sie zu handhaben sind, was man da noch alles aus- und umklappen kann, übersteigt dann dieses auch. Aber dass sie sich in unserm Fall für die Methode entschieden hat, die Bilder wie von dir beschrieben einzubinden, korrespondierte dann auch mit dem Romaninhalt. Den Erzähler wollte ich so erschaffen, dass er an den eigentlichen Ereignissen immer so vorbeischrammt und am Rand von etwas ist, das passiert, was dadurch für ihn in seiner Wahrnehmung mysteriös wirkt. Das verstärkt diese Form der Gestaltung. Es pendelt zwischen einem Roman und einem Künstlerbuch. Ich selber hab das nie als radikal empfunden. Es gibt von Hannah auch ein Video. Das Coole an dem, was du als radikal empfindest, ist, dass du das Buch auf verschiedene Weisen aufschneiden kannst. Ich kann dir das gern auch mal zeigen später. Du kannst es ja an den Seiten aufschneiden, wodurch du die Bilder aber in der Mitte nochmal zertrennen würdest.
Genau.
Du kannst aber auch eine Pappe einschieben und das jeweils am Bund innen aufschneiden und die Bilder wie einen Schmetterlingsflügel aufklappen, wodurch du sie auf die eigentliche Weise siehst. Dann hast du zwei Bilder, die das Buch um das doppelte Format übersteigen.
Ihr hättet, ungeachtet des Hintergrunds der Herstellung, die Bilder auch selbst aufschneiden können. So aber ist es eine Entscheidung geworden.
Ja, das stimmt, es war eine Entscheidung, auch eine künstlerische. Eben eine, die korrespondiert hat mit ihrem Verständnis des Textes.
Und ja, wir haben das ja mit einem partizipativen Ansatz gemacht, der von dir eine Entscheidung, ein Eingreifen verlangt. Aber dadurch wirst du dir anders bewusst, dass du ein Buch liest. In dem Fall ist das eben so ein Objekt geworden. Ich kann mir auch vorstellen, dass der Text irgendwann mal nur als schwarzer Text auf weißer Seite, als Taschenbuch, was weiß ich, erscheint. Wo es überhaupt nicht um diese buchtechnischen Ansprüche geht. Es ist cool, wenn Menschen das machen mit Literatur.
(Lisa ist amüsiert) Würdest du nicht sagen, dass Menschen sich aufschneiden müssen, damit die Bilder in sie eindringen können?
Sich selbst aufschneiden (alle lachen)?
Ich merke momentan, dass es mich wirklich verwundert, wenn manche meine Texte als so fernab empfinden, dass es zu denen keine Zugänge gibt. Das empfinde ich ganz anders. Es sind vielleicht nicht die gleichen Zugänge wie bei anderen Büchern – wobei, nicht mal das. Mich verwundert das eigentlich eher. Aber das ist ja auch in Ordnung. Kann man eh nicht ändern. Man könnte das hoch und runter erklären. Aber ich hab auch gar nicht das Gefühl, dass ich dafür relevant genug bin, dass es einen Bedarf dafür gibt.
Es gibt ja noch Zeit, die Zugänge zu erschließen für die Welt. An einem Anfang ist es immer auch merkwürdig, was Menschen machen.
Stimmt. Ich beginne ja auch erst.
Wo du für dein Alter – so blöd es klingt – viel geschrieben hast.
Empirisch kann ich das nachvollziehen. Ich hab eher das Gefühl, noch nicht so viel von dem geschafft zu haben, was ich mir vorstellen kann. Wenn ich mehr Wissen, mehr Skills, mehr Disziplin hätte. Es waren ja auch keine dicken Bücher. Voll seltsam, weil diese Texte, die ich veröffentliche, eben da sind, für andere nachvollziehbar. Für mich selbst treiben die aber eigentlich ab. Das fühlt sich dann nicht wie eine Errungenschaft an, eher wie etwas, das ich mal gemacht habe. Ich weiß nicht, was ich machen müsste, damit ich das Gefühl hätte, was geschafft zu haben, dass es ausreichend wäre – was wahrscheinlich, hoffentlich, eh nicht geht. Mein Gefühl zu dem, was ich gemacht habe, unterscheidet sich von dem Eindruck von außen auf das, was ich geschrieben habe. Für mich sind es immer wieder Versuche, Versuche und wieder Versuche. Ich frag mich wirklich, ob es notwendig ist, viel Geld mit dem zu verdienen, was man tut, damit sich dieses Gefühl einstellt, als würde davon was zurückbleiben.
Es wäre zumindest nicht überraschend im Kapitalismus. Wenn du Bücher mit einer Auflage von einhunderttausend Exemplaren herausgibst und dadurch in jedem relevanten Gesprächsformat präsent bist, dann gibt es nicht mehr viel, was du noch tun könntest.
Das meinte ich gar nicht. Ich meinte wirklich die konkreten einhunderttausend Euro auf dem Konto.
(wieder Lisa) Das ist ja eine viel tiefer gehende Frage. Die Frage, woran man überhaupt schreibt. Und was man für eigene Erwartungen hat an das Produkt. Ich glaube, wahrscheinlich gibt es von außen gar nichts, das die Frage für einen beantworten könnte, dass mir zeigen könnte, dass die Quest abgeschlossen, der Endboss besiegt ist.
Takeshi’s Castle wurde eingenommen! Ja.
Das verändert sich ja auch ständig. Die Anfänge der Geschichten versteht man erst im Nachhinein. Eine nicht umrissene Tätigkeit verläuft außerhalb des Messbaren. Ich könnte die Anzahl der Bücher nennen, die Produktionsmenge. Die Antworten sind wenig befriedigend. Was daran liegt, dass – wenn man es ernst meint – es immer wieder von vorn los geht. Bei jeder Seite. Jedes Projekt ist als solches in sich neu. Die Pläne werden irrelevant?
Das ist ja voll abhängig davon, wer guckt. Ich hab die Bücher veröffentlicht, weil ich keine Ahnung hatte. Mit achtzehn oder neunzehn hab ich angefangen, Texte zu schreiben, einen Roman. Und dann hab ich den überall hingeschickt. Zig Absagen bekommen. Dann mit Johannes einen Roman geschrieben, wieder überall hingeschickt, wieder nur Absagen bekommen. Irgendwelche anderen Texte geschrieben. Alles, was ich geschrieben habe, wo ich dachte, das sei nicht so schlecht, hab ich irgendwo hingeschickt, scheißegal, ob es Rowohlt oder irgendein Blog war. Es gab eigentlich keinen Unterschied. Über dieses völlig blinde Agieren, ohne Anleitung von außen – so hab ich das gemacht. Ich wollte auch, dass das Geschriebene weg von mir ist, weil ich was Neues machen wollte. Und dann ist es eben so gelaufen, dass ich die Bücher bei starfruit veröffentlicht habe. Als ich beim Bachmann-Preis war, fanden das die Agenturen gar nicht cool. Die haben dann gemeint, das sei voll scheiße, dass ich schon Bücher veröffentlicht habe, weil das jetzt eigentlich mein Debüt wäre, mit dem man besser an Verlage herantreten könnte. Aber Insa Wilke hätte mich ja nie zum Bachmann-Preis eingeladen, wenn sie nicht gewusst hätte, dass ich diese Ernsthaftigkeit beim Schreiben gehabt habe. Das ist halt irgendwie ein Weg gewesen. Ich hab mich auch mit 20 mal beim Literaturinstitut in Leipzig beworben, da wurde ich abgelehnt. Wär ich da genommen worden wäre, wären ganz andere Sachen passiert. Da hätte ich vielleicht gewusst, dass Verlage Debüts wollen.
Es ist ja auch eine Form von Mut, das alles nicht zu wissen. Du schreibst einfach, du kennst den Betrieb nicht, unterwirfst dich keinen falschen Autoritäten, kannst unvorsichtiger an alles herantreten.
Ja, unvorsichtiger ist treffend.
(Lisa) Lars Eidinger hat mal auf die Frage, weshalb er Schauspieler geworden ist, geantwortet, dass es wirklich eine Frage ist, die er mit seinem Psychologen besprechen sollte. Voll treffend. Schreiben ist das eine, aber damit noch an die Öffentlichkeit herantreten – ich find das in gewisser Weise psychotisch.
Das erinnert mich an diesen Haneke-Satz: Dass die künstlerische Arbeit ein Ersatzmittel für eine konventionelle Therapie sei. Die Psychosen und Ängste werden in der Produktion ausgetragen. Aber es lässt sich schon fragen, was für ein Masochist man sein muss, das vor allen anderen zu tun (alle lachen). Der therapeutische Raum ist ja nicht ohne Grund geschützt.
Da sind so viele Wechselwirkungen drin. Dadurch, dass es öffentlich wird, und man zumindest ein bisschen Geld damit verdient, sodass mehr Zeit da ist, das zu tun, was man gerne macht. Das ist schon auch ein Aspekt davon. Das Geld, das wenige, ermöglicht eben wieder ein anderes Schreiben. Wenn es halbwegs passt, ist es ja auch okay. Würde ich das nicht beruflich machen, sondern nebenbei, neben einer anderen Tätigkeit, wäre es ein anderes Schreiben, unabhängig von Geld und Öffentlichkeit.
Würde man in einem Büro arbeiten, würde man sich doch nie an einem Baggersee bei Göttingen treffen, um über solche Sachen zu reden. Man würde auf diese Idee nicht kommen. So zu sprechen. Das finde ich schön.
Produktion: Simon Böhm, Leonie Hoh, Holm Burgemann, Konstantin Schönfelder
Fotografien: Joshua Groß und die anderen
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Elf Uhr desselben Tages. Immer wieder landete eine Goldaugenbremse auf meinem Körper. Ich musste mich kurz an ihre grünbläuliche, irisierende, intensive Augenfarbe gewöhnen. Vorher war ich dieser Fliegenart noch nie begegnet. […] Ich beobachtete die Goldaugenbremse auf meinem Unterarm. Ich ließ sie kurz dort sitzen, zwischen meinen Härchen auf der Haut, und verscheuchte sie dann. Bald darauf kam sie zurück. Was fand sie über mich heraus, während sie auf mir verweilte? Was ahnte sie mit ihren feinen Sinneszellen, die ihre Beine überall bedeckten? […] Im Nacken hatte ich zwei Stiche der Goldaugenbremse abbekommen. Fast absichtlich, würde ich sagen. Es juckte nur ziemlich. Manchmal hielt ich mir kalte Softdrinkdosen dagegen, die ich aus der Kühlbox zog. Ich wollte vermeiden, mich zu kratzen. Das wurde allerdings immer schwieriger, als ich bei Hamburg in einen Stau geriet. Ich lenkte mich ab, indem ich Alice Coltrane hörte. (»Von Vorn«, Entkommen)
Einmal habe ich mit meinem vermeintlichen Opa das Gewehr von Winnetou aus Holz nachgebaut. Ich habe es geliebt. Es war schwarz und braun bemalt, und rhythmisch mit goldenen Reisnägeln benietet. Ich habe keine Ahnung, warum meine Mutter zuließ, dass ich damit spielte. Ich rannte oft alleine durch den Wald zwischen Altdorf und Hagenhausen, ausgerüstet mit meinem Schweizer Taschenmesser und dem Gewehr. Ich fantasierte mich in übertrieben ausgeschmückte Konflikte hinein, schlich umher, verschanzte mich hinter Baumstämmen, und versuchte lautlos zu laufen; es war nicht leicht bei dem ganzen ausgedorrten Kleinholz im Hochsommer. Kann sein, dass ich mit meiner Silberbüchse imaginäre Schüsse abgab, wobei ich aber, jenseits meiner Imagination, immer wachsam blieb, was das etwaige Auftauchen eines tollwütigen Fuchses anging: davor hatte ich nämlich am meisten Angst.
»Es stimmt, Wohlwollen ist nicht Eure Stärke. Wenn ich keine Leute oder Dinge mehr lieben und bewundern könnte (es sind nicht viele), würde ich mich tot fühlen, abgestorben. […] Das Interessante ist nicht, ob ich von was auch immer profitiere, sondern ob es Leute gibt, die diese oder jene Sache in ihrer Ecke machen, ich in meiner, und ob es mögliche Begegnungen gibt, Zufälle, unerwartete Glücksfälle, und keine Gleichschaltungen, Sammelbecken, diese ganze Scheiße, wo jeder das schlechte Gewissen und der Prüfer des anderen sein soll.« (Gilles Deleuze in seinem »Brief an einen strengen Kritiker«)
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