Unsere Ankunft im Deleuze-Guattari-Stockwerk, zu dem uns Isabelle Graw über die Gegensprechanlage gelotst hatte, damit wir das DG, das Dachgeschoss, nicht verpassen, ist noch von dem Drängen und Gemurmel geprägt, dem man in Berlin-Mitte nicht entkommen kann und das der Grund ist, warum viele immer noch hier wohnen. Wären wir andere gewesen, sagt sie uns noch an der Türschwelle lachend, hätte sie uns zu Dolce & Gabana geführt. Sie ist ja eine Kunstperson. Und doch ist der Eintritt in die Wohnung der Kunsttheoretikerin der Eintritt in eine phantastische Welt, die, sobald die Tür erstmal zugezogen ist, real wird. Ein langer Gang führt uns durch die Wohnung, an dessen Ende ein sorgfältig bepflanzter Südbalkon liegt. An einem Sommertag wie diesem verdeckt das Blattwerk der Bäume ringsum den Fernsehturm. Sonderbar still und ornamental ist es so, als befänden wir uns in Florenz.
Auf dem Küchentisch, an dem wir jetzt zum Gespräch Platz nehmen, liegen Wasserglas, Papier und Stift. Die Lebensmittel der Intellektuellen. Und wenn es in der Großstadt Räume behutsam gehüteter Intimität gibt, dann sind es wohl diese kitchen table spaces. Auch, weil sie in diesem Fall behangen sind mit allerlei Persönlichem, oder wäre das zu schnell geschrieben? Isabelle Graw jedenfalls empfängt uns mit Proteinriegeln, die oft das Mittag ersetzen würden, und mit Chai Latte. An der Wand hängt eine Fotografie, die stumm die junge Ulrike Meinhof zeigt und uns daran erinnert, dass es Anerkennung nicht umsonst gibt und Revolutionen mehr brauchen, als dass man sie sich wünscht.
Sie haben uns jetzt zu sich nach Hause eingeladen, für das Gespräch. Was ist das für ein Ort, ihr Zuhause?
Das Zuhause ist für mich ein nicht ganz unproblematischer Rückzugsort, weil es sich zugleich um eine Arbeitszone handelt. Mein Arbeitszimmer befindet sich in meiner Wohnung, was auch damit zu tun hat, dass ich leider nicht dazu in der Lage bin, in einem Büro konzentriert zu schreiben, wenn dort unausgesetzt das Telefon klingelt. Ich habe, was das Schreiben betrifft, eine Proust’sche Disposition, auch wenn dieser Vergleich vermessen erscheint. Dass Proust der Legende nach seine Wände mit Kork ausschlagen ließ, um sich gegen Geräusche von draußen abzuschotten, kann ich gut nachvollziehen. Ich bin ähnlich gestrickt. Sobald zum Beispiel, was selten vorkommt, die Straßenbahn im Zuge einer »Betriebsfahrt« an meinem Arbeitszimmer vorbeifährt, gerate ich in Panik.
Mein Zuhause ist also eine gelegentlich durch Lärm bedrohte Produktionsstätte, in der ich während der Pandemie viel Zeit verbracht habe. Hier lebe ich auch mit meiner Patchworkfamilie – in dieser Küche, in der wir jetzt sitzen, kommen wir zum Essen und Diskutieren zusammen. Vor der Pandemie haben hier auch zahlreiche Treffen mit Freund:innen stattgefunden. Mit der Pandemie ist es ein Ort geworden, der sich sehr auf die Kernfamilie beschränkt hat. Pandemiebedingt wurde mein Arbeitszimmer auch zu einem Ort der Lehre. Von hier aus habe ich meine Online-Veranstaltungen und Zoomvorträge gehalten. Auch sportliche Betätigungen fanden im Arbeitszimmer statt – die Online-Barre- und Yogakurse, die ich mache.
Man könnte sagen, dass mein Leben jetzt in den letzten anderthalb Jahren integral, in all seinen Aspekten, hier stattgefunden hat. Dass alle zuvor im Außen verorteten Aktivitäten in dieser Wohnung stattfanden, empfand ich manchmal als sehr bedrückend, ich fühlte mich mitunter wie eingeschlossen. Zwar halfen mir die obligatorischen Spaziergänge durch mein Viertel in Berlin-Mitte, doch irgendwann kam es mir so vor, als würden alle nur noch wie Kettenhunde ihre vorgezeichneten Wege gehen. Jetzt wird langsam wieder so etwas wie ein öffentliches Leben möglich und man kann wieder mehr Zeit im Außen verbringen. Aber so war das und ich hänge sehr an dieser Wohnung, weil meine Tochter in ihr groß geworden ist – wir leben seit ihrer Geburt 2006 hier.
Es scheint mir zur Routine der Gastgeberin zu gehören, neben Wasser und Kuchen auch die Bilder an den Wänden zu erklären. Ich frage mich, wenn Sie jetzt sagen, dass Sie sich in der Arbeit ganz proustisch verstehen: Was ist die Funktion der Bilder an den Wänden eigentlich für Sie selbst? Sind das Requisiten Ihrer Arbeit? Haben sie eine Memoirfunktion? Sind das kleine Madeleines?
Das ist eine interessante Frage. In dieser Küche hängen zum Großteil Editionen von Texte zur Kunst – also Kunstwerke, die die Zeitschrift seit 1990 in Auflagen produziert. Es sind Souvenirs für mich, weil mich die Arbeiten an die Interaktionen mit ihren Urheber:innen erinnern, die sich großzügigerweise dazu bereit erklärt haben, uns mit einer Arbeit zu unterstützen. Oft habe ich diese Arbeiten persönlich akquiriert, manchmal auch selbst ein Motiv vorgeschlagen. Zwischen den Editionen hängen Geschenke von befreundeten Künstler:innen. Durch diese Bilder scheint auch die Geschichte der Textproduktionen. Jede dieser Arbeiten repräsentiert also eine ganz spezifische, soziale Beziehung.
Es gibt auch die ästhetische Dimension. Das Schöne an den in meinem Schlafzimmer hängenden Bildern von Jutta Koether oder Merlin Carpenter ist für mich, dass ich immer wieder etwas Neues in ihnen entdecke. Beim Bild von Merlin Carpenter, das damals in dieser Opening-Serie entstand, muss ich daran denken, wie er es in der The Corner Boutique in Berlin während der Eröffnung gemalt hat. Viel Geschichte verdichtet sich in diesen Arbeiten, sie gehören zu mir.
Andererseits gehöre ich nicht zu denjenigen Kunsthistoriker:innen, die vor der Kunst auf die Knie fallen und sie uneingeschränkt »lieben«. Ich glaube, mein Zugang ist sowohl affektiv als auch sozialwissenschaftlich: Für mich lässt sich das, was bei einem Kunstwerk auf dem Spiel steht, nur verstehen, wenn man seine Entstehungsbedingungen annähernd rekonstruiert. Aber dieser Kontext ist zugleich nicht im objektivistischen Sinne gegeben und die Bedeutung des Kunstwerks erschöpft sich nicht in ihm.
Ich verstehe das so, dass die Bilder einerseits konservieren und dokumentieren, dass Sie aber genauso – denn so klingt das auch für mich – in einem beinahe romantischen Gedanken ein Fenster sind, das man öffnet, wenn man das Bild benutzt. In der Geopolitik gibt es diesen Begriff der »Securitization«, der Versicherheitlichung; wo man dann an große Staaten denkt, die sich ihrer selbst sicherer sein wollen. Gibt es das nicht auch hier, also für Sie, dass diese Bilder in gewisser Weise dem Ich, das hier arbeitet, aufzeigen, vielleicht auch reflektieren, was es ist?
(Denkpause) Ich denke nicht, dass ich mich mit diesen Bildern meiner selbst versichern oder dass ich mich in ihnen finden kann. Eher verliere ich mich in ihnen.
Vielleicht sollte ich noch die Wertdimension dieser Kunstwerke erwähnen. Ich habe gerade den Roman Real Estate von Deborah Levy gelesen. Die Protagonistin/Autorin unternimmt darin den Versuch, ihr Leben in Begriffen des Besitzes zu bilanzieren, auch im Sinne eines »property portfolio«. Am Ende kommt sie zu dem Schluss, dass es nicht das ersehnte Haus am Meer ist, das ihr »property portfolio« ausmacht. Ihr relevanter »Besitz« sind die von ihr geschriebenen Bücher. Nur vergisst sie zu erwähnen, dass man mit Büchern in der Regel nicht genug Geld verdient, um sich eine Immobilie am Meer leisten zu können.
Das ist bei Werken der bildenden Kunst anders. Oft werden sie zu hohen Preisen auf dem Kunstmarkt gehandelt, man könnte sich mit manchen von ihnen eine Eigentumswohnung finanzieren. Zwar werden die Auflagenobjekte, die hier in meiner Küche hängen, niemals einen derart hohen Marktwert erzielen. Aber all meine Kunstwerke zusammengenommen könnten mir eines Tages vielleicht dabei helfen, meinen Traum von einer Wohnung in Nizza wahr werden zu lassen. Zugleich ist das, was hier hängt, auch eine Art Sozialgeschichte von mir. Die Werke zeigen, dass ich in soziale Beziehungssysteme, wie dem Kunstbetrieb, die an den Wänden in Form von materiellen Trägern ihre Spuren hinterlassen haben, eingelassen bin.
Wenn Sie Spuren sagen, frage ich mich, ob die Hängung der Bilder einer bestimmten Reihenfolge gehorcht. Würden Sie die Bilder genauso wieder aufhängen, wenn Sie umziehen müssten?
Nein, das war eher so, dass ich eine Edition aufgehängt habe, wenn sie mir besonders gut gefiel. In dieser Küche habe ich mich für das Prinzip einer dichten Petersburger Hängung entschieden – und Sie sehen auch nur eine kleine Auswahl aus allen TZK-Editionen. Inzwischen ist kein Platz mehr an den Wänden. Was jetzt noch kommt, würde ich in meinem Lager deponieren oder ich muss Dinge austauschen.
Ich hänge regelmäßig um, vor allem in meinem Schlafzimmer. Im Bett liegend brauche ich bestimmte visuelle Erlebnisse. Die funktionieren eine Zeit lang sehr gut. Und irgendwann kommt die Zeit für eine neue Vision, für einen anderen Input. Kommt eine neue Arbeit hinzu, ist ihre Hängung aber oft auch pragmatischen Erwägungen geschuldet, nach dem Motto: Wo ist noch Platz?
Heißt das, die Bilder haben auch etwas von einem self-fashioning? Dass Sie sich auch persönlich andere Stile geben, indem Sie die Bilder umhängen, indem Sie dann anders aufwachen, mit einem anderen Blick auf ein anderes Bild.
»Self-fashioning« klingt wirklich so, als ob ich mein Selbst über diese Bilder entwerfen würde – ich glaube, das ginge mir zu weit. Ich würde eher sagen, je nach Stimmung gibt es ein Bedürfnis nach veränderten Wahrnehmungserlebnissen, zum Beispiel vor dem Einschlafen. Aber neben den Bildern sind es ja vor allem die Kleider, die ich trage und die Bücher, die ich lese, die zu meinem »self-fashioning« beitragen. Nur nehmen die Kunstwerke in dem Raum, in dem wir jetzt sitzen, sichtbar mehr Platz ein als meine Bücher oder meine Klamotten.
Die Kunstwerke, die hier hängen, haben aber meinen Geschmackstest bestanden. In dem, was wir hier sehen, manifestieren sich von daher auch Ein- und Ausschlüsse: Ich habe eine bestimmte Auswahl vorgenommen und anderes weggelassen, das vielleicht früher für mich wichtig war. Ich bekenne mich also zu einem bestimmten Zeitpunkt zu bestimmten Praktiken. Die Arbeiten positionieren mich innerhalb des künstlerischen Feldes, sie zeigen meine Nähe zu bestimmten Galeriezusammenhängen, Geschichten, und so weiter. Wer sich hier umsieht erkennt auch, in welcher Generation und mit welchen Künstler:innen ich groß geworden bin. All das lässt sich ablesen.
Das ist auch eine sehr gute Frage, weil es dazu eben kaum Literatur gibt. Der Kunstmarkt ist notorisch intransparent. Solche Tauschgeschäfte, wie etwa Bild gegen Text, kamen schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor. Ich habe mich mit diesen Praktiken einmal am Beispiel des Malers Jean Fautrier befasst, der in den 1940er Jahren seine Kritikerfreunde Jean Paulhan und Francis Ponge geradezu angefleht hat, sich doch im Tausch gegen ihr Manuskript eines seiner Bilder auszusuchen. Die kulturelle Hierarchie war damals in Frankreich eine andere – auf Platz eins waren die Schriftsteller:innen und die Kritiker:innen – und die Maler:innen sozusagen dankbar, wenn ihnen die entsprechenden Katalogtexte geliefert wurden.
In den 1990er Jahren hat der Kunstmarkt jedoch einen Strukturwandel durchlaufen, den ich in meinem Buch Der große Preis diskutiert habe. Er wurde globaler, industrieförmiger, der Markterfolg wurde auch zum wesentlichen Kriterium künstlerischer Bedeutung und große Summen standen nunmehr auf dem Spiel. In dieser Phase der 90er verloren die Kritiker:innen, zumal in der Auktionssphäre, an Definitionsmacht und hatten prinzipiell nicht die Möglichkeit, mit ihren Arbeiten einen dem bildenden Künstler vergleichbaren Markterfolg zu erhalten.
Bei der Geschenkpraxis könnte es also auch darum gehen, diese Ungerechtigkeit ein wenig auszugleichen, um die Kritiker:innen an der von ihnen ja durchaus mit mitverursachten zukünftigen Wertsteigerung des Kunstwerks zu beteiligen. Ponge gehört für mich zu den wenigen Kritiker:innen, die auf die materiellen Hintergründe ihrer Texte anspielen. In Three Cases of Value Reflection habe ich mich mit einer Passage in seinem Text über Fautrier befasst. Er schreibt dort: »Und was werde ich für diesen Text bekommen? Ein oder zwei Bilder.« Ich habe dann im catalogue raisonné von Fautrier recherchiert, ob sich irgendwo zwei Bilder aus einer Sammlung Ponge finden, habe aber nichts entdecken können. Es ist letztlich auch egal, ob Ponge in seinem Text die Wahrheit sagt. Entscheidend ist für mich, dass er überhaupt auf den Austausch von Bildern und Texten, auf die »deals« verweist, die manchmal stattfinden, ohne dass das jemals an die Öffentlichkeit geriete, geschweige denn besprochen würde oder systematisch analysiert worden wäre.
Was macht das mit dem Verhältnis der Kritik zum kritisierten Objekt, wenn es diese Verwicklungsgeschichte gibt? Die Bedeutungszuschreibung, aber auch die Wertpotenziale, die in diesen Anlageobjekten, wenn man sie denn so beschriebe, stecken.
Man könnte die Frage noch grundsätzlicher stellen: Was passiert eigentlich, wenn Kritiker:innen, Kunsthistoriker:innen mit den »Gegenständen« ihrer Reflexion, also mit den Künstler:innen, über deren Arbeiten sie schreiben, befreundet sind? Ich glaube, dass das eine Verwicklung ist, die nicht ohne ist. Im schlimmsten Fall bedeutet es eine Hofberichterstattung auf Seiten der Kritiker:innen, weil man miteinander befreundet ist und sich den privilegierten Zugang zu seinen Informationen nicht verderben will. Statt die künstlerische Arbeit als einen Problemzusammenhang zu reflektieren, wird sie mit kunsthistorischen Referenzen überhäuft und dadurch nobilitiert. Niemand möchte Ärger haben und alle wollen auch in Zukunft noch zum Dinner nach der Eröffnung eingeladen werden.
Ich habe stets versucht, auch an Arbeiten meiner Freund:innen Kritik zu üben – allerdings vorsichtig und ohne damit das ganze Projekt in die Tonne zu treten. Es kann dabei nicht schaden, wie Ponge auf seine eigenen Verwicklungen im Text selbst zu sprechen zu kommen, wie ich es zuletzt anlässlich eines Vortrages über ein Bild namens Isabelle von Jutta Koether getan habe. Trotz Verwicklung muss es möglich sein, die von Luc Boltanksi beschriebene Distanz zu wahren, eine Distanz, die Boltanski zufolge immer fiktiv bleiben muss und dennoch absolut notwendig erscheint. Es ist eine Distanz unter der Bedingung von Involviertheit und Verstrickung.
Für mich ist Kunst ohnehin nur dann interessant, wenn sie einen Problemzusammenhang darstellt, wenn sie sich selbst als Problem ausgibt und mir also Probleme bereitet. Auch im Rahmen eines Katalogtextes – ein Genre, indem die Texte zwangsläufig apologetisch funktionieren – möchte ich produktive Einwände erheben können. Und Gespräche mit Künstler:innen suche ich ebenfalls kontrovers zu gestalten.
Jetzt könnte man natürlich sagen, dass mir diese Freiheit der Kritik von den Institutionen in einer Art repressiven Toleranz gerne eingeräumt wird, denn nichts tut der Sache mehr gut als eine Kontroverse und ein paar Einwände. Aber eine solchermaßen totalisierende Argumentation scheint mir sämtliche Handlungsmöglichkeiten einzukassieren. Mich interessiert, mir innerhalb dieser Tauschverhältnisse eben doch Freiräume herauszuspielen und dabei nie so zu tun, als stünde ich außerhalb dieses Feldes, sondern klarzumachen, ich bin auch Akteurin, und nicht neutral.
Also sind Sie als Kunstkritikerin eine Auftragsnehmerin?
Nicht nur, zum Glück. Zwar bietet man mir ab und zu Aufträge an, die ich annehme, wenn sie mich inhaltlich interessieren und wenn sie auf der aktuellen Linie meiner Forschung liegen. Aber ich würde mich weniger als Kunstkritikerin, denn als Kunsttheoretikerin bezeichnen wollen, weil ich meine eigene theoretische Agenda habe, die ich systematisch verfolge. Wenn ich mich also für die Sonderstellung der Malerei seit der frühen Neuzeit oder für die besondere Wertform des Kunstwerks interessiere, dann schlägt sich das auch in den Auftragstexten, die ich schreibe, nieder. Und neben meiner kunsttheoretischen Arbeit praktiziere ich seit einigen Jahren ein selbstbestimmteres literarisches Schreiben, welches zu In einer anderen Welt führte. Gerade habe ich ein anderes literarisches Projekt abgeschlossen – einen Roman über den »Nutzen der Freundschaft«.
Ich hatte das auch so gefragt, weil natürlich, wenn man von einer Tauschgesellschaft spricht und davon, dass die Auftraggeber sich etwas von Ihrem Katalogtext erwarten, schnell der Eindruck aufkommt, dass Sie, ungeachtet ihrer eigenen, systematischen Absichten, in der Außensicht letztlich eine Dienstleisterin sind.
Beim Schreiben des soeben erwähnten Buchs Vom Nutzen der Freundschaft habe ich viel darüber nachgedacht, ob ich innerhalb des Feldes der Kunst womöglich den Platz einer Dienstleisterin einnehme. Ich glaube, ich habe dieses Spiel mitgespielt; und zugleich eben auch nicht, indem ich versucht habe, meine Texte zur Kunst von dieser modernistischen Idee von Kunstkritik als Vermittlung zu lösen.
Im Idealfall finden sich in den Arbeiten selbst materielle und epistemologische Anlässe für eine theoretische Auseinandersetzung. Seit der Conceptual Art haben die Künstler:innen die Theoretisierung ihrer Arbeit ja ohnehin zunehmend selbst in die Hand genommen, ohne dass in ihren Theorien die »wahre« Bedeutung ihrer Arbeiten zu finden wäre.
Mit meinem letzten Buch In einer anderen Welt habe ich allerdings das Experiment gewagt, mich nicht mehr nur in den Dienst der Kunst zu stellen, sondern zugleich Anspruch auf eine eigene literarische Produktion zu erheben. Ich versuche, mein analytisches Interesse auch an der Frage, wie sich so etwas wie Affektproduktion in der Sprache überhaupt festhalten lässt, zu verbinden. Wobei durchaus auch kunstkritische Beobachtungen in dieses Buch eingeflossen sind. Und meine Herangehensweise an gesellschaftliche Phänomene zeugt wahrscheinlich auch von meiner kunstkritischen Sensibilität. Aber ich glaube schon, dass ich mit diesem Buch versucht habe, neues Terrain zu erobern.
Nun ist ja auch Autonomie etwas, das einem zugestanden werden muss. Wenn Sie jetzt auf Veranstaltung gingen, und einer unbekannten Person vorgestellt würden: Wie würde man das richtig machen, Sie vorstellen?
Es kommt darauf an. Ich werde seit gefühlt 100 Jahren mit Texte zur Kunst in Verbindung gebracht. Als Gründerin und Herausgeberin bin ich natürlich stark mit dieser Zeitschrift identifiziert. Obgleich ich mich als Herausgeberin aus dem redaktionellen Alltag weitgehend zurückgezogen habe, scheint immer noch der Eindruck vorzuherrschen, dass ich für alles, was in dieser Zeitschrift publiziert wird, nicht nur nominell verantwortlich bin, sondern dass ich es auch inhaltlich unterschreibe; was natürlich nicht immer der Fall ist. Mir ist es lieber, mit meinen Büchern in Verbindung gebracht, also als Autorin vorgestellt zu werden.
Aber ich habe nicht die Macht, bestehende Festschreibungen und Identifizierungen einfach aufzubrechen. Sobald man versucht, den Platz, der einem in einem gesellschaftlichen Teilsegment zugewiesen wurde, zu verlassen, sobald man sich anders zu definieren versucht, setzt zunächst Widerstand ein. Dies scheint mir insbesondere für markierte Individuen zu gelten, also in meinem Fall für als Frau Identifizierte. Die Leute wollen nicht, dass man aus der festgeschriebenen Rolle fällt, dass man irgendwo anders hinwill und Anspruch erhebt auf einen anderen Platz. Selbst in meinem Freundeskreis konnte ich eine anfängliche Skepsis gegenüber In einer anderen Welt beobachten. Einige nahmen dieses Buch schlicht gar nicht zur Kenntnis, so als hätte ich es nie geschrieben. Andererseits gab es auch viel Unterstützung und Begeisterung dafür, dass ich auf der Ebene der Schreibweise etwas anderes versuche.
In einer Passage von In einer anderen Welt schreiben Sie, dass man an der Tischordnung des Abendessens, das am Ende einer Ausstellungseröffnung steht, ablesen könne, wo man in dieser Ständegesellschaft steht. Dann haben Sie das Buch geschrieben, die Leute haben es gelesen, hoffentlich auch jene, die es betrifft. Glauben Sie, dass die Preisgabe dieses nunmehr offenen Geheimnisses, etwas geändert hat? Unter anderem meinen Sie ja dort, dass es eine ungeschriebene Regel sei, dass die Sammler:innen immer neben den Galerist:innen säßen.
Den besagten Eintrag haben viele Galerist:innen gelesen. Sie waren sehr gut unterhalten davon, genauso sei es, meinten sie. Die soziale Realität, die in dem Eintrag über Galeriedinner beschrieben wird, erleben ja auch andere auf ähnliche Weise.
Ich bin jedoch nicht so vermessen, zu glauben, dass die Tischordnung aufgrund meiner Intervention in Zukunft anders – demokratischer – gestaltet werden wird, dass also künftig auch Kritiker:innen neben den reichen Sammler:innen sitzen werden. Falls ja, werde ich es Ihnen berichten! Pandemiebedingt hat es jetzt lange keine Dinner mehr gegeben. Aber ich glaube nicht, dass sich das jetzt irgendwer zu Herzen nehmen wird. Im besten Fall bewirkt der Text, dass die Sensibilität für die symbolische Gewalt an solchen Abenden bei manchen steigt. Das wäre wünschenswert. Denn die extrem hierarchischen Sitzordnungen sorgen auch dafür, dass bestehende Verhältnisse reproduziert werden, dass es weniger soziale Mobilität gibt.
Auch das war in der Kölner Kunstszene der 1990er Jahre im Übrigen noch anders: Damals haben sich die Sammler:innen gefreut, wenn sie neben den Texte zur Kunst- oder SPEX-Leuten sitzen und an deren intellektuellen Debatten teilhaben durften. Wir haben ihnen das gewährt und sie manchmal belächelt.
Seit Reichtum und Markterfolg als gesellschaftliche Tugenden gelten, werden Leute, die Geld haben, von allen Seiten umschwärmt. Dass Sammler:innen zunehmend unter sich bleiben und abgeschirmt werden, lässt sich auch anlässlich der VIP-Openings auf den Kunstmessen beobachten, das gab es früher auch alles nicht. In den 1980er und 1990er Jahren konnte es noch zu unvorhergesehenen Begegnungen zwischen Leuten aus unterschiedlichen Hintergründen kommen – auch zwischen Arm und Reich. Das System war durchlässiger, auch überraschende Aufstiege waren möglich, das hat sich so ein bisschen verhärtet. Inzwischen muss man schon vermögend sein, um Galerist werden zu können.
Ja und Nein. Dass ich in der Kunstwelt lange Zeit eine Außenperspektive eingenommen habe, ist sicherlich richtig. Aber inzwischen bin ich schon so etwas wie eine Insiderin geworden, die mit kunsthistorischen Perspektiven und Debatten sehr vertraut ist.
Schon als Schülerin in Hamburg, um das Abitur herum, habe ich mich sehr für Leute wie Werner Büttner und Albert Oehlen interessiert, die natürlich älter und unerreichbar waren und so weiter. (Dass Frauen aus dieser Welt weitgehend ausgeschlossen und von deren Protagonisten oft sexistisch abgewertet wurden, nahm ich damals noch als notwendiges Übel in Kauf.) Vor allem aufgrund ihres politischen Anspruchs haben mich Kataloge wie Wahrheit ist Arbeit (1984) damals interessiert – dass Künstler:innen politische Inhalte groß schrieben und gegenüber der Kunst mit großem K derart respektlos waren, das gefiel mir. Als soziales Universum ist mir das Kunstmilieu also schon lange vertraut.
Auch während meines Studiums in Paris bewegte ich mich in Kunstkreisen. Aber aus meinem Politikstudium resultierte das, was Eribon in Retour à Reims als »split habitus« bezeichnet: Mit einem Bein stand ich eben im Kunstmilieu, aber dadurch, dass ich keine klassische Kunsthistorikerin war, nahm ich eine Außenperspektive ein. Das könnte man sogar noch weitertreiben und sagen, dass das Nirgendwo-richtig-dazugehören – dass ich diese Erfahrung schon in meiner Kindheit gemacht habe. Denn einerseits wuchs ich qua meines wohlhabenden Vaters großbürgerlich auf, aber zugleich nach der Scheidung meiner Eltern in doch eher kleinbürgerlichen Verhältnissen bei meiner Mutter. Ich sah den Reichtum und die daraus resultierende Borniertheit der Elb-Vorort-Kids von außen durchaus kritisch und konnte mich doch auch nicht so recht mit dem Reihenhaus meiner Mutter anfreunden. Ich denke, das produzierte eine gewisse Zerrissenheit, die durchaus schmerzhaft war. Aber zugleich machte mir das möglich, aus den eigenen Verhältnissen herauszutreten, sie von außen zu analysieren.
Für seine Autoanalyse nutzt Didier Eribon in seinem zweiten Buch, Gesellschaft als Urteil, das Wechselspiel von »Erben« und »Abweichen«. Was Sie nun beschrieben haben, das ist sehr viel Erbe. Können Sie den Punkt herausstellen, an dem Sie das erste Mal abgewichen sind?
Ich würde umgekehrt sagen, dass ich die Abweichung vom Erbe immer großgeschrieben habe, zum Beispiel durch meine Lektüren und mein journalistisch-politisches Interesse. Aber wie auch bei Eribon, holt mich das abgespaltene Erbe irgendwann ein. Anders als meine damaligen Hamburger Freundinnen bin ich nicht in den Elbvororten geblieben, um einen wohlhabenden Mann zu heiraten und Kinder zu bekommen. Ich will jetzt nicht heroisch klingen, aber es stellte in diesen Kreisen tatsächlich eine krasse Abweichung dar, sich als Intellektuelle zu verstehen und zu behaupten.
Erleichtert wurde mir diese Abweichung durch meinen Job als Rundfunksprecherin im Kinderfunk des NDR. Dort habe ich mich mit journalistischer Arbeit vertraut gemacht und ich schrieb auch regelmäßig Tagebuch. Statt mit meinen Freund:innen aus der Clique Hockey zu spielen, blieb ich in meinem Zimmer, um Dostojewski zu lesen. Da habe ich mich sehr isoliert, weil es oft niemanden gab, der sich auf diese Weise irgendwie orientiert hätte. Es war auch innerhalb meiner Familie nicht leicht, durchzusetzen, dass die Tür zu meinem Zimmer geschlossen bleiben musste. Dass ich mit meiner Lektüre ungestört bleiben wollte, war meiner Mutter nur schwer zu vermitteln.
Nach dem Abitur nach Paris zu gehen und Simone de Beauvoir zu meinem Vorbild zu erklären, stellte im Milieu, in dem ich aufgewachsen bin, eine weitere Abweichung dar. Ich habe das Abiturzeugnis gar nicht mehr in Empfang genommen, war schon in Paris und hatte mit niemandem mehr etwas zu tun. Ich konnte es kaum erwarten, Hamburg zu verlassen, wo ich keine Zukunft für eine angehende junge Intellektuelle wie mich sah.
Erst später in Paris und Köln traf ich andere Frauen meiner Generation, die ähnliche Abweichungen vorgenommen hatten. Ich möchte jetzt den Anteil »Erbe« aber nicht negieren: Ohne die Bibliothek und die Frankophilie meiner Mutter, ohne die finanziellen Hilfen meines Vaters wäre mein Weg sicherlich anders verlaufen. Es gibt bis heute diese von Privilegien zeugende »höhere Tochter«-Spur bei mir. Aber diese Identität ist erstens brüchig, weil sie mit Abstiegserfahrungen verknüpft ist. Und zweitens werden »höhere Töchter« nur schwerlich als kritische Intellektuelle angesehen, wie in Beauvoirs Memoiren einer Tochter aus gutem Hause nachzulesen ist.
Ich finde die von Ihnen erwähnten Parallelen zu Eribon gar nicht so uninteressant. Dahingehend, dass das Buch Retour à Reims für ihn eine Form von Befreiung war, gerade in dieser ganz spezifischen französischen Konstellation, in der jene, die nicht in Paris lehren, einen anderen Status in dieser akademischen Gesellschaft haben. Er war eben einer, der aus vielen Gründen, wie das Buch zeigt, von außen kam. Nun haben Sie und ich hoffe, ich irre mich jetzt nicht, mit In einer anderen Welt zum ersten Mal ein Buch geschrieben, das, in einer wenn auch nicht so lebensgeschichtlichen Weise so doch aber als Gegenwartsbeobachtung, eine Autofiktion versucht, die man als Stellungnahme zu Ihrem eigenen Status in der Klassengesellschaft lesen könnte.
Kim Gordon, mit der ich ein Online-Gespräch über dieses Buch geführt habe, hat etwas Ähnliches gesagt: Sie fand jene Passagen besonders mutig, in denen ich mich etwa als modeaffin oute. Als Freundin weiß sie diese Dinge über mich, aber wenn man nur meine kunsttheoretischen Texte liest, würde man nicht unbedingt vermuten, dass ich auch gerne Zeit am Strand von Ibiza oder im Kaufhaus »Bon Marché« verbringe.
Aber ich habe auch viel darüber nachgedacht und denke nicht, dass es sich bei diesem Buch um Autofiktion handelt. Ich war zwar sehr inspiriert von meinen autofiktionalen Lektüren – vor allem von den Büchern von Annie Ernaux, die ihre eigene Lebensgeschichte wie eine Ethnographin analysiert. Aber ich habe mich auch mit anderen Autor:innen, allen voran mit Marie Luise Kaschnitz befasst, vor allen Dingen ihr Buch Wohin denn ich – den Titel hat ihr angeblich Adorno zugeflüstert – war sehr wichtig für mich. In den 70er, 80er Jahren wurde es unter der Überschrift autobiographische Prosa gehandelt.
Diese Bezeichnung trifft es für mein eigenes Projekt eher, weil ich nicht glaube, dass das, was ich mache, Fiktion ist, sondern eine Verknüpfung von Autobiographie und Prosa. Zugleich hat mein Buch diesen aperçuhaften Charakter von Miniaturen, weshalb es noch in einer anderen Tradition – Stichwort Adornos Minima Moralia – steht. Anders als Adorno ging es mir aber auch darum, mich in einem fiktiven »Ich« stärker zu erkennen zu geben. Ich wollte eine Schreibweise entwickeln, die das individuell Erlebte an seine gesellschaftliche Bedingtheit zurückbindet. All jene Beobachtungen, die nicht in meine kunsthistorischen Texte einfließen und nirgendwo Niederschlag finden, sollten einen Ort erhalten – etwa Überlegungen zu einem Stück von René Pollesch oder Anmerkungen zur #MeToo-Debatte.
Am Anfang habe ich diese aperçuhaften Reflexionen einfach nur festgehalten, um irgendwann zu realisieren, dass ein Buch daraus werden könnte. Ich war auch sehr inspiriert von den Trauerbüchern von Roland Barthes, Joan Didion und Simone de Beauvoir. Trauerarbeit ist der rote Faden, der das Ganze zusammenhält. Denn im Zeitraum 2013–2015 sind meine Eltern gestorben. Ich war mir nach der Fertigstellung nicht sicher, ob ich das Ganze nicht lieber erstmal in der Schublade lasse, ob es überhaupt jemanden interessieren würde. Ich war auch nervös, wie es wohl aufgenommen werden würde, wenn ich gleichsam mein Steckenpferd (die Kunsttheorie) verlasse. Habe ich nicht zu viel von mir preisgegeben, mich schutzlos ausgeliefert? Um dies zu verhindern, habe ich manche Passagen stark literarisch zu stilisieren versucht. Bevor es veröffentlicht wurde, gab ich das Buch auch zwei engen Freund:innen zu lesen. Ich bat sie darum, jene Stellen zu markieren, die mir zum Verhängnis werden könnten. Das Ganze stellte ein großes Wagnis für mich dar.
Sie hatten zu Beginn und im Verlauf dann immer wieder von Ihrer Generation gesprochen. Was ist das für eine Generation?
Der Generationenbegriff ist natürlich extrem unscharf und auf problematische Weise totalisierend. Meine 15-jährige Tochter klassifiziert mich z. B. ständig als »Boomer«. Sie schiebt dieser Boomer-Generation alle Schuld für das in die Schuhe, was derzeit im Argen liegt. Ich weigere mich dann immer, mich qua Geburtsdatum zum Boomer machen zu lassen, zumal ich hoffe, mich von dem Klischeebild des Boomers ein wenig zu unterscheiden. Aber ich bin natürlich auch als im Westdeutschland der 1960er Jahre Geborene von bestimmten Ereignissen und Vorstellungen geprägt.
Eigentlich finde ich den Generationenbegriff schwierig. Stattdessen könnte man vielleicht eher von spezifischen sozialen Formationen sprechen und untersuchen, inwieweit die dort vorherrschenden Werte und Überzeugungen die Handlungen der sich in diesem Umfeld bewegenden Individuen beeinflussen.
Nehmen wir die inzwischen zum Mythos gewordene Kölner Kunstszene der späten 1980er und frühen 1990er Jahre: Kaum ein:e Kulturproduzent:in dachte damals, dass ein abgeschlossenes Studium wichtig sei. Es war völlig evident, dass das egal ist, und dass es eigentlich viel cooler war, ein Studienabbrecher zu sein, als brav seine Abschlüsse zu machen. Das »coole« Wissen konnte man außerhalb von Academia erwerben, das war für mich auch so: Man gründete seine eigenen Akademien wie SPEX und später Texte zur Kunst. Das galt im Übrigen schon für mein Politikstudium in Paris – hier war es so, wie es Eribon für Reims beschrieben hat: Die eigentlich interessanten Autor:innen wie Foucault wurden während meines Politikstudiums am Sciences Po nicht gelesen.
Wie geht es Ihnen denn jetzt, man könnte sagen, nachdem Sie diese große Möglichkeit zum Nonkonformismus hatten und trotz aller Widerständigkeit, von der Sie bisher berichtet haben, einen unkomplizierten Abschluss machen, später dann parallel eine Promotion bewältigen und schließlich Professorin an der Städelschule werden konnten? Wie geht es Ihnen mit dieser Biographie, deren ursächliche Möglichkeiten unter den heutigen Studienbedingungen weitestgehend abwesend sind?
Ich lehre an einer Kunstakademie. Zwar zählt der Abschluss – bei uns ist es ein Diplom – heute mehr als früher, aber man kann sich als Studierende:r durchaus sein eigenes Curriculum organisieren.
Mit Blick auf die Ausweitung der Marktsphäre bis in die letzten Winkel der Gesellschaft stellt sich für mich vielmehr die Frage, inwieweit eine Kunsthochschule wie die Städelschule ein Schutz- und Experimentierraum sein kann, der von den Kriterien des Markts weitgehend unbeeinflusst ist. Oder gleicht die Hochschule vielmehr einem Trainingslager, das die Studierenden auf den Wettbewerb des Kunstbetriebs vorbereitet und einstimmt? Da würde ich immer eher für die Schutzraumvariante plädieren.
Doch die Grenzen zwischen diesem Schutzraum und seinem ökonomischen Außen sind längst durchlässig geworden, wenn etwa Sammler:innen oder Galerist:innen auf der Suche nach Erfolg versprechenden jungen Nachwuchskünstler:innen unsere Rundgänge besuchen. Um solche Sachen geht es. Der Abschluss stellt nicht die entscheidende Auszeichnung dar. Was auch zählt, ist vielmehr, dass man an einer renommierten Kunsthochschule studiert hat und im besten Fall über gute Kontakte verfügt oder von einem:einer der Lehrenden unterstützt wird.
Eigentlich sagen Sie, sollte die Städelschule ein Schutzraum sein, was aber schwierig ist, weil …
… die Marktverhältnisse kein »Außerhalb« darstellen, sondern in den Hochschulalltag hineinragen.
Und weil das Geld mitläuft. Ist das ein spezifisches Problem der Städelschule, ihres nächstens Arbeitsraums?
Seit sich die Städelschule in der Ära von Daniel Birnbaum stark internationalisiert hat und renommierte internationale Künstler:innen einbinden konnte, ist ihr Ansehen gestiegen. Wir haben Studierende aus aller Welt und werden eben auch als eine Art Kaderschmiede für den Nachwuchs betrachtet – wobei es ganz unterschiedliche Marktsegmente sind, die sie »beliefert«. Ich versuche natürlich auch, diese Dinge zu diskutieren.
Ich bin sehr dagegen, Veranstaltungen anzubieten, in denen die Studierenden scheinbar fit für den Kunstmarkt gemacht werden und eher dafür, diese instrumentelle Logik gerade nicht zu bedienen. Es sollte weniger darum gehen, wie man seine Arbeit am besten plausibel macht und positioniert, sondern darum, die gängigen Sprachspiele zu untersuchen, mit denen Künstler:innen ihre Arbeiten mit Sinn anreichern.
Sie haben gesagt: In der Städelschule gibt es immer mehr Studierende, die aus New York kommen und immer weniger Leute aus ökonomisch schwächeren Milieus. Wie gehen Sie damit konkret um?
Indem ich meine Beobachtungen mit den Studierenden teile. Wir diskutieren auch die institutionellen Bedingungen vor Ort. In diesem Sinne biete ich gerade ein Seminar mit dem Titel The Power of Autofiction an, in dem wir autofiktionale Texte lesen und die Studierenden auch selbst solche schreiben. In diesen Texten spielt dann natürlich auch der Studienort »Städelschule« eine Rolle, wie auch die eigene Biografie, das Leben als Expat in einer Stadt wie Frankfurt am Main, etc.
Als ich 2001 an der Städelschule zu lehren begann, kamen viele Studierende noch aus dem Rhein-Main-Gebiet. Sie hatten einen ländlichen oder einen Arbeiterklassehintergrund. Sie konnten nicht unbedingt Englisch. Heute finden all unsere Lehrveranstaltungen auf Englisch statt und die Studierenden kommen aus allen Teilen der Welt. Viele haben aber Probleme mit ihrer Aufenthaltsgenehmigung und es ist für viele gar nicht einfach, im teuren Frankfurt ein Zimmer zu finden. In der Pandemie, in der die Nebenjobs weggefallen sind, ist ihre Lage noch prekärer geworden. Es ist also nicht so, dass an der Hochschule heute nur noch Rich Kids zu finden wären. Aber die Studierenden aus dem Arbeitermilieu sind definitiv seltener geworden.
Wenn man Ihr Interview kennt, das Sie 1996 mit Pierre Bourdieu geführt haben, dann erscheint es nur folgerichtig, dass Sie ab irgendeinem Punkt ein Seminar anbieten, das diese Fragen der Selbstreflexivität verhandelt. Ist diese Aufgabe der Introspektion, die da vorgesprochen wird, in und mit diesen Texten, eine schmerzliche Erfahrung?
Den Studierenden wird keineswegs vorgeschrieben, dass sie sich in ihren Texten mit ihren Herkunftsmilieus (oder gegebenenfalls mit ihren Privilegien) befassen müssen. Zudem handelt es sich um autofiktionale Texte, deren fiktiver Anteil im Vordergrund steht.
Dass es schmerzhaft sein kann, prägende Erfahrungen wie den Verlust eines Elternteils in einen literarischen Text einfließen zu lassen, wird in den Texten aber sehr deutlich, teilweise nehmen die mir wirklich den Atem. Aber die Aufgabe bestand ja darin, das individuell Erlebte als etwas zu zeigen, in dem sich auch gesellschaftliche Strukturen offenbaren. Das »Ich« der Autor:innen ist nicht nur ihr eigenes Selbst, sondern immer auch das eines:einer Anderen.
Zum Thema Privilegien wollte ich noch anmerken, dass Diskriminierung oder symbolische und reale Gewalt auch in vergleichsweise privilegierten Verhältnissen vorkommen. Das habe ich mit In einer anderen Welt zu zeigen versucht. Dass da einerseits Geld da ist und andererseits eben auch nichts, und dass man eben irgendwann ohne alles dasteht. Ich habe zum Beispiel von meinem einst wohlhabenden Vater nichts geerbt.
Das war der Preis der Widerständigkeit.
Nicht wirklich. Das hatte, glaube ich, eher mit einem Arrangement zwischen meinem verstorbenen Vater und seiner sehr viel jüngeren zweiten Frau zu tun. Ich glaube, In einer anderen Welt spielt hin und wieder darauf an. Das ist eine klassische Situation, die oft auf Kosten der Kinder aus erster Ehe geht.
Dass ihre Studierenden in ihrem Seminar eigene Texte schreiben sollen, das ist ja ein pädagogisches Mittel, das Sie ausgesucht haben. Woher kommt diese Idee?
Zunächst einmal hatte ich ja zuvor aufgrund meines Opus-Magnum-Stipendiums zwei Jahre lang nicht unterrichtet. Das heißt: Ich kenne die Studierenden – zumal die jüngeren – gar nicht persönlich und habe sie jetzt auch nur per Zoom kennenlernen können.
Auch untereinander haben sich die Studierenden in der Pandemie kaum gesehen. Aus diesem Grund hielt ich das Genre der Autofiktion für hilfreich und sinnvoll. So können sich alle kennenlernen, ins Gespräch miteinander kommen, und ein bisschen ein Gespür dafür bekommen, wer wir sind. Hinzu kommt, dass autofiktionale Literatur – ich denke hier an die Bücher von Saidiya Hartman oder Rachel Cusk – über ein beträchtliches identifikatorisches Potential verfügen. Sie machen deutlich, wie sich Erfahrungen von rassistischer und/oder sexistischer Diskrimiminierung in der Subjektivität des betroffenen Individuums selbst niederschlagen.
Ich glaube, dass es eine ganz andere Lektüreerfahrung ist, die einen ständig auf die eigenen Herkunftsgeschichten zurückwirft, anders, als wenn ich etwa mit den Studierenden Kant oder Hegel lesen würde. Mich interessieren zudem auch literaturtheoretische Fragestellungen, die uns im Seminar leiten. Ein Beispiel dafür ist die Frage, inwieweit sich die Autofiktion von der Autobiographie abgrenzen lässt, oder warum Autofiktion gerade jetzt Konjunktur hat. Die Texte, die die Studierenden bislang geschrieben und vorgelesen haben, zeichnen sich teilweise durch sehr raffinierte literarische Strategien aus. Eine Studierende hat zum Beispiel – ähnlich wie Ponge in einem seiner Bücher – die verschiedenen Anläufe, die sie für ihren Text genommen hatte, in ihm selbst stehengelassen. Ein Text, der aus mehreren Anläufen zu seiner Entstehung besteht – das hat mir natürlich gut gefallen.
Ich finde das auf eine Weise außergewöhnlich und das scheint mir auch mit dem Status der Städelschule als Kunstakademie zusammenzuhängen, weil andernorts selbst Fragen nach dem heutigen Befinden als so invasiv wahrgenommen werden und so dicht an der professionellen Therapie, dass sie seitens der Lehrenden gar nicht versucht werden. Wie Sie das beschreiben, ist das ja etwas, das schon kokettiert mit sowas wie einer Selbstoffenbarung, dass man sich schreibt und dass man dann gelesen wird, auch von anderen. Das ist schon sehr therapeutisch, nicht?
Mit Therapie hat das Autofiktionsseminar nichts zu tun. Erstmal muss man klar sagen, dass das »Ich« des autofiktionalen Textes keineswegs identisch mit dem »Ich« seines Verfassers, seiner Verfasserin ist. Deborah Levy hat es einmal so formuliert, das dieses »Ich« nicht sie selbst sei, aber jemand, den sie sehr gut kenne.
Es geht also nicht darum, sich in einem autofiktionalen Text authentisch zu offenbaren. Es geht darum, mit Hilfe dieser unterschiedlichen autobiographischen Hintergründe, die man hat, einen Text zu produzieren, der zwar diese Erlebnisdimension enthält, aber das Entstandene muss auch als literarischer Text funktionieren. Ich bin keine Therapeutin und würde mein Seminar niemals mit einer Therapiestunde verwechseln – das wäre unverantwortlich.
Zum Thema Psychoanalyse ist noch zu sagen, dass Eribon einen bemerkenswerten Hass auf sie hegt. Er hat ein ganzes Buch gegen die Psychoanalyse geschrieben: Échapper à la psychanalyse (der deutsche Titel lautet Der Psychoanalyse entkommen). Zwar kann ich seine Kritik an den heteronormativen Prämissen der Psychoanalyse gut nachvollziehen. Aber es gibt ja auch queere Denker:innen, allen voran Judith Butler, die sich durchaus auf die Psychoanalyse beziehen, wenn es um die Theoretisierung von Subjektivierungsprozessen geht.
Wenn Eribon sagt: Mein Vater hatte Wutanfälle, schmiss mit Flaschen um sich, war homophob und gewalttätig, aber das hatte überhaupt keine Gründe, die in seiner Psyche zu suchen wären, sondern hatte ausschließlich mit seiner Klassenzugehörigkeit zu tun, dann möchte ich doch Zweifel anmelden. Es wäre viel interessanter, wenn er sich auch die psychische Disposition seines Vaters ansehen, sie als Erklärung ebenfalls in Betracht ziehen würde. Dass dies bei Eribon unterbleibt, führt immer wieder zu einem Klassenreduktionismus und auch zu einem ökonomischen Determinismus.
Der Hass auf die Psychoanalyse hat in der Französischen Linken natürlich eine lange Geschichte: Er geht auf Deleuze/Guattaris Anti-Ödipus und auf Foucaults Sexualität und Wahrheit zurück. Mit »Psychoanalyse« ist bei Eribon auch bezeichnenderweise gar nicht unbedingt Freud gemeint, sondern in erster Linie Lacan, auf dem er wahnsinnig herumhackt, teilweise auch zu Recht. Freud, das macht er nicht, interessanterweise. Für mich geht an der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse jedoch kein Weg vorbei, wenn es darum geht, Subjektivierungsprozesse und Sozialaffekte zu verstehen. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass ich meine Autofiktionsseminare psychotherapieartig gestalten würde. Nur möchte ich eben auch nicht so tun, als könne man in einer Pandemie als Lehrende einfach business as usual machen.
Sie hatten gesagt, die Studierenden schrieben nicht authentisch; und man kann auch anderswo lesen, dass Sie von dieser Idee der Authentizität wenig halten. Das heißt aber dann auch, dass das Schreiben in ihrem Seminar, das Schreiben über sich selbst eine Übung ist, die in den Räumen einer Kunstakademie zur Selbstinszenierung wird.
Ich würde eher sagen, dass sich keine klare Grenze zwischen »inszeniert« und »authentisch« ziehen lässt. In jeder Inszenierung schwingen restauthentische Elemente mit und das scheinbar Authentische ist immer auch inszeniert. Natürlich ist in autofiktionalen Texten Restauthentisches enthalten, das immer mal wieder aufblitzt. Doch diese Anteile werden eben auch literarisch verfremdet und zur Fiktion stilisiert. Das gilt auch für die scheinbar so authentischen Bekenntnisse von Rousseau, der selbst in diesem Buch einen Moment der literarischen Stilisierung einräumt. Und das interessiert mich. Es geht mir eben auch immer um die literarischen Mittel, die gewählt wurden, sowie die Frage, wie der Text strukturiert wurde.
Und doch, so stelle ich mir das vor, versuchen Sie es zu vermeiden, dass dieses Schreiben, das im besten Sinn dazu dient, sich selbst aufzuklären, in die kapitalistische self-fabrication kippt, dass die Studierende nicht auch dort noch lernten, wie sie sich bestmöglich sprachlich projizieren können.
Natürlich spielte im vergangenen Semester auch die Frage, wie die Studierenden ihre Texte vorgelesen haben, in der anschließenden Diskussion eine Rolle. Den ersten selbst verfassten autofiktionalen Text Anderen online vorzustellen ist ja nicht ohne. Aber als Künstler:innen sind die Studierenden mit ihren Produkten ohnehin auf eine Öffentlichkeit verwiesen.
Die Erfindung der modernen Kunst ist ja eng an den Aufbau einer öffentlichen Sphäre geknüpft. Man exponiert sich, setzt sich Kritik aus, muss mit Ablehnung und Zurückweisung umgehen lernen. Um die Studierenden in dieser Situation zu schützen, stellen wir bestimmte Regeln auf: Persönliche Angriffe sind tabu, wir gehen respektvoll miteinander um, versuchen, Person und Produkt auseinanderzuhalten (obgleich sie natürlich unausgesetzt aufeinander verweisen). Man kann darüber hinaus auch für ein »self-fashioning« optieren, das nicht das vom Kapitalismus favorisierte ist.
Es gibt schon Spielräume und Möglichkeiten, sich anders zu inszenieren, ohne eine vordergründige Performance abzuliefern, die diesen vermeintlichen Kriterien entspricht. Ich glaube, man kommt aus dieser self-performance sowieso nicht heraus, schon gar nicht als Künstler:in. Das lässt sich schon an Vasaris Viten aus der Frühen Neuzeit sehen: Er hält vor allem fest, wie die Künstler – ausschließlich Männer – aufgetreten sind, was für Typen sie waren. Die Beschreibung ihrer Arbeiten steht erst an zweiter Stelle. An ihrer Persona entscheidet sich für Vasari, ob sie als Künstler glaubwürdig erscheinen.
Dass ein künstlerisches Produkt durch den Verweis auf seine:n legendäre:n Urheber:in beglaubigt wird und dass sich umgekehrt die Künstler:innen selbst wie ein Produkt gestalten, ist also kein neues Phänomen. Aber wie lässt sich dieses Spannungsverhältnis zwischen Produkt und Person anders aushandeln auch unter den Bedingungen einer digitalen Ökonomie? Muss man als bildende:r Künstler:in auf Instagram sein, um sichtbar zu sein und sich zu vermarkten oder kann man sich den digitalen Plattformen auch verweigern?
Also könnte man sagen, dass es hier keinen Schutzraum gibt, der nicht auch Trainingslager wäre, und wenn man dieses auch nur mit einer Konträrfaszination durchläuft?
Der Schutzraum ist wahrscheinlich immer löchrig und porös, also nicht vollständig abgrenzbar von dem, was in seinem Außen passiert. Doch man kann auch beschließen, bestimmte Dinge nicht in ihn hineinzulassen oder sich auf bestimmte Weise zu ihnen zu verhalten. Nur überschätzt man auf diese Weise vielleicht auch die Handlungsmöglichkeiten von Individuen, welche die übermächtigen Strukturen letztlich nicht als einzelne in den Griff bekommen können. Soziale Bedingungen sind nicht einfach so unilateral veränder- oder aushebelbar. Dass wir über diese Fragen im Seminar überhaupt so reden können, spricht wahrscheinlich schon für dessen Schutzraumqualität.
Sie haben sich schon früh für jene Kunst interessiert, die explizit politisch war. Bevor wir dieses Gespräch begonnen hatten, waren wir uns einig darüber geworden, dass uns an den gegenwärtigen Sozialen Medien vor allem stört, dass sie entweder rein affirmativ funktionieren oder Kritik nur sehr breit, grob und damit ungenau abbilden. Wie würden Sie dieses Schwarz-Weiß beschreiben?
Ich würde das nochmal nuancieren. Man darf zunächst einmal nicht vergessen, dass die Sozialen Medien für bestimmte soziale Protestformen – Stichwort #MeToo – ein ganz wichtiges Forum waren. Ohne diese für Frauen zugänglichere Öffentlichkeit hätte es die vielen Berichte über sexuelle Belästigung und Missbrauch nicht gegeben. Da haben die Sozialen Medien auch eine progressive und politische Funktion, die ich gar nicht in Abrede stellen würde.
Doch trotzdem sind Soziale Medien auch ein Fluch: das schon aufgrund des Sozialeffekts des Ressentiments, der in ihnen fröhlich gedeiht, wie Joseph Vogl in Kapital und Ressentiment zeigt. Auch die binäre Struktur, wo es eben nur »like« und »dislike« gibt, verhindert nuancierte Diskussionen – Ambivalenzen oder Grautöne können hier nicht verhandelt werden. Es überrascht mich immer wieder, dass zahlreiche Kulturproduzent:innen diese Orte für ihre Arbeit nutzen: Sie äußern sich beinahe ausschließlich dort. Es scheint ihnen egal zu sein, was mit ihren Daten passiert. Die Angst vor Unsichtbarkeit scheint derart groß zu sein, dass man bereit ist, mit fragwürdigen Plattformunternehmen zu kooperieren, weil man sonst Gefahr liefe, zu verschwinden und ungehört zu bleiben.
Diese Gefahr ist ja durchaus real. Junge Künstler:innen, die in der Pandemie Instagram nicht nutzten, existierten im Bewusstsein der Kunstöffentlichkeit kaum mehr. Anders ging es jenen, die bereits etabliert waren, die der Generation 60+ angehören und die sich um ihre Sichtbarkeit und ihren Markterfolg keine Sorgen mehr machen müssen. Aber für jüngere Künstler:innen scheint es inzwischen fast undenkbar, diese Plattformen nicht zu nutzen.
Können Sie das genauer beschreiben, was man da riskiert als junge bildende Künstlerin, die jetzt beginnt, sich auf Instagram zu präsentieren?
Das Risiko ist, nicht gesehen zu werden, vor allem in einer Situation, in der es die üblichen institutionellen Infrastrukturen nicht mehr gibt. In der Pandemie fielen institutionelle Anlässe wie Kunstmessen, Ausstellungseröffnungen, Dinner etc. weg. In der Folge wurden auch einige Rituale, die für die Wertermittlung unerlässlich sind, nicht mehr vollzogen. In dieser Zeit haben die Leute mehr Zeit denn je online verbracht, was nicht unbedingt gut war fürs Gemüt. Joseph Vogl spricht in seinem Buch von einem Gemeinschaftsgefühl, das sich aus der Feindseligkeit aller gegen alle speist. Diese Beschreibung trifft auch auf die oft hasserfüllte Stimmung in den Sozialen Medien zu.
Pandemiebedingt setzten Galerien und Institutionen auf sogenannte »Online-Showrooms«, die einerseits den Vorteil größerer Zugänglichkeit und Preistransparenz haben, in denen aber andererseits die Kunstwerke wie kontextfreie Monaden präsentiert werden. Es war nicht mehr auszumachen, was in einer künstlerischen Arbeit überhaupt auf dem Spiel stehen könnte. Zahlreiche Künstler:innen zeigten sich auf Instagram mit ihren Arbeiten im Atelier oder ihre neusten Produktionen. Das bedeutet aber auch etwas für die künstlerische Arbeit, die Instagram-förmig gemacht wird, einen bestimmten Look aufweisen. Zum Beispiel, dass sie Formate (und Farben) wählen, die auf einem kleinen Handyscreen gut funktionierten.
Können Sie das ein bisschen plastischer machen, was für ein Look da entsteht, durch Instagram?
Grundsätzlich bekommen immer jene Fotos mehr Likes, auf denen sich die Künstler:innen selbst zeigen. Wenn wir zum Beispiel eine Edition auf Instagram ankündigen, hagelt es immer dann Likes, wenn wir zeigen, wie die Künstler:innen ihre Editionen signieren. Um mein Buch In einer anderen Welt auf Instagram anzukündigen, habe ich mich selbst frei nach Raphael als lesende Madonna mit Kind auf Instagram inszeniert. Das Buch zeigt ja meine verstorbene Mutter auf dem Cover, also waren drei Frauengenerationen auf dem Bild versammelt. Es macht mir Spaß, Instagram als Promotionstool zu nutzen, aber ich käme nie auf die Idee, auf Facebook inhaltliche oder politische Debatten anstoßen zu wollen.
Haben Sie denn eine Vermutung warum die Texte zur Kunst, die man als ein sehr Instagram-unförmiges Projekt beschreiben könnte, dennoch so gut in diesen Räumen rezipiert werden?
Ich möchte jetzt nicht in Eigenlob verfallen, aber wir haben uns tatsächlich viele Gedanken darüber gemacht, wie wir eine durchaus fragwürdige Internetplattform wie Instagram gewitzt für uns nutzen können und ob das überhaupt möglich ist. Im letzten Jahr, zum 30. Jubiläums von Texte zur Kunst, haben wir die personalisierende Logik von Instagram bedient und regelmäßig Fotos aus meinem Archiv gepostet, auf denen frühere Mitstreiter:innen aus den 1990er Jahren zu sehen sind und so weiter. Das ist dann natürlich sofort durch die Decke gegangen. Und parallel zur Jubiläumsausgabe The Feminist gab es 30 Tage lang online täglich einen filmischen Kurzbeitrag von Künstler:innen und Autor:innen zu sehen, die über einen aus ihrer Sicht feministischen Gegenstand sprachen. Hier war es uns wichtig, nicht nur die üblichen Verdächtigen einzuladen, sondern auch junge und diverse Leute, deren Arbeiten wir schätzen. Da gab es jeden Tag etwas Neues, so einen kurzen Film, und dann haben die ganzen Leute, die darum gebeten wurden, sich ihrerseits auch sehr originell inszeniert.
Wir haben außerdem wöchentliche Aktivitäten: Es gibt die Kolumne This is Tommorow und zum Wochenende werden immer aktuelle Beiträge oder Texte aus früheren Ausgaben in einem Format, das The Weekender heißt, veröffentlicht. Wir entfalten also online vielfältige Aktivitäten, und seitdem haben wir, glaube ich, 40 Tausend Abonnenten, das ist Wahnsinn. Das kommt auch dem Editionsverkauf zugute, der jetzt hauptsächlich online passiert. Aber natürlich geht auch immer etwas verloren und mir ist es wichtig, dass keine Kluft zwischen einem theorielastigen Heft und lighten Online-Geschichten entsteht. Auch im Netz muss unser kunsttheoretischer Anspruch vermittelt werden.
Der Genugtuung, die eine große Zahl von Abonennent:innen erzeugt, kann man sich schwer entziehen. Als wir vorhin über die Unterscheidung von Schutzraum und Trainingslager in der Kunstakademie sprachen, sagten Sie ungefähr so etwas wie, dass die Welt nun mal neoliberal strukturiert sei und es der eigene Selbsterhalt regelrecht verlange, sich diese Logik anzueignen. Im Verhältnis der Künstlerin zu den sozialen Medien scheint dieses Prinzip durch. Wenn ich dann an die ästhetische Theorie Adornos denke, frage ich mich, wie Texte zur Kunst noch einen subversiven, widerständigen Diskurs verfolgen kann, wenn ihr Erfolg so eng an diese neuen Metriken gebunden ist.
Zunächst einmal sind »Widerstand« und »Subversion« für mich nicht in jeder Situation absolute Tugenden. Denn manche der schon von den historischen Avantgarden idealisierten Haltungsweisen wie »Widerstand« oder »Regelbruch« stehen ja inzwischen längst unter anderen Vorzeichen: Angesichts von regelbrechenden Despoten à la Trump, deren Habitus jenem des widerständigen männlichen Künstler-Berserkers sehr ähnlich ist, müssen diese Ideale wohl überdacht werden.
Man könnte bei Gelegenheit einmal systematisch zwischen politisch eher fragwürdigen und aus künstlerischer Sicht wünschenswerten Regelbrüchen und Formen des Widerstands unterscheiden. Für mich ist Subversion zudem immer an eine voluntaristische Überschätzung der Handlungsmöglichkeiten des Individuums geknüpft, bei gleichzeitiger Unterschätzung des Impacts gesellschaftlicher Strukturen. Dieser heroische Einzelne, der die gegebenen Strukturen unterläuft – das ist oft eine romantisierende Fiktion. Ich arbeite lieber mit anderen Konzepten in dem Zusammenhang, zum Beispiel mit dem der Markt- oder der Wertreflexion. Mich interessieren künstlerische Arbeiten, die Wertbildungsprozesse entweder thematisieren und/oder in sie zu intervenieren versuchen, wie es etwa Cameron Rowland in seinen Arbeiten tut. Das ist für mich schon sehr, sehr viel, wenn es einem gelingt, sich in diesen Marktverhältnissen zu verorten und zugleich sich zu denen auf eine Weise zu verhalten, die sie eben auch reflektieren und sich vielleicht ihrer Logik punktuell entziehen. Da bin ich wahnsinnig froh, wenn ich solche Tendenzen in künstlerischen Arbeiten entdecke, oder auch in meiner eigenen Arbeit glaube, sowas punktuell geschafft zu haben.
Bei Texte zur Kunst ist es so, dass die Editionen – also die von uns verkauften künstlerischen Auflagenobjekte – von Anfang an unsere Achillesferse waren. Als Zeitschrift können wir nur überleben, weil uns Künstler:innen netterweise umsonst Arbeiten zur Verfügung stellen, die wir verkaufen. Natürlich müssen diese Künstler:innen bereits Markterfolge erzielt haben, wir können an dieser Stelle kein Risiko eingehen. Der Deal zwischen Zeitschrift und Künstler:innen lautet: Ihr unterstützt uns großzügig mit einer geschenkten Arbeit, damit wir Eure Arbeiten auch weiterhin kritisieren können. Ihr gesteht uns die Freiheit der Kritik zu und belohnt uns dafür, dass wir möglicherweise Einwände gegen Eure Praxis erheben.
Also hängen Sie an der Großzügigkeit derer, die in diesem System gewonnen haben?
Gewissermaßen schon. Aber oft haben die markterfolgreichen Künstler:innen ja unter anderem auch deshalb »gewonnen«, weil es ein bestimmtes System um sie herum gab, angefangen von der Kunstkritik bis hin zu Kurator:innen, die daran geglaubt und das entsprechend gestützt haben. Wer schuldet wem was wäre hier die Frage.
Ich würde sagen, monetär gesehen schulden erfolgreiche Künstler:innen der viel schlechter bezahlten Kritik vielleicht etwas. Um noch weiterzugehen, der Kunstkritik als bedeutungsgenerierender Instanz steht eigentlich mehr zu, als man es so bekommt, da die Kunst ihr ihre Bedeutung ja tatsächlich auch mitverdankt.
Mir scheint, dass es kaum Gegenstände gibt, die für Sie ein solches identifikatorisches Potential haben, wie die Texte zur Kunst.
Ich glaube, das liegt an Ihren Fragen. Sie hätten ja auch stärker auf meine Bücher Bezug nehmen können. Aber es stimmt auch – zwischen 1990 bis 1999 war ich beinahe ausschließlich mit Texte zur Kunst befasst. Dann habe ich 1999 eine Essay-Sammlung mit dem Titel Silberblick. Texte zu Kunst und Politik veröffentlicht. Das war der erste Versuch etwas Eigenes zu machen, was nicht Texte zur Kunst ist.
Seither habe ich auch viel Energie in meine Bücher und in die Lehre gesteckt. Zum Glück gibt es fantastische Redakteur:innen bei Texte zur Kunst, die einen sehr guten Job machen und mich entlasten. Dennoch werde ich als Gründerin und Herausgeberin natürlich ständig mit der Zeitschrift in Verbindung gebracht, ich weiß sehr viel über diese Geschichte, niemand sonst war so lange dabei. Aber ich habe mit dem Redaktionsalltag jetzt kaum noch etwas zu tun und konzipiere maximal eine Ausgabe pro Jahr. Gemeinsam mit dem Beirat und der Redaktion diskutiere ich allerdings regelmäßig die Richtungsentscheidungen. Solange es kein vergleichbares Forum für theoretisch fundierte, linke Kunstkritik gibt und solange uns Themen und Fragestellungen auf den Nägeln brennen, wird es diese Zeitschrift geben.
Es ist kein Problem für mich, verschiedene Hüte aufzuhaben, von dem Gespaltenen haben wir ja schon geredet – also sowohl den Texte zur Kunst-Hut als auch den Hut der Autorin, den der Lehrenden und den der Ausstellungsmacherin. In meinem Buch Der große Preis spreche ich in diesem Zusammenhang von einem »erweiterten Kompetenzprofil«, das im künstlerischen Feld zur Norm geworden ist. Das hat natürlich mit ökonomischen Bedingungen zu tun: Die Leute machen mehrere Jobs, um finanziell überleben zu können. Dass daraus jedoch oft Interessenkonflikte entstehen, müsste meines Erachtens stärker thematisiert werden.
Aber neben meiner kunsttheoretischen Studie über den Wert der Kunst liegen mir meine literarischen Bücher (In einer anderen Welt und Vom Nutzen der Freundschaft) schon sehr am Herzen. Ich würde mich schon freuen, wenn ich in Zukunft verstärkt damit in Verbindung gebracht werden würde.
Es gibt diese prominente Unterscheidung von Fuchs und Igel, die erst von Tolstoi, und später dann von Isaiah Berlin aufgegriffen wurde, in der es heißt: Der Fuchs weiß viele Dinge, der Igel weiß jedoch eine große Sache. Würden Sie sagen, dass Sie, aufgrund ihrer Metapher der vielen Hüte, eher eine Füchsin wären, oder gibt es dann doch die eine große Sache, in der alles zusammenfällt?
Im Sinne des Igels gibt es auf jeden Fall einen roten Faden, der sich durch all meine Arbeiten zieht – ein Interesse an Macht- und Ausbeutungsverhältnissen, aber auch für Formen der Wertzuschreibung und Wertdiskriminierung. In meinen Lehrveranstaltungen versuche ich, soziologische Perspektiven mit ästhetischen Fragestellungen zu verknüpfen und eben auch die ökonomische Dimension mit einzubeziehen.
Wenn man meine Bücher betrachtet, dann stellte schon Der große Preis den Versuch dar, Kunst und Markt nicht als polare Gegenpole, sondern als aufeinander bezogene Systeme zu denken, im Sinne einer spannungsreichen Wechselbeziehung. Von da geht dann Die Liebe zur Malerei aus, wo es um eine Untersuchung der »vitalistischen« Ökonomie der Malerei geht. Mich interessiert hier die besondere Wertform des gemalten Bildes.
Als letztes, das Buch, an dem ich gerade arbeite: Im Wert der Kunst werde ich diese Frage nach der besonderen Wertform des Kunstwerks nochmal systematisch vertiefen. In Vom Nutzen der Freundschaft befasse ich mich wiederum auf literarische Weise mit dem, was die Künstlerin Andrea Fraser einmal als »transactional friendships« in der Kunstwelt bezeichnet hat – also mit Freundschaften, die einen instrumentellen Zug haben und »Deals« implizieren.
Das eine Buch ergibt sich gewissermaßen aus dem anderen, wobei In einer anderen Welt in seiner Eigenschaft als Trauerbuch sicherlich eine Ausnahme darstellt. Ich denke schon, dass meine Arbeitsbiographie ein gewisses Maß an innerer Kohärenz aufweist. Während die autobiographischen Bezüge in meinen kunstwissenschaftlichen Arbeiten nur latent vorhanden sind, sind sie mit In einer anderen Welt stärker in den Vordergrund getreten. Aber auch hier regiert eine soziologische Sensibilität für Ausschlüsse, Diskriminierungen und Abwertungen.
Ist diese Retrospektive eine bewusste Praxis für Sie?
Ich bin eigentlich überhaupt nicht retrospektiv veranlagt, sondern habe immer das Problem, dass es mir so vorkommt, als hätte ich noch nichts getan, als stünde die eigentliche Arbeit noch bevor. Das, was war, zählt nicht. Und richtig gut wird es erst mit dem nächsten Buch. Wenn ich alte Texte von mir entdecke, kann ich mich oft kaum an sie erinnern – der frühere Text guckt mich ausgesprochen fremd an und ich kann es kaum fassen, dass ich das selbst geschrieben haben soll, das ist eine extreme Entfremdungserfahrung.
Ich neige dazu, mich auf die nächste Aufgabe, das nächste Problem zu fixieren, ich orientiere mich also immer nach vorne. Das mag auch eine déformation professionelle sein, die mit dem Zeitschriftenmachen zu tun hat. Die letzte Ausgabe von Texte zur Kunst liegt sogleich hinter mir: Man muss sich auf die nächsten konzentrieren. Für mich ist es eigentlich unfassbar und vollkommen abstrakt, dass es schon so viele Ausgaben der Zeitschrift gibt. Ich denke immer: Wie machen wir das nächstes Jahr? Ich denke immer an neue Ideen.
Und wie sieht diese eigentliche Arbeit, die jetzt beginnen muss, für Sie aus?
Ich fantasiere immer, dass ich mit dem Wert der Kunst jetzt ein Grundlagenwerk zur Wertfrage vorlegen werde. Darin versuche ich ein für alle Mal zu klären, für alle nochmal zum Mitschreiben, worin der besondere Wert der Kunst, den eigentlich niemand nachvollziehen kann, eigentlich besteht. Ich habe das alles auch schon halbwegs im Kopf und denke: Jetzt muss ich sie »nur noch« aufschreiben. Diese Vorstellung, dass das Eigentliche erst beginnt, ist mein Motivationstrick. So treibe ich mich selbst an, nach dem Motto: »Jetzt geht es erst los, das war alles noch gar nichts.«
Produktion: Helena Lang, Ole Burgemann, Simon Böhm
Fotografien: Holm-Uwe Burgemann
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