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#9 JOSEPH VOGL

ZUFÄLLE, UNKLARE ABSICHTEN UND SEHR WENIG VORSÄTZE

von Holm-Uwe Burgemann
und Konstantin Schönfelder

Wir lernen einander kennen, während Joseph Vogl an der Ostküste ist. Die Universität in Princeton ist zu einer Zuflucht geworden, an die er als »Permanent Visiting Professor« zyklisch gebunden ist. Durch das Fenster des Bild­schirms sehen wir einander an und haben doch ungleiche Aus­sichten. Er, in seinem gemieteten Apparte­ment, das für Durchreisende gebaut zu sein scheint; sofern wir dem namen­losen Interieur glauben, das seinen Kopf rahmt. Wir, an einem Flussufer, auf Paletten sitzend. Wir antworten ihm irgendwann, dass wir PRÄ|POSITION durch seinen Freund Roger Willemsen machen. Von dieser »Urszene« habe er nicht gewusst, schreibt er später, als er zusagt.

Als wir uns daraufhin in Berlin treffen, ist er wieder nicht, ist er noch nicht, da. Oder nicht offiziell. Denn gerade aus Princeton zurück­gekehrt, verzögert er die institutio­nellen Pflichten zugunsten eigener. So bewegen wir uns an diesem wolkigen Vormittag das erste Mal im Bann­kreis der Humboldt-Universität. Ein Risiko, das ein Verhalten inkognito erfordert. Wir setzen uns in einen Vorraum des Gorki-Theaters, nachdem Joseph noch eine Zigarette wie McConaughey erledigt hat. Er erscheint uns blass. Wir sind nervös. Seine Strenge, die, weil sie sich so phantastisch ausspielt, selten sichtbar wird, erstickt jedes Gerede. Und reicht noch in das verschriftlichte Gespräch. Denn das, was zwischen dem Folgenden an vermeintlicher Geschwätzigkeit zu finden gewesen wäre, hat Joseph mit priester­licher Sorgfalt vorab radiert.

Sein hypermobiles Denken, die ihm eigen­tümliche Gabe, die Dinge über ihre Heimat­regionen hinauszu­strecken, ist von der ersten Reaktion an unver­wechsel­bar präsent.

Wir haben unglaublich viele Fragen. Geht Dir das auch so?
Ja, aber ehrlich gesagt nicht an Menschen. Die Fragen, die ich habe, betreffen Texte. Ich habe immer den Eindruck, dass die besten Antworten, die man erhalten kann, nicht geradewegs aus lebenden Mündern kommen, sondern dass man diese Antworten selbst suchen muss. Mir scheint, dass die Fragen, die mich beschäftigen, voraussetzen, dass es keine probaten Antworten gibt, und dass wirkliche Antworten erst unter der Bedingung kommen, dass man sie umständlich sucht.

Wenn es keine Adressaten im klassischen Sinne gibt – sonst hätten wir gefragt, wem du deine Fragen stellst –, heißt das dann auch, dass dieser Adressat keinen Körper hat?
Schon einen Körper, aber unterschiedlicher Natur – also Papierkörper, Buchkörper, was auch immer. Das Interessante an Fragen insgesamt besteht für mich darin, dass sie zunächst einmal nicht mit Antworten kompensiert werden können. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass die heraus­fordernde Konstellation für mich nicht diejenige ist, Antworten auf Fragen zu finden, sondern umgekehrt: Zu gegebenen Antworten die entsprechenden Probleme oder Fragen zu suchen. Insofern würde sich für mich das Verhältnis zumindest teilweise umkehren.

Du fragst nicht, um Antworten zu bekommen. Aber Du antwortest, um fragen zu können.
Das sind zwei Formen: Es gibt eine ganze Reihe von Fragen, die ich habe, beispielsweise was die Finanz­ökonomie, was bestimmte politische Fragen betrifft. Ich weiß aber, dass ich darauf von Gefragten nicht unbedingt eine Antwort bekomme, sondern dass die Antwort Recherche benötigt. Es sind Suchwege, Umwege; Fragen werden nicht durch Antworten kompensiert, sondern zunächst mal durch lange Wege. Diese langen Wege sind auch Lektüre­wege, beispiels­weise. Erstens. Und zweitens, noch einmal: Meine eigene Tätigkeit würde ich darin erkennen wollen, dass ich selbst nicht immer Lösungen für Probleme oder Antworten auf Fragen suche, sondern umgekehrt zu bestehenden Antworten und Lösungen die ent­sprechenden Probleme zusammen­suchen möchte. Mein Eindruck ist: Wir sind von sehr vielen Antworten umgeben und haben oft die dazu­gehörigen Probleme vergessen. Das wäre auch gleichzeitig eine bestimmte Form der geistes­wissen­schaftlichen Arbeit.

Joseph Vogl I

Ein Denken in Umwegen. Das klingt nach Gilles Deleuze. Nach der Idee eines rhizomatischen Denkens, eines Denkens in Bahnen, derer wir uns nicht sicher sind.
Auf der einen Seite ist das völlig richtig. Es gibt also bei diesen Wegen das Glück – aber womöglich auch das Pech – des Unvorher­sehbaren. Es öffnet sich ein Horizont von Un­gewiss­heiten. Auf der anderen Seite – und das ist vielleicht auch deleuzianisch gedacht – ist eine solche Form der Denktätigkeit im elementaren Sinne problematisierend.
Man kann wohl zwei Wissenschafts­typen unterscheiden: Ein Großteil von Wissenschaften – dazu gehören Technik, Technologie, Ingenieurs­wissenschaften, auch manche Natur­wissenschaften, auch die Medizin – müssen zwangsläufig Antworten für Probleme suchen. Das geht nicht anders, nur so kommt man voran. Und es gibt einen anderen Wissen­schafts­typus, der eben zu bestehenden Lösungen oder Antworten die entsprechenden – und zwar verstellten, nicht mehr sichtbaren – Probleme entdeckt. Ich denke, dass etwa der historische Materialismus ein Beispiel dafür wäre. Das heißt, die Analysen müssen zu bestehenden sozialen »Lösungen«, wie dem Waren­verkehr, Waren­fetisch, Tausch­wert etc., die ent­sprechen­den Probleme finden. Die liegen nicht auf der Hand, sondern müssen eruiert werden.
Es gibt auf diesem Feld vielleicht noch eine zweite Unterscheidung, die ebenfalls das Verhältnis von Frage und Antwort betrifft. Die Unterscheidung stammt von einem Neu-Kantianer des 19. Jahrhunderts, Wilhelm Windel­band. Windel­band unter­scheidet zwei Wissen­schaften bzw. Wissen­schafts­typen. Nämlich auf der einen Seite nomothetische Wissenschaften, deren Vorgehen darin besteht, Einzelfälle unter Gesetz­mäßigkeiten zu subsumieren. Und ideografische Wissens­formen oder Wissen­schaften, in denen es darum geht, die Unverwechsel­barkeit von Singularitäten darzustellen. Das heißt, hier gerät man nicht zu einer möglichen Gesetzmäßigkeit, sondern hier gerät man am Einzelfall vom Hundertsten ins Tausendste.

Wir sprechen über verschiedene Organisations­formen des Wissens, die entweder von den Antworten zu Fragen gelangen oder anders herum.
Ich würde das eher Denk­ethologie nennen. Also Verhaltens­lehren des Denkens. Das kann über die Disziplinen hinweg unterschieden werden. Denken wir auch an so eine Unterscheidung, die Deleuze und Guattari gemacht haben: nomadische Wissen­schaften und deterministische Wissen­schaften. Ich würde mich jetzt vor dem Hintergrund Ihrer Fragen auf die Seite schlagen von Wissen­schaften, die ideografisch, das heißt am Einzelfall orientiert sind, die eher nomadisch als deterministisch organisiert sind und die sich eben auch als eine bestimme Form der Problemati­sierungs­weise verstehen.

Eine Sache wird umso unüber­sichtlicher, je genauer man sie ansieht.

Du sagtest anfangs, Du stelltest keine Fragen an Menschen. Aber vielleicht stellst Du ja Fragen mit Menschen? In deinen ikoni­schen Gesprächen mit Alexander Kluge gibt es Formen des Fragens, denen ihr nach­geht, die in dieser ideo­grafischen Tradition stehen.

Das eigentümliche Katz-und-Maus-Spiel, das Kluge betreibt – man könnte auch sagen, es ist ein Spiel von Hase und Igel, wo ich mir immer wie der Hase vorkomme, während Kluge schon da steht und sagt: »Ich bin schon wieder hier« –; dieses eigen­tümliche Spiel, das eben auch etwas von einer gewissen Hetze an sich hat – man wird von Kluge gehetzt –, besteht eigentlich darin – und das ist das Überraschende dabei –, dass man selbst zu Antworten provoziert wird, die man noch nicht wusste. Das ist eine über­raschende An­gelegen­heit. Es geht also nicht nur um Probleme, die man bisher noch nicht gesehen hat, und Fragen, die man noch nicht gehört hat, sondern man wird zu Fragen wie zu Antworten provoziert, die einem vorher noch nicht klar waren.
In irgend­einer Falte des Denkens bahnt sich also eine Antwort an, von der ich nicht sagen würde, sie lag bereits konfektioniert parat. Das ist, glaube ich, eine der Strategien von Kluge, Leute zu Antworten zu provozieren, die sie vorher noch nicht gelernt haben.

Eine Wandkarte aus Josephs Büro

Und das ist vielleicht das Signum eines jeden guten Gesprächs: Dass man nicht Inhalte abruft, die schon verfügbar sind, sondern gemeinsam Inhalte herstellt, von denen man nicht wusste, dass man zu ihnen in der Lage ist.
Ja. Ich denke, es gibt da eine doppelte Stoß­richtung. Die eine zielt darauf ab, das Verhältnis von Frage und Antwort nicht wie einen Frage­bogen zu gestalten. Das heißt, jetzt auch mit Deleuze gesprochen: Es gibt sehr viele Fragen, in denen die Antwort als Abklatsch der Frage bereits vorgesehen ist. Die Meinungs­umfrage wäre so etwas. Da werden Dinge abgefragt, die durch die Frage schon vorgefertigt sind. In den Fällen, die für mich interessant sind, geht es darum, Antworten zu provozieren, die einen anderen Ereignis­charakter haben. Zum Beispiel, dass im Zusam­men­treffen von Frage und Antwort die Dinge eher fremd als vertraut erscheinen; oder dass eine Antwort unterschied­liche Formen haben kann – beispielsweise kann auch eine Anekdote eine Antwort sein. Hans Blumenberg hat das einmal »Nachdenklichkeit« genannt. Es wird eine Antwort gegeben, die aber selbst irgendwo etwas an sich hat, mit dem man reflektierend noch nicht zu Ende kommt.
Eine Antwort muss nicht unbedingt ein Endpunkt sein: Jetzt und ein für alle Mal. Eine Antwort kann durchaus auch die nächste Frage provozieren. Diese Form von Offenheit – und das meintet Ihr ja auch mit dem Gespräch – wäre wohl mit dem Verweis auf Alexander Kluge aufgerufen. Erstens: Die Antwort ist nicht immer vorhersehbar; sie ist kein Spiegelbild einer Frage. Und zweitens: Eine Antwort kann in unter­schiedlichen Genres formuliert werden und kann als Antwort selbst nochmal eine Frage mit­trans­portieren.

Das heißt dann aber auch, dass die Form von Wissen­schaft oder Theorie, die Du betreibst, permanent durch Er­kundungs­gänge verläuft und damit explorativ ist. Wenn Du keine Fragen vorwegnehmen kannst, sondern Antworten hast und dafür die Gegen­stücke suchst – dann ist das eine andere Art Wissen­schaft zu betreiben, als wir sie gelernt haben.
Das war eine ideale oder ideal­istische Beschreibung. Es funktioniert natürlich nicht immer so. Das heißt also, in Seminaren muss man auch schlüssige Antworten geben können. Das beruhigt und verhindert Studien­abbrüche. Es ist also weniger ein bestimmter Wissen­schafts­typus, als mit einem Genre von Wissenschaft oder Disziplin verbunden, als eine Denk­bewegung innerhalb spezifischer Wissenschaften. Deswegen sagte ich Ethologie, also Verhaltens­lehre des Denkens, und würde selbst so weit gehen, dass auch im Seminar­betrieb beispielsweise die produktivsten Angelegen­heiten – und da ist, glaube ich, die Literatur ein ganz wesentlicher didaktischer Faktor –, dann nicht allein darin bestehen, Antworten von Texten zu bekommen oder die Texte mit Antworten zu überziehen, sondern Texte selbst als Inter­pretationen, d.h. als Auflösung versteckter Probleme zu begreifen.

Die erste Aufgabe der Universität ist, Komplexität zu lehren.
Sagen wir mal so: Komplexität in den bestehen­den Dingen zu erkennen. Je genauer man eine Sache ansieht, desto un­übersicht­licher wird sie. Ich denke, das ist eine genuin literarische Tätigkeit. Robert Musil hat das etwa am Fall Moosbrugger, am Fall dieses Lustmörders im Mann ohne Eigenschaften vorgeführt. Da gibt es einerseits eine pedantische Genauigkeit: eine Tat, einen Mord, dann ein Gesetz, dann das Urteil. Demgegenüber die phantastische Genauigkeit – man gerät von der Tat zu den Motiven, dann zu den Seiten­motiven und Umständen usw. Das Urteil wird aufge­schoben, die Urteils­kraft versagt. Man sollte also Antworten auf der einen Seite und Urteile auf der anderen Seite aus­einander­halten. Sehr schnell sind mit Antworten bestimmte Urteile verbunden. Denken Sie wieder an Meinungs­umfragen: Alles Urteile. Meinungen sind Urteile über Welt. Wie es bei der BILD-Zeitung heißt: Bild Dir Deine Meinung. Wir sind von diesem Meinungs­lärm, von diesem Urteilsfuror umgeben. »Mag ich, mag ich nicht.«
Gute Antworten sind, glaube ich, zunächst einmal die, die sich von der Urteils­förmigkeit befreien.

Von der Urteils­förmigkeit befreien. Und auch von diesem vorab unterstellten Ergebnis­charakter.
Natürlich. Ich glaube, dass es sich lohnt, für das Verhältnis von Frage und Antwort die Distanzen zu ermessen, die dazwischen liegen. In diesem Dazwischen muss gearbeitet werden, in welcher Form auch immer: im Nerven­system, im Laufen, in Bibliotheks­regalen, weiß Gott was. Samuel Beckett wurde einmal gefragt, ob es ›inexpressive‹ Kunst gäbe und antwortete zwei Wochen später: »Ja«.

Und das Unter­scheidungs­vermögen von urteilenden Meinungen und Tatsachen erwirbt man durch die Literatur?
Ich würde nicht die Unterscheidung zwischen Meinung und Tatsache machen, denn Tatsachen können schnell ins Meinungs­förmige kippen. Meinungen lieben sogenannte Tatsachen. Denn diese sind meist kurz und brauchen nicht weiter begründet werden. Der Fetisch der Fakten hat die Rede von Fake News überhaupt erst möglich gemacht. Ich glaube nicht, dass Wissen ganz einfach Tatsachen­wissen ist. Das wäre allzu simpel. Und was man von Literatur lernen kann: dass die Dinge, die Gegeben­heiten, die Realitäten nicht unverrückbar sind. »Wenn es einen Wirklich­keits­sinn gibt, muss es auch einen Möglich­keits­sinn geben«, heißt es einmal bei Musil. Das wird von der Literatur auf die eine oder andere Weise beansprucht.

Auf den post­struktur­alistisch gepflasterten Wegen, denen Du nachgehst und die Du aufzeigst, kommst du schnell in Ab­wegig­keiten. Dennoch aber gibt es eine objektive Härte der Institutionen, denen du unterstellt bist und die das immer wieder einzuengen, zu begrenzen, zu funktion­alisieren suchen. Wie würdest Du dieses Verhältnis in Deiner Arbeit beschreiben?
Ich weiß bis heute nicht, was ›post­struktur­alistisch‹ meint und wer ein ›Post­strukturalist‹ wäre. Solche Vokabeln werden meist nur zur De­nun­ziation benutzt. Aber was den Widerstand der Institution betrifft: Damit kann man durchaus produktiv umgehen. Zum Beispiel so, dass man gerade in so unübersichtlichen Gebieten wie den Geistes­wissen­schaften nach pädago­gisch wirksamen Ver­engungen, System­atisierungen, Kanon­isierungen sucht. Man wird nicht davon dispensiert, dieses Fach und seine Gegen­stände immer neu zu sortieren, vielleicht sogar zu erfinden. Es machte großes Vergnügen, als wir damals in den neunziger Jahren und an der Bauhaus-Universität Weimar das Studienfach »Medien­kultur« erfanden und damit zusammen z.B. einen theo­retischen Kanon, den es noch nicht gab und der dann von Benjamin bis Luhmann, von Adorno bis Deleuze, von Heidegger bis McLuhan reichte.

Du hast in München, in der Schel­ling­straße, studiert und dort eine german­istische Generation erfahren, die uns gar nicht mehr bekannt ist. Du hast damals auch Musil lieben gelernt. In welchem intel­lektuellen Klima bist Du dort groß­geworden?
Also ich würde zunächst einmal sagen: kein besonders auf­fälliges. Ich habe erst im Nach­hinein bemerkt, dass zur selben Zeit in anderen Städten, an anderen Universitäten tat­sächlich intel­lektuelle Zentren entstanden waren, akademische Attraktions­orte. Das waren Freiburg oder die FU in Berlin in den 80er Jahren. Das war für mich aber, herkommend aus Nieder­bayern, jenseits des Horizonts.
Es sind eigentlich zwei Dinge, die mir passiert sind und die einen intel­lektuellen Effekt ausgelöst hatten. Das eine war die Begegnung mit Roger Willemsen und das andere die Be­schäftigung mit Robert Musil. Roger saß damals an der Doktor­arbeit über Robert Musil, methodisch eingerahmt von der Kritischen Theorie, ins­be­sondere von Adorno. Vor diesem Hinter­grund bin ich in die Lektüre des Mann ohne Eigenschaften geraten, und ich erinnere mich, wie das eine Woche andauerte – zurück­ge­zogen, Stuhl in die Mitte des Zimmers gesetzt, nicht mit dem Lesen aufhören können. Sowas kannte ich noch nicht. Nicht diese Freund­schaft und nicht diese Literatur. Und in den Gesprächen mit Roger bekam ich dann eine Ahnung darüber verpasst, was das heißen könnte, affektives Denken und intel­lektuelle Gefühle.

War eure Freund­schaft ein Lesen mit vier Augen?
Nein. Unsere Freund­schaft bestand in un­end­lichen Gesprächen, Flippers­pielen, nächt­lichen Streif­zügen. Und aus wechsel­seitiger An­steckung. Mich selbst hat das aus eher lauen Verhältnissen herausgerissen, ein Vitalitäts­schub.

Was ist Freund­schaft für Dich?

Das ist, glaube ich, eine … (zögert) Freund­schaft ist die Ent­wicklung intensiver Treue unter der Bedingung, dass man sich zur Wach­samkeit zwingt. Also, Freund­schaft, ich versuche es noch­mal, wäre das Eintreten in eine mehr oder weniger be­dingungs­lose Treue­be­ziehung unter der Be­ding­ung, dass man intel­lektuell und emotional acht­sam bleibt. Also dass es lebt, dass da nicht etwas ein­schläft, dass es nicht allzu vertraut wird.

Joseph Vogl II

Wenn man euch beide neben­ein­ander­stellen würde, Roger und Dich, dann würde man sagen, ihr wolltet einander nicht folgen. Während Roger ent­gegen den Lockungen der Post­moderne in die Literatur abgebogen ist, gingst du in die Theorie. Du bist ein Theorie­be­geist­erter, hast Dich begeistert für die Franzosen, die damals erstmals übersetzt oder auch im Original in Deutsch­land gelesen wurden. Die Literatur blieb dir den­noch wesentlich. Wie würdest Du in Deinen eigenen Schriften die Beziehung zwischen literarischer und theorie­ge­leiteter Er­fahrung beschreiben?
Ich habe ein Problem mit dem Begriff des Theoretischen (und wieder mit dem der Post­moderne, der »Franzosen«), weil ich glaube, dass »Theorie« heute eine Hilfs­konstruktion ist für be­stimmte Formen der intel­lektuellen Tätigkeit. Wo würde ich den Unterschied …

… Du kannst anstatt »Theorie« auch einen anderen Begriff nehmen.
Ich habe es ja schon versucht: Ver­haltens­lehre des Denkens. Aber ich kann es noch platter sagen. Ich glaube nämlich, dass sehr viele Tätig­keiten, die man selbst ausübt, dadurch motiviert sind, die eigenen Defizite zu kompensieren. Und ich würde für mich selbst zwei solcher Defizite reklamieren. Das eine ist ein fehlendes Talent zum literari­schen Schreiben. Was ich in dieser Richtung versucht habe, vor langer Zeit, hat mich nicht überzeugt. Also besser bleiben lassen. Das andere Defizit: ein schlechtes Gedächtnis. Das fühlt sich zuweilen wie eine Behinderung an. Wie kann jemand Literatur unterrichten, der ständig Roman­schlüsse vergisst und nicht weiß, wie es ausgeht, und sie immer wieder neu lesen muss? Der Zitate vergisst und keine Gedichte auswendig kann? Der sich nicht ganz sicher an die Namen von Protagonisten oder Biographien von Autoren erinnert? Der muss sich den Dingen dann vorsichtig über Begriffe nähern. Oder Texte auf den Nenner einer Problem­kon­stellation, einer Denk­operation bringen. Daran kann ich mich dann erinnern. Solche Defizite führen also zwangsläufig zu anderen Fort­bewegungs­arten im Kopf, um sich die Sachen zurecht zu legen und den Über­blick zu bewahren, vielleicht auch, um die Leute in irgend­einer Weise für eine Sache zu begeistern. Ich kann die Leute nicht mit Anekdoten unterhalten, weil ich – so oft ich sie lese und zu memorieren versuche – die Pointe vergesse.

Das erinnert mich an den Satz, der im Mann ohne Eigenschaften steht: Dass jede Schwäche, jede Not immer in eine Tugend um­gewertet werden muss. So beschreibst Du vom Defizit aus die Qualität Deines Denkens.
Ich ver­suche es jedenfalls. Genauso wie jemand, der nicht hört oder schlecht hört, plötzlich einen schärferen Sehsinn hat oder mehr Auf­merk­samkeit darauflegt. Ich denke, ohne einen Blick für die eigene Be­hinderung, ohne einen Blick dafür, dass man in manchen Dingen schlichtweg ein Freak ist, entwickelt man auch keine produktiven Seiten. Ich erinnere mich, ich denke, das war ein geflügeltes Wort zwischen Roger Willemsen und mir, an diesen Satz von André Gide: Einem Buckligen fehlt nichts. Ein Buckliger ist ein Mensch plus Buckel. Jede Behinderung ist auf eigentümliche Weise auch eine Gabe.

Ihr hattet beide eine große Sensorik für das, was man als das ab­fallende Leben be­schrei­ben könnte. Foucault schrieb über das Anormale. Ihr habt dafür beide eine große Sensorik aufgebaut. Von den ver­meint­lichen Defiziten aus zu denken ist aber auch sehr anstrengend, oder?
Ja, das geht natürlich nicht ohne Ent­täuschungen. Zunächst ist das eine Maschine zur Traum­ver­nichtung. Die Maschine beginnt richtig zu arbeiten, wenn man ungefähr sechzehn Jahre alt ist. Da werden noch Knaben­träume, Ado­les­zenten­träume eingespeist. Wenn man diese Maschine mit einiger­maßen hoher Leistung betreibt, dann sind diese Träume mit Ende Zwanzig vernichtet. Zu dieser Zeit gibt es also so eine Art Ernte­dank­fest, an dessen Schluss ge­schred­derte Träume übrig­bleiben (lacht). Ich glaube, durch solche Ent­täuschungen muss man durch, oder auch gewisse Verfahren entwickeln, Rest­träume oder Traum­reste so zu retten, dass man sie nicht mehr testet: Es gibt vielleicht die Chance, vielleicht würde ich diese oder jene große Sache noch ver­wirk­lichen – aber erst nach meinem Leben.

Seminare müssen auch der Fabrikation von Ent­täuschungen dienen?
Seminare? Nein, keinesfalls. Eher Über­raschungen. Die besten Seminare enden mit einer kleinen Über­raschung am Schluss. – Aber ich meine wirklich Traum­ver­nichtung, Traum­verzicht, die Ab­wicklung narzisstischer Hoff­nungen. Und Horchen auf die wenigen Talente, die dann noch übrigbleiben.

So wie man umfänglich einen Roman vorbereiten kann, den man nie schreiben wird, und zum Beispiel Seminare gibt zur Vor­be­reitung eines Romans, kann man wahr­schein­lich auch sagen: Ich bereite das vor, was ich ohnehin eigentlich nicht vorhabe, aber die Vor­be­reitung selbst, die könnte wichtig werden.
Ja, aber ich würde es vielleicht noch etwas anders for­mulieren. Ich glaube, dass ein Groß­teil der pro­duktiven Tätig­keit – und da würde ich nicht unter­scheiden, in welchem Bereich die exekutiert wird – darin besteht, irgend­wann vorsichtig zu bemerken, dass die über­rasch­endsten Dinge, viel­leicht auch die Dinge mit der größten Be­frie­digung für einen selbst, nicht von dort kommen, wo der Fokus der eigenen Auf­merk­samkeit liegt, sondern oft von der Seite. Man will un­be­dingt einen Roman schreiben, und plötzlich erweist sich das Nach­denken über die Vor­be­reitung des Romans als produktiver als die Nie­der­schrift eines Romans. Oder man plant seit Jahren, ein be­stimmtes Thema zu bearbeiten und verfolgt es auch ganz konsequent und merkt plötzlich, dass nebenan etwas heran­ge­wachsen ist, was zunächst als Bei­läufig­keit erscheint, dann zur Haupt­sache anschwillt. Es gibt also, glaube ich, eine große Pro­duktivitäts­rate in der intel­lektuellen Neben­tätig­keit.

Hattest du solche Erfahrungen?
Ja. Ich versuche seit Ende der 90er Jahre eine größere Sache zu schreiben zu einem ganz be­stimm­ten Thema, lese und exzerpiere, begleitet von der An­streng­ung, immer wieder falsche Thesen zu korrigieren – und es gelingt einfach nicht. Statt­dessen habe ich dann zwei Bücher über Fi­nanz­öko­nomie geschrieben. Das war nicht wirklich vor­her­seh­bar.

Es gibt diesen Satz von Roland Barthes: »Ich bin mehr in die Idee verliebt, einen Roman zu schreiben, als in die Wirk­lich­keit, ihn geschrieben zu haben.« Gibt es ein ideales Denken, das nicht auf seine Ver­wirk­lich­ung schielt, der Du anhängst?
Nein, das würde ich nicht sagen. Das würde ich aus einem Grund nicht sagen. Der Gedanke gefällt mir natürlich: das Denken selbst als Be­wohn­ung, als Ein­wohner­schaft im Möglich­keits­sinn zu begreifen und sich im potentialis aufhalten oder im Hypo­the­tischen. Das, glaube ich, ist aber nicht der Fall, denn man muss sich wohl eingestehen, dass einiges von dem, was man dann treiben will, mit elementaren Wie­der­ständen, Auf­regungen, Ärger­nissen zu tun hat. Ich würde nicht über Fi­nanz­öko­nomie schreiben, wenn ich nicht wirklich von der Sache bedrängt wäre. Dabei gibt es durchaus die kleine Hoffnung, etwas mehr zu tun, als bloß eine Frage zu stellen, und tatsächlich zu inter­ve­nieren.

Haben Dich auf deinem Weg nach Paris Widerstände und Ärgernisse auch schon begleitet?
Eher Flucht­be­we­gungen. Ich glaube, das waren eher Flucht­be­we­gungen, Un­zu­frieden­heit in verschiedener Hinsicht. Die Sache war schlichtweg (zögert) – ich glaube, so muss ich das wohl sagen – bio­graph­isch wie intel­lektuell nach Orten zu suchen, die etwas weniger nach Heimat riechen, in denen eine erfreulich fremde Luft herrscht, oder so.

Was ist in Paris geschehen?
Eigentlich nichts Spektakuläres. Abgesehen davon, dass ich wie viele andere in den Vorlesungen von Foucault, in den Seminaren von Deleuze saß, und sonst eigentlich recht einsam war. Ich lebte in einer chambre de bonne ohne Klo und ohne warmes Wasser und im Winter auch ohne Heizung. Da gab es Einsam­keits­schübe, aber trotzdem hatte ich da im Grunde nichts, überhaupt nichts bereut. Es war eher über­raschend, dass es funktionierte – dass es so funktionierte, dass man sagen könnte: eine gute Zeit. Was ich gesucht habe, war wohl tatsächlich so etwas wie verminderte Autoch­thonie.

Ist das die gleiche Motivation, die Dich analog zu Paris heute alle drei Jahre nach Princeton treibt?
Nein, das geht anders. Es beruhigt, nicht in den selben Räumen mit den selben Bü­cher­wän­den und den selben Aussichten zu altern. Es ist ganz gut, zwei verschiedene Flucht­linien ins Grab zu haben – eine hier und eine dort (lacht).

Du bist dort »Permanent Visiting Professor«. Dieser Begriff ist insofern interessant, als dass er eine Aporie darstellt: ein dauerhafter Besucher ist ja kein Besucher mehr.
Ja, insofern gefällt mir der Begriff sehr gut.

Ist das auch eine Be­schrei­bung deiner eigenen Biografie?
Ja, in einer gewissen Weise. Ich habe darüber noch nicht nach­ge­dacht, aber da Du das erwähnst, wäre das, glaube ich, keine schlechte Beschreibung. Der Zustand des dau­er­haf­ten Besuchers ist nicht übel.

Für Derrida kann man Gast und Gastgeber zugleich sein.
Es sind auch ganz elementare, triviale, prak­tische Angelegenheiten. Änderung der Lebens­weise, Klein­stadt statt Groß­stadt, weniger Betrieb, mehr Lektüren, vielleicht schreiben. Man muss das also gar nicht zu sehr theoretisieren. Es ist einfach eine Lock­erungs­ü­bung, auch eine intel­lektuelle, wenn Lockerung unter anderem darin besteht, cha­mäleon­haft zu reagieren. Also in einem anderen Kontext, in einer anderen Lebenswelt funk­tions­tüchtig zu bleiben.

Als ich vorhin nach der Härte der Institutionen fragte, hast du fast sanft über deinen büro­kra­tischen und be­gut­acht­enden Alltag gesprochen. Du hast mal geschrieben, dass Du 50 bis 60 Prozent deiner Zeit mit derlei Dingen beschäftigt bist. Wie löst das Deine Arbeit auf, oder wie löst sich Deine Arbeit darin auf?
Da müsste ich mehr Sachen dazu sagen. Ich denke, dass eine Institution umgekehrt auch sowas wie einen Schutz darstellt, d.h. Wirk­lich­keit filtert, Le­bens­formen produziert. Ich würde die Institution samt Bürokratie nicht aus­schließ­lich als das, was bei Max Weber das stahl­harte Gehäuse heißt, wahr­neh­men wollen. Ich denke, man kann die Institution auch umgekehrt begreifen: Manchmal sind es wirklich Schutz­dächer. Manchmal kann man sich in der Institution unterstellen, wenn es stürmt. Was jetzt gegen­wärtig besonders problematisch ist, sind die Monstren, die durch De­insti­tution­ali­sierung entstehen. Das heißt also bei­spiels­weise – und das ist überall spürbar – die Ein­füh­rung von Markt­prin­zipien an der Uni­versität, die Ver­schär­fung von Kon­kurrenz­kon­stel­lationen, die Erzeugung von Wett­bewerbs­lärm mit geringsten Mitteln. Bei gleich­blei­bend geringen Mitteln sollen mehr Ver­tei­lungs­kämpfe angeregt werden, um das Gehalt, um frei ver­füg­bare Zeit, um Dritt­mittel, um Personal, etc. Daraus ist ein institutionelles Hybridwesen entstanden, in dem alte kameralistische Institutionen sich mit liberalen, markt­wirt­schaft­lichen Einfällen kombinieren. Und diese Institution ist in gewisser Weise vampirisch geworden. Der einzige Vorzug: Die Universität ist kein abgeschiedener Ort mehr. Sie ist löchrig, und die kalte Zugluft aus der Restwelt bläst herein.

Die Intuition eines Außen­steh­enden wäre da doch, dass Du, wo Du doch durch deine Denk­hal­tung auf besondere Weise bedroht bist, diese Institution verlassen solltest. Warum hast du das nicht längst getan?
Das ist eine gute Frage und ich weiß darauf keine gute Antwort. Außer dieser: die Universität dispensiert einen immer noch weitgehend davon, Geschäfte machen zu müssen. Das ist kein Nachteil.

Vor zwei Jahren habe ich mit jemandem gesprochen, der drauf und dran war, seine Uni­ver­sitäts­karriere entgegen aller Er­rungen­schaf­ten zu beenden. Er meinte dann, dein Einspruch habe ihn mit aufgehalten. Du scheinst in Momenten gar ein Anwalt dieser Institution zu sein.
Wahrscheinlich war mein Rat ganz und gar pragmatisch gemeint. Und das war, glaube ich, nicht falsch.

Stapel mit Papieren

Jede Entscheidung sollte die Optionen erhöhen.

Gehen wir zurück nach Paris. Die Weg­be­we­gung aus Deutsch­land war durch­aus mit Wider­stand und Ärger­nissen ver­bun­den, aber auch mit sehr vielen Hoffnungen.

Das ist jetzt sehr biografisch und daher wahr­schein­lich nicht sehr interessant. Ich erinnere mich an Winter­tage in Paris, an denen ich krank war und nicht aufstehen konnte und der Atem im Zimmer stand – und ich wusste: es wird niemand kommen, es wird niemand klopfen. Liegen bleiben und warten, bis das Fieber vergeht, wie drei Tage. Zwischen­durch hört man Schritte aus dem Trep­pen­haus im sechsten Stock, wo die chambres des bonnes sind, und man wünscht sich, dass sie sich nähern, aber sie waren schnell verhallt. Wahrscheinlich waren es solche Erfahrungen, die mich nach meiner Rückkehr veranlassten, eine Freundin dazu zu überreden, mit mir zusammenzuziehen. Das ging dann sehr schnell schief.

Warum glaubst Du, dass das nicht interessant ist?
Weil sich das wie eine kleine Geschichte anhört und weil sie wahrscheinlich auch gar nicht so stimmt.

Das überzeugt mich nicht.
Nein?

Du hättest ja auch sagen können, du willst dein Werk vor dich stellen. Weil Du glauben magst, Du selbst, Joseph Vogl, seiest nicht ebenso wichtig wie der Text.
Ja, sehr gut gesagt. – Aber das mit dem Werk und dem Zurück­stellen der eigenen Person – ich habe eben jetzt keine Lust, solche ab­ge­schmack­ten oder koketten Dinge zu sagen. Und wenn ich Miss­trau­en bei bio­graf­ischen Fragen hege, so liegt das daran, dass man das eigene Leben dann sofort nach heraus­ra­genden Momenten, großen Um­schwüngen, ent­schei­denden Be­geg­nungen, tief­greif­enden Erfahrungen absucht – und oft nur wenig dergleichen findet. Oder vielleicht Pein­lich­kei­ten oder Unfälle. Ein Beispiel, biografisch. Meine Begegnung mit Gilles Deleuze in Paris halte ich immer noch für eine entscheidende. Ich saß in seinem Seminar, aufgeregt und voller Bewunderung, hatte die tollsten Einfälle dabei. Und ich musste sie unbedingt veredeln, das Gespräch mit Deleuze suchen. Ich raffte also allen Mut samt Französisch zusammen, in einer Pause, und da sich im Seminar alle duzten (es war ja eine linke Re­form­uni­versität), fing ich ungefähr so an: »Gilles, ich hab da eine Idee, ein Thema, ich würde gerne über Phä­no­me­no­lo­gie, Anti­psy­cho­logie und Ex­press­ion­ismus arbeiten, etc.« Ich war ja jeden zweiten Abend im Kino, das Seminar handelte vom ex­press­ionis­tischen Film, und gerade war Bergson dran. Aber Deleuze trat bloß drei Schritte zurück, schaute mich an und sagte: »Monsieur, Monsieur, das ist ein sehr interessantes Thema. Wir könnten zehn Stunden darüber reden. Also lassen wir es besser.« Das war meine erste Begegnung mit Deleuze; oder so ähnlich (lacht). Die wirkliche Begegnung habe ich dann später nachgeholt, mit Über­setz­ungen seiner Bücher. Das war dann mein eigener, selbst gebastelter Gilles Deleuze, und der konnte sich nicht wehren.

Ist das ein Gehen entgegen dem geringsten Widerstand?
Nein. Ich habe nur gelernt, dass es einen Unterschied macht, ob man Namen und Personen oder intel­lektuelle Ressourcen sammelt. Und dass man seine Autoritäten, wenn sie noch leben, nur behelligen sollte, wenn man mit echten Fragen auf echte Antworten hoffen kann.

Wie verfährst Du mit Deinen Doktoranden?
Nach deren Begehr.

Wenn sie wollen, liest du jedes Kapitel?
Ja.

Mit deiner Doktorarbeit ist es gut gegangen, mit der Habilitation, einem ähnlich riskanten Projekt, ist es auch gut gegangen. Danach bist Du nach Weimar gekommen. In diesen riskanten Momenten, in denen man so fragil in seinem Pariser Altbau sitzt, allein, erscheint manches un­wahr­schein­lich und könnte immer schief­gehen. Aus der heutigen Perspektive aber scheint es, als wäre alles sehr, sehr gut gegangen. Hast Du das Gefühl, dass Du Dir immer wieder ein Glück vorzeigen musstest? Dass Du Dir dieses Glück nicht ausreden lässt?
Darüber denke ich nicht nach. Ich sitze nicht wie Robinson auf seiner Insel und rechne Soll und Haben gegeneinander auf. Wenn ich es täte, würde ich im Rückblick auf diesen oder jenen Au­gen­blick wahrscheinlich sagen müssen: Glück gehabt. Und fest­stellen, dass man wohl mit einer großen Menge an Zufällen, mit ein paar unklaren Absichten und sehr wenig Vorsätzen durchs Leben gesteuert ist. Und wenn ich immer wieder etwas in Erinnerung rufen muss, dann wäre das vor allem Dank­bar­keit darüber, dass mir in kritischen Momenten geholfen wurde.

Als Du in Paris warst, war Roger Willemsen in Italien. Dann habt ihr in München zu­sammen­gewohnt, schließlich ging er nach London und Du nach Berlin. Rogers Briefe an Dich wurden teils veröffentlicht; er jammerte ein wenig. Wie sahen deine Briefe aus?
Ich glaube, sie waren wohl recht elaboriert. Und standen im Bann von Roger Willemsens eigener Schreib­lust, einer großen Kunst, sich im Schreiben gleichzeitig an andere und an sich selbst zu adressieren. Er konnte eine schrift­liche Existenz führen, mit dem No­tiz­buch durch die Tage und auf Reisen gehen, Beo­bacht­ungen, Be­ge­gnun­gen, Dialoge sammeln. Für mich dagegen ist Schreiben stets eine Quälerei, Qual für den Rücken, Mühe bei der Suche nach Worten, Un­zu­frie­den­heit mit Sätzen und Formulierungen.

Dein Denken ist ereignishaft und auch begrifflich. Der Begriff neigt sich zum System wie sich das Ereignis zum Literarischen neigt. Da muss es doch in der Mitte eine Reibung geben?
Ich hatte vorher ja klar­zu­machen versucht, dass ich gerade keine Reibung oder Spannung zwischen Ereignis und Begriff sehe. Aber vielleicht ist auch etwas anderes gemeint, etwas Habituelles, das Navigieren in Lebens­lagen. Und da wurden sicher Divergenzen bemerkbar, vielleicht sogar produktive, vielleicht sogar Ergän­zungen. Was etwa Roger Willemsen und mich angeht (und darauf bezieht sich ja die Frage?), so war eines sehr schnell klar: Er war ein guter Reisender, ich bin ein miserabler Reisender. Ein guter Reisender ist einer, der erstens keine Risiken scheut, zweitens einen genauen Blick fürs Fremde und Andere hat und drittens – wie soll ich das formulieren – auch mit einer gewissen Ob­dach­losigkeit umgehen kann. Ich bin erstens nicht besonders kühn oder mutig, muss zweitens auf das Bedeutende und Ungewöhnliche hingewiesen werden und vermisse drittens sehr schnell manche Bequemlichkeiten.

Das heißt, ein literarisch Schreibender ist ein Reisender schon auch der Tätigkeit nach, und jemand, der schreibt wie Du, ist einer, der Routen legt und die dann abgeht?
Besser und anders gesagt: Für den Reisenden gehört, glaube ich, auch eine bestimmte Form der Er­wartungs­freude dazu, und die ist nicht ohne Optimismus zu erhalten. Die verminderte Reiselust ist mit einem leicht düsteren Blick verbunden: Ich werde eh überall dasselbe sehen – mir wird in der Ferne McDonald's entgegenkommen, warum muss ich das dort erleben? Ich würde das so formulieren: Reisen und gutes Reisen heißt Erwartungsfreude, und bei mir würde ich von Erwartungsunlust sprechen.

Vielleicht hängt das auch mit der Ein­gangs­be­schreibung zusammen, die sich im Laufe des Gesprächs als sehr prominent erwiesen hat. Dass Du Fragen an Texte hast und nicht an Menschen. Wenn man Texte sehr eng fasst und, sagen wir mal, Bücher und Texte und das Textliche, also tatsächlich Schrift, meint, und »Men­schen« eher zwi­schen­mensch­liche Erfahrung bedeutet, die man gerade beim Reisen mit einer ganz feinen Sensorik wahrzunehmen hat, weil das viele fremde Sprech­wei­sen und Rituale und Le­bens­wei­sen sind – entdeckst du am Text etwas, das dich vertrauen lässt? Weil Du vielleicht auch stärker seine Reize kontrollieren kannst?
Ich leide sehr schnell an so etwas wie sozialer Erschöpfung. Ich muss das jetzt auch nicht mehr parallel führen zu Roger Willemsen, aber vielleicht noch eine allerletzte Bemerkung dazu. Für ihn zählte der emphatische Moment, der epiphanische Moment, der Moment der Ansteckung und der Inspiration. Das reicht bis in die Schreib­wei­se: Bei aller genauen, sezierenden Betrachtung blieb in seinen Texten stets eine Neugierde spürbar, die man wohl philanthropisch nennen muss. Ich habe mich eher aufs Schwarzmalen verlegt, reduzierte Mensch­freund­lich­keit. Vielleicht bin ich so auch an die letzten Gegenstände gelangt, dysphorisch gestimmt, also an Dinge wie die Finanzmärkte.

Hast Du das Gefühl, dass Dir das mit der politischen Ökonomie oder dem Fi­nanz­system jetzt mit diesen letzten zwei Büchern gelungen ist?
Das weiß ich nicht. Aber für mich sind sie wenigstens durch die aufgewendete Anstrengung gerechtfertigt, durch die Anstrengung, vor dem, was unsere Gegenwart wie nichts anderes prägt, also vor dem aktuellen Finanzregime nicht vorschnell intellektuell zu kapitulieren. Nicht kapitulieren, ja, darum geht es mir.

Weil sich Joseph Vogl noch mit der Universitäts­präsidentin treffen muss, verbringen wir die Mittags­pause, die für ihn keine ist, getrennt. Als wir uns wieder vor dem Gorki-Theater treffen, setzen wir uns vor einen Bau­zaun auf eine Bank ohne Lehne. Und dann passiert uns der stereo­type Fehler, ein tech­nischer Fehler. Plötz­lich ist der zweite Gesprächs­teil verloren. Wir sprechen über Aus­wege und ähnliche Unfälle.

Die Dächer Berlins aus Josephs Büro gesehen

Wir haben gerade eine halbe Stunde lang über Sicherheit und Un­sicher­heiten gesprochen. Und haben diese Aufnahme verloren. Meinst Du, es tut Gesprächen gut, wenn sie Dinge, die gesagt wurden, nicht mehr nach außen sichtbar machen können?
Also meine Erfahrung ist, dass ein verlorener Text eine produktive Gelegenheit sein kann. Mir sind diese Dinge passiert, unter anderem mit einer Übersetzung, Differenz und Wiederholung von Gilles Deleuze vor langer Zeit, wo ich einen Fehler gemacht habe und auch die Sicherheitskopien überschrieben habe mit einer kaputten Datei.

Du musst dazu sagen, wie viele Seiten Du verloren hast.
250 Seiten ungefähr, 200 bis 250 Seiten. In meiner Verzweiflung habe ich beim Landes­kriminal­amt angerufen, die hatten gerade gelöschte Dateien in einem Rausch­gift­fall wie­der­her­stel­len können. Gelächter am anderen Telefon. Aber auch der Hinweis auf einen jungen Typen bei der Münchner Rück, Feh­ler­spezialist und Feuer­löscher. Der hat sich erbarmt, konnte an zwei Abenden ein Patchwork aus achtzig Seiten wieder sichtbar machen, nicht ohne Kopf­schüt­teln über einen so seltsamen Text. Er wollte nicht bezahlt werden, ich konnte ihn nicht bezahlen, mit einem Jahres­abonnement von Auto­Motor­Sport habe ich mich dann bedankt, beid­seitige Zufriedenheit. Fazit aber: die Übersetzung ist dadurch schlicht besser geworden – mit der vagen Erinnerung an den alten Text haben sich dessen Schwächen scharf gestellt.

Und so wie man einem Buch, indem man es neu schreibt, und einer Übersetzung, indem man sie neu schreibt, Qualitäten und Tiefe einschreibt, die sie vorher nicht hatten, so kann es mit Gesprächen ja auch sein. Wir haben gesprochen über die Sicher­heit als ein Geschick, mit Un­sicher­heiten umzugehen. Und dass das etwas ist, was man in unserer Zeit, die man als eine Zeit des Umbruchs beschreibt, lernen muss. Jetzt sprechen wir aus eben diesem dunklen Raum heraus und können entscheiden, was wir daraus heben sollen. Es scheint, als würde dieses Gespräch just ein wenig aufklaren. Liegt etwas Hoff­nungs­volles in dieser Vor­stel­lung eines zweiten Versuchs?
Ich werde wohl beim Schwarz­malen bleiben, auch im zweiten Versuch, dazu bin ich talentiert. Aber ich würde nie behaupten, dass das mein Endurteil wäre. Glück­licher­weise gibt es da Arbeits­teilung, Schwarz- und Bunt­malerei, wie ich das in der Begegnung mit Alexander Kluge gelernt habe. Wo ich misanthropisch bin, ist er philanthropisch, wo ich misstrauisch bin, predigt er Vertrauen, wo ich erregt bin durch gegenwärtige politische Zumutungen, geht Kluge ins Pleistozän zurück.

Da gibt es also ein Un­ver­nehmen zwischen Dir und uns. Wo wir noch die Hoffnung haben, zum Beispiel auf die Entstehung neuer Solidar­milieus, auf produktive Ge­mein­sam­keiten, auf deren politische Wirksamkeit, würdest Du zögerlich reagieren. Aber vielleicht gibt es eine verbindende Perspektive: Was historisch einmal möglich war, muss auch jetzt möglich bleiben.
Ja. Ich würde aber nur zu bedenken geben, dass es heute sehr starke Gegenkräfte gibt: Konkurrenz, Atomisierung überall und eine Lage, in der die Abneigung aller gegen alle zu einer Art neuem Ge­mein­schafts­ge­fühl geworden ist, wie Musil das einmal gesagt hat. Das spricht aber nicht gegen einen Optimismus, den man zwar nicht unbedingt fühlt, der aber praktisch eingebaut ist in Tätigkeiten. Das politische Intervenieren gehört dazu, nach Hannah Arendt ja ein Handeln-in-Gemeinschaft, zwangsläufig. Und wahrscheinlich gehört auch Lehren dazu. Das funktioniert ja nur mit der Unterstellung, dass es Gemeinsamkeit gibt, geben wird, über Generationen hinweg. Einen alterslosen Kern, vielleicht eine der besten Seiten der Universität.

Wenn Universitäten inter­ge­neratio­nell angelegt sind, dann gelingen sie doch auch nur dort, wo die Weiter­gabe von Wissen, seine Organisation und auch der Wissens­an­bau, funktioniert.
Ja, aber als reziproke Angelegenheit: Man legt die Neugierden zusammen, sucht gemeinsam nach frischer Luft. Im besten Fall kommt dann die Neugierigkeit der Jüngeren auf die Älteren zurück.

Man kann sich anstecken lassen, muss sie aber auch verwandeln.
Natürlich. Das wäre dann ein gewisses Ge­gen­mittel gegen intel­lektuelle Schläfrigkeit. Ich würde sagen, über Generationen hinweg kann man sich am besten über die Bekämpfung von Schläfrigkeit verständigen.

Du hast gesagt, dass man in der Akademie auf einen alters­losen Kern stößt. Woran liegt das?
Das liegt daran, dass man sich in diesen Regionen, wenn man noch keine innere Kündigung vollzogen hat, schlichtweg nicht darauf verlassen kann, dass man mit einem einmal und einstmals gesicherten intellektuellen Bestand sich einigermaßen grazil weiter fortbewegen kann. Die Dinge veralten einem oder altern einem in der Seele weg, sozusagen. Der Zwang, Texte zu lesen, an die man nie gedacht hätte, intellektuelle Osmosen, gegen die man sich nicht wehren kann, die Zu­mu­tun­gen an den Rest­ehr­geiz, wenn einem ein unbekanntes Gedankending präsentiert wird. Da können kahle Seminarräume plötzlich möbliert werden durch intellektuelle Präsenz. Eine erfreuliche Angelegenheit.

Das Gespräch ist vorbei. Doch wir wollen ihn noch »IRL« zeigen. Es ist spät geworden, die Zeit ent­gleitet uns zusehends und dann setzt der Regen ein. Auf Wieder­sehen, Joseph! Hoffentlich.

Ein knappes halbes Jahr später sehen wir uns in Frank­furt wieder. Er ist in Eile. »Wie geht es dir?« — »Müde.«

Wir sprachen mit Joseph Vogl am 27. Juni 2019 am Berliner Gorki-Theater. Wir haben das Gespräch fortgesetzt.

Produktion: Max Farr, Pia Amelung, Simon Böhm
Fotografien: Holm-Uwe Burgemann

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#9 Joseph Vogl
Kapitel I–III
I Komplexität lehren
II Defizite kompensieren
III Ressourcen sammeln

Der Bestürzung über haltloses Schwafeln fielen zum Opfer: Rogers Geheimnis, Berlin als Unmöglichkeit, Einsamkeits­belege, Roger als Mitbewohner, das Verhältnis von Düsternis und intellektueller Lust, das Misstrauen gegenüber ökonomischer Expertise, Leerstellen der Kritischen Theorie, akademische Selbstrevolutionen.

»Man spürt, dass die kleine, die kleinst­mögliche Geschichte, wenn man sich ihr überlässt, nachdenklich macht. Nichts weiter und nichts mehr als nachdenklich. … Nach­denklich­keit heißt: Es bleibt nicht alles so selbst­verständ­lich, wie es war. Das ist alles.« (Hans Blumenberg in seiner Dankrede zum Sigmund-Freud-Preis)

»Wahr­schein­lich kann man Land­schaf­ten immer nur symbolisch sehen, das heißt, sie entsprechen einer inneren Situation, sie kor­re­spon­dieren mit einer see­lischen Ver­fas­sung. […] Die Enden der Welt sind überall und nirgends. In jedem Fall aber endet die Welt in uns.« Roger Willemsen in Insa Wilke, Der lei­den­schaft­liche Zeit­ge­nosse. Zum Werk von Roger Willemsen, S. 134.

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