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#14 Senthuran Varatharajah

Ein Schriftsteller zu jener Zeit

von Holm-Uwe Burgemann

Als ich diesen Satz von Elizabeth Bishop lese, sitze ich unter keiner Platane. Keine Pyrenäen säumen den Himmel. Die Wärme dieses Sommers vor vier Jahren ist abwesend, alles ist lange her. »I never really sat down and said to myself, I’m going to be a poet. Never in my life. I’m still surprised that people think I am (…) There’s nothing more embarassing than being a poet, really.« Als ich den Schriftsteller Senthuran Varatharajah kennenlernte, schien die Welt leichter zu werden, nun ist sie schwerer geworden.

Ich hole Senthuran in Hildesheim ab, wo er gerade ein letztes Seminar gegeben hat. Ich stehe auf dem Parkplatz. Als er mich sieht, ist sein Blick sanft. Wir umarmen einander lange. In einer Woche wird der S. Fischer Verlag seinen zweiten Roman veröffentlichen, Rot (Hunger). Als Senthuran mir das PDF schickte, bat er mich, ich solle ihm bald schreiben. Aber was soll ich schreiben, wo dieses Buch doch nicht nur ein Buch ist, sondern auch der Bericht eines Lebens, ein Gebetsbuch also, dessen Psalme ich oft gehört habe, weil Senthuran sie, er wird es später sagen, sein ganzes Leben hindurch geprobt hat, um sie nun, um sich nun, loszulassen.

Als wir an seinem Esstisch platznehmen, der ebenso ein Schreibtisch ist, ist alles wie immer: das schwarze Linoleum; der schmale Licht­schein, der von einer einzelnen kaum ernst­zunehmenden Lampe herrührt, die noch dazu an einem einzigen Punkt befestigt ist und darum ständig droht, abzustürzen; das Bild an der Wand, das einen Mann zeigt, der auf eben einem solchen Stuhl sitzt, wie Senthuran es nun tut, und der eine Gestalt hat, aber kein Gesicht. Notdürftig schiebt er nun einige Arbeits­materialien zur Seite, die Luther­bibel und die Elberfelder Übersetzung; rechts in einer Vase steht eine immergrüne rote Lego-Blume. Die Sonne geht unter. Aus der Wohnung unter uns kommen Bohr­geräusche, die für die Dauer unseres Gesprächs nicht aufhören werden.

Vier Jahre kennen wir einander nun. Und während es das Los, die Bestimmung, der Grund eines solchen Schriftstellers ist, das Leben einer Schrift zu spenden, die nur selten etwas zurückgibt, ist es die Rolle seiner Nächsten nichts dagegen tun zu können.

I. Schöpfung, Erschöpfung

Wir wollten in einer Kirche sprechen, hier, in Berlin-Wedding. Aber jetzt sitzen wir doch in deiner Wohnung, weil du mir gerade, kurz bevor wir ankamen, gesagt hast, dass du müde seist.

Vor drei­einhalb Jahren, in einem anderen Sommer, im Juli 2018 haben wir unser erstes Gespräch in Süd­frankreich, in Orion, in einer kleinen Kirche geführt, in der Église Saint-Marie-Madeleine, die wir nur über die Empore betreten konnten. Das Kirchen­schiff vermaß unsere Stimmen, und die Wand hinter dem Altar­raum warf sie wieder zurück. So saßen wir dort, nachts, im Dunkeln, mit den Lichtern unserer iPhones auf die Decke über uns gerichtet, so saßen wir, dort, auf den kalten Bänken, und mit der verlassenen Kirche, in der seit Jahrzehnten keine Messe mehr gehalten wurde, mit dem Gespenst einer Gemeinde vor unseren Fingern, und wir konnten uns hören, so, wie man hört: verdoppelt, verspätet, verletzt. Wenn wir einmal zusammen in einer Kirche waren, werden wir immer zusammen in jeder Kirche gewesen sein.
Als ich meinen ersten Roman in einem anderen Sommer, im Juli 2013, zu schreiben begonnen habe, träumte ich davon, dass es einmal für mich möglich sein könnte, die ästhetische Erfahrung als eine religiöse Erfahrung zu erleben, und dass jede ästhetische Erfahrung, in der einsamen sinnlichen Leere dieses Begriffs, immer eine religiöse sein muss. Der erste Roman bot Anlass zu diesem Versprechen, weil er dieses Versprechen nicht halten, nicht einhalten konnte. Mit ihm bin ich gescheitert. Er ist der Beweis für die Schwäche meiner Hände. Meiner Einfachheit. Meiner Einfältigkeit.
Ich kann nicht sagen, aus welcher Richtung dieses Versprechen kam, aus welchem brennen­den Busch, vielleicht, vielleicht auch aus der Zukunft meiner Kindheit, aus den Steinen und Brocken der ersten, der stummen Jahre, oder aus einem einzelnen, vergessenen Psalm; ich wusste nicht, was es bedeuten wird, welches Ausmaß es besaß; was aus diesem Versprechen folgt.
Jetzt, nachdem ich meinen zweiten Roman geschrieben habe, weiß ich es. Jetzt weiß ich: dass die ästhetische Erfahrung eine religiöse Erfahrung ist. Und dass ich einmal in meinem Leben ein Buch schreiben konnte, ein Buch so stumm, so stumm wie ein Gebet. Wir sprechen von dort, wo unser Sprechen anfing. Wir haben die Église Saint-Marie-Madeleine nicht verlassen. Und dennoch: spreche ich aus einer anderen Verlassen­heit heute zu dir.

In Ein Mann, der schläft, schreibt George Perec in Abwandlung von Proust: »Heute habe ich mich schriftlich niedergelegt.« Das ist eine sehr romantische und eine nahezu beruhigende Perspektive. Und ich glaube, dass sie auch sehr zu dir gehört, weil du mir einmal erzähltest, nur im Zustand absoluter Müdigkeit richtig schreiben zu können.
Ich kenne keinen anderen Zustand außer den der Müdigkeit. Den der Erschöpfung. Ich kann mich an keinen anderen Zustand erinnern. Aus­geschöpft­sein. Aus­gesetzt­sein. Ausge­sprochen­sein; als wäre es immer wieder das Ende bereits gewesen. Als würde ich die Dinge so betrachten, nur so betrachten können, wie sie sich vom Standpunkt der Vernichtbarkeit, und der Vernichtung, von der Idealität der Zerstörung und ihrer Realität, von ihrer Materialität aus immer wieder darstellen. In diesem Winkel hat mich der zweite Roman gefunden; geschrieben. Arrangiert. Deformiert. Mein erster Roman dauert sieben Tage; er findet in sieben Tagen statt. Und dennoch: erzählt er keine Schöpfungs­geschichte, wie manchmal gesagt, und nahe­liegender­weise behauptet wurde, sondern etwas anderes, das nicht ihr einfaches Gegen­teil ist: mein erster Roman erzählt eine Erschöpfungs­geschichte. Im Sprechen schöpfen Valmira Surroi und Senthil Vasuthevan sich aus. Im Schreiben setzen sie sich aus. In der Sprache sprechen sie sich aus; bis nichts von ihnen übrig geblieben sein wird. Kein Knochen. Kein Stück Fleisch. Nichts.
Es gibt im Deutschen diesen plausiblen, einen selbst­verständlichen Begriff: lebensmüde. Bevor du kamst, und als du noch durch die Tür gekommen bist, hörte ich Put me down easy von L.C. Cook. To put someone down heißt nicht nur, jemanden hin-, jemanden schlafen legen, oder etwas schriftlich festhalten – to put something down on paper -, sondern auch, ein krankes, verletztes, oder altes Tier zu töten, the dog was put down.
Das ist mein letzter Roman. Ich werde keinen weiteren überleben. Und ich habe nur sieben­und­dreißig Jahre gelebt, um diesen einen Roman zu schreiben. Sieben­und­dreißig Jahre habe ich mich auf diesen Roman, sieben­und­dreißig Jahre haben mich auf seine Ankunft vorbereitet. Und ich bin ausgeschöpfter, ausgesetzter, ausge­sprochener als irgendwo zuvor; leer; bis zur Neige, bis zum Rand. Bis zum Ende.

Ich bin der, der mich selbst widerlegt. Ich bin der, der sich selbst erlegt. Ich bin der, der sich selbst widerspricht. Ich bin meine eigene Verneinung. Ich bin ein krankes, altes, verletztes Tier, Put me down easy, baby. / Don’t make it rougher, / and don’t make me suffer, just / put me down easy.

Aber, wenn ich nachfragen darf – und es ist eine große Frage, für die ich dennoch hoffe, dass du sie an dieser Stelle kurz beantworten kannst …
(lacht leise)

… warum bist du denn erschöpft?
Ich wurde letzten November von einer Kollegin gefragt, was für mich die wesentlichste, die bestimmende traumatische Erfahrung sei; was mich bis heute nicht loslässt. Ich kenne nur eine Antwort; nur eine Wunde: geboren worden zu sein. Die bloße Evidenz, zu leben, ist so monströs, so bestialisch, kalt wie jedes Gestern, unabhängig, unabhängig von den Ereignissen, den Taten des Tages und den Sekunden einer gekrümmten Nacht; unabhängig davon, was ich gesehen, und was mich gesehen hat. Meine Erschöpfung ist keine Antwort darauf; sie ist ihre Konsequenz.
Von dieser un­verzeih­lichen Tatsache werde ich mich nicht erholt haben werden. Alles andere – alles, was danach kam und was noch kommen wird: sind Fußnoten. Ein Echo des ersten Geräusches. Bei Hesiod ist, du weißt es, Hypnos, der Gott des Schlafes, der Bruder von Thanatos, der Bruder des Todes. Sie beide: sind Kinder der Nacht, von Nyx aus ihrer gesammelten Dunkelheit heraus gezeugt, ohne einen Vater. Ich bin müde, aber ich kann nicht schlafen. Ich ertrage es nicht, am Leben zu sein. Und ich kann nicht sterben.

Bedauerst du denn deine Geburt?
Ja.

Siehst du denn überhaupt keinen Nutzen darin?
Für wen? Für was? Ich bin eine Verschwendung von Raum; verschwendete Zeit. Vergeudetes Material. Vor zwei Jahren, in einem anderen Sommer, im Juli 2020, rief mich meine Mutter an, und das Gespräch verlief so, wie jedes Gespräch von uns verläuft; unser Sprechen kennt nur eine Richtung, und jedes Sprechen läuft immer nur darauf, auf den Anfang dieser Richtung hinaus. Auf ihre Klage. Auf ihre Anklage. Auf dasselbe Klage­lied. Das ist unser einziger Modus. In diesem Kasus spricht sie zu mir; und ich höre ihr zu, so, wie nur ein Sohn zuhören kann: mit offenem Mund. Wir haben nie gelernt, miteinander zu reden. Und je älter ich werde, umso mehr Trauer empfinde ich bei diesem Wissen, das ich nicht mehr leugnen, und dass ich mir auch nicht mehr erklären kann, umso trauriger werde ich nach jedem Telefonat.
Jeder in meiner Familie ist suizidal. Wir wurden von Anfang an dem Tod, der uns vorausging, und der uns wie ein Engel den Weg aus den Bomben, aus den Panzern, aus den Kugel gewiesen hat, anvertraut. Wir gehören zu ihm: weil er uns verschonte. An unserer Stelle ist jemand anderes gestorben. Das ist der Fall. Der Stand der Dinge. In diesem Telefonat, nachdem sie gesagt hat, was sie immer zu mir sagt, – wir haben alles für euch aufgegeben, wir haben alles für euch getan, wir haben uns unsere Rücken gebrochen, damit ihr euch nur euren Kopf zerbrechen müsst, und so, und so: und so dankst du mir – sagte ich zu ihr das, was kein Kind zu seiner Mutter sagen sollte; das, was ich ihr nicht vorher habe sagen können; was ich ihr vorher nicht antun wollte. Den einfachsten, den ersten Gedanken: dass ich sie nicht gebeten habe, mich zur Welt zu bringen. Dass ich nicht mein Einverständnis dazu gab. Dass ich nie zu allem – zu dem allem – zugestimmt hätte. Ich habe dich nicht gebeten, dieses Land, aus dem wir deiner Erzählung nach kommen, zu verlassen, ich habe dich nicht darum gebeten, diesen Krieg und diesen Völkermord zu überleben; ich habe dich nie gebeten, mich mit deinen heiligen Händen über jede Grenze zu tragen; mich zu halten wie ein Bündel, wie gebundenes Fleisch. Das – das alles – wollte ich nicht. Geboren worden zu sein ist unwider­ruflich. Selbst mein Tod wird dieses Gesetz, diesen ersten Satz, diese Setzung nicht annullieren können. Auch mein Tod ändert nichts daran.

Gilt das auch für andere Menschen?
Ich verstehe nichts von anderen Menschen. Und ich verstehe noch weniger von mir. In Johannes 21,18 sagt Jesus zu Petrus: »ich sage dir: als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wohin du wolltest; wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und hinbringen, wohin du nicht willst.«
Ich bin alt geworden. Und dieser Roman brachte mich dorthin, wohin ich nicht gehen wollte. In meine einfachste Nacht. In meine verzweigteste Trauer. In meine gerundete Angst. Dieser Roman streckte meine Hände. Aber wenn ich meine Hände ausstrecke, berühren meine Hände nur meine Hände.
Alles, was ich schreibe, liegt in einer Kreuzung, in der deutlichen Stelle, in der sich zwei Bereiche schneiden: Poetologie und Theologie. Wenn es wahr ist, was im Alten Testament, im 1. Buch Mose steht, - und wie sollte ich daran zweifeln? -, dass Gott uns nach seinem Ebenbild erschaffen hat, »denn als Bild Gottes hat er den Menschen gemacht«, oder, wie es in Psalm 8,6 heißt: »du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott«, wenn es wahr ist, was im Neuen Testament steht – und warum sollte ich daran zweifeln? – dass Gottes Wort fleisch­geworden, mensch­geworden ist, dann könnten wir vielleicht sagen, dass es eine Ähnlichkeit geben muss, eine ähnliche Vorsicht im Sprechen: über Gott, und über Menschen.
Die Negative Theologie, die sich auf vereinzelte Stellen aus Platons Dialogen beruft, in der die Un­aussprech­barkeit, und die prinzipielle Un­erkenn­barkeit der höchsten Idee, der Idee des Guten begründet, oder zumindest: fest­gestellt wird, die Negative Theologie geht, einfach gesprochen, davon aus, dass wir über Gott nur in einem bestimmten Modus, im Modus der ent­schiedensten Demut reden können: wir können nicht sagen, was, oder wer Gott ist, sondern nur, was, und wer er nicht ist. Gott ist, so spricht Anselm positiv, das, worüber wir hinaus nichts größeres denken können; er ist der höchste Begriff, und, das könnten wir vielleicht hinzufügen, spätestens seit der Fleisch­werdung seines Wortes, durch seinen Sohn, auch der niedrigste Begriff geworden. Und weil Gott das, und derjenige ist, weil seine Transzendenz und Immanenz für uns Menschen nicht verstehbar, nicht erkennbar ist, weil Gott sich unserer Vorstellung immer wieder entzieht, dürfen wir, streng­genommen, keine positiven Prädikate, keine prädikative Sprache, keine Definition und keine Attribution vornehmen, wenn wir über ihn reden.
Ja. Es ist richtig: auch negative Zu­schreibungen – negativ und positiv sind hier keine Wert-, aber qualitative Urteile – sind Zuschreibungen, aus der Verneinung heraus, ex negativo; but that’s not the point. Das ist keine Frage der Semantik, der Sprache, sondern der Epistomologie. Nicht die Wörter, ihre Beugung und ihr Gewicht, sind beschränkt, sondern unsere Erkenntnis­fähigkeit genügt nicht, um Gott zu erkennen; nach seinem Maß, und in seinem Ausmaß.

Aber wenn wir wirklich das Ebenbild Gottes sein sollten, wenn sein Wort tatsächlich in Christus Fleisch geworden ist – müsste die Vorsicht, und die Demut, unsere Haltung des Sprechens über Gott nicht auch für uns Menschen gelten? Müssten wir dann nicht auch von uns nur in dieser Form sprechen können: in der negativen, apophatischen Rede? Du bist kein Stein. Du bist kein Wolf.
Du bist kein Schatten.

Kafka schrieb am 8. November 1903 in einem Brief an seinen Freund Oskar Pollak: »(…) verlassen sind wir doch wie verirrte Kinder im Walde. Wenn du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt du von den Schmerzen, die in mir sind, und was weiß ich von Deinen? Und wenn ich mich vor dir nieder­werfen würde, und weinen und erzählen, was wüsstest du von mir mehr als von der Hölle, wenn dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich? Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrfürchtig, so nach­denklich, so liebend stehen wie vor dem Eingang zur Hölle.«
Was verstehe ich von anderen Menschen? Nichts. Was verstehe ich von den Büchern, die wir nicht mehr brauchen werden? Nichts. Was verstehe ich von mir? Noch weniger. Wenn ich zu jemandem spreche, spreche ich mit offenen Händen. Wenn ich über jemanden schreibe, werfe ich mich vor ihm nieder und weine. Wenn ich vor Gott stehe, stehe ich vor dem Eingang zur Hölle. Es gibt nicht nur die Differenz und Transzendenz Gottes, sondern auch die Differenz und Transzendenz des Menschen; eine vertikale Übersteigung, und eine horizontale; eine doppelte Übersteigung unserer Vorstellungs­kraft.
Der Körper ist ein Unterschied. Wir dürfen uns kein Bild machen. Ich spreche von unten nach oben. Ich lese auf meinen Knien, ich schreibe auf meinen Knien, ich warte auf meinen Knien. Die erste Wunde überschattet mich. Die erste Wunde überdauert mich. Meine Geburt wird mich überleben.

II. Hingabe, Aufgabe

Du hattest mir deinen Roman mit der Bitte geschickt, dass ich dir doch sagen solle, was ich über ihn denke. Und so sehr darin auch die einfachste aller Aufforderungen liegt, ein schlichtes Was meinst du? oder eher noch ein Und ist es denn gut geworden?, so konnte ich dir nicht die Antwort geben, von der ich glaube, dass du sie dir erhoffst (… Entlastung, Anerkennung, Trost). Ich habe dich darum um Geduld gebeten. Habe dir geschrieben, dass dieses Gespräch hier doch eine bessere Gelegen­heit wäre als jeder Austausch vorab. Etwas Sinnvolles sagen jedoch, eine belastbare Kritik, dazu fühle ich mich immer noch nicht imstande. Wenn es aber eine Sache gibt, die ich dann doch sagen kann – weil sie etwas anderes berührt, als das, wonach du gefragt hast – dann, dass ich dich in diesem, deinem Roman als unheimlich liebe­vollen Menschen getroffen habe; der von Menschen umgeben ist, die ihn voll­umfäng­lich lieben, die ihn geliebt haben, die ihn auch künftig lieben werden. Das ist der Grund, warum es mir so schwer fällt dieser – und ich sage das aus­hilfs­halber – dir eigenen Härte gegen dich selbst auf die Spur zu kommen: Weil du von einer Marter sprichst und ich vor allem Liebe sehe.

Bis heute verstehe ich das nicht. Bis heute kann ich das nicht verstehen. Es ist wahr, was Kendrick Lamar im Intro zu »Bitch don’t kill my vibe« singt; es ist umso wahrer für mich: »I am a sinner / who’s probably gonna sin again. / Lord, forgive me. / Lord, forgive me, / things I don’t understand. / Sometimes I need to be alone.«
Ich verstehe nicht, weshalb das so ist, und weshalb das ab einem bestimmten Punkt in meinem Leben immer so war; vielleicht ist das eine Form von Gottes Gnade, die wir unverdient, immer unverdient erhalten: dass er immer zur richtigen Zeit, und im richtigen Raum, mir den richtigen, die richtigen Menschen gegeben hat; sie zu mir führte.
Wenn dieser Roman davon erzählt, von meiner kältesten Nacht, und von der Trauer meines Mundes, dann muss er auch von ihnen sprechen; von denen, die genug Glauben hatten, als ich allen Glauben verloren habe. Die mich aufgerichtet haben, mit ihren Händen, die immer Hände sind; weil sie wissen, dass man nur im Stehen stirbt. Weil sie wissen, dass ich noch nicht sterben kann. Wie kann ich dieses Glück vor mir recht­fertigen, für mich verständlich machen, wenn ich weiß, wer, und was ich bin? Ich kann es nicht.
Es gibt keinen Grund, mich zu lieben. Gnade ist immer unverdient. Also muss es Gnade sein.

Du schiebst dich in die Empfängnis, ins Passiv. Du bist der, dem zustößt, was du verdienst; doch ich kann das nicht glauben. Du sagst, du verstündest nicht, warum dir immer wieder diese große Liebe widerfährt. Im Roman ist das die Liebe von »E«, die uns unbekannt bleibt, jedoch als einstigen Menschen an deiner Seite kennen­lernen, in all ihrer Größe, in all ihrer Liebe. Doch warum das so ist, lese ich dann, und so sagst du es nun auch hier, das begreifst du nicht. Aber ist nicht gerade dieser Roman einer der Gründe. Ist dieser Roman nicht innerhalb der Liebes­geschichte auch der Auszug aus einem Gebets­buch, aus einer ganz bestimmten Lebens­weise, die uns als Bericht, als Kompendium, als deine Selbst­erklärung vorgelegt wird? Sodass wir sagen müssen: Dies ist weniger ein Buch, als es ein Leben ist.
Was unsere Hände berührt haben, davon werden wir singen. Als in einem anderen Sommer, am 15. August 2021 Kabul fiel, so, wie es jetzt heißt; so, wie es in den Geschichts­büchern einmal stehen wird, und ich die Menschen gesehen habe, in dieser Dunkelheit auf dem Rollfeld des Flug­hafens, diese Angst, diese Verzweiflung auf Asphalt; als ich diese Bilder sah, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben das empfunden, den nahe­liegendsten, und darum für mich entferntesten Gedanken; und die Scham und Schuld, die er mitbringt, und die mich kennen, seit meiner Geburt: dass wir Glück hatten.
Dass wir nur Glück hatten.
Heute; heute wären wir nicht hier. Heute hätten wir nicht den Weg nehmen können, den wir genommen haben. Wie heilig müssen die Hände meiner Mutter gewesen sein, die meinen älteren Bruder und mich allein aus dem Krieg getragen haben? Wie zufällig ist eine biographische Zufällig­keit? Für wen entscheidet sich der Tod? Es wurde nie so deutlich gesagt, aber meine Eltern mussten es auch nicht deutlich sagen; ich habe es verstanden, von Anfang an: dass wir keinen Völker­mord überlebt haben, damit ich mittel­mäßig sein darf. So wurde ich erzogen. In dieser Haltung. Unter diesem Imperativ. Durch diesen Appell.
Die Härte, mit der ich erzogen wurde, ist die Härte geworden, mit der ich mich erziehe. Diese Härte habe ich für mich reserviert. Sie ist nur für mich bestimmt. Ich bin zu alt, um daran etwas ändern zu können. Mein Körper bezeugt die Finger meiner Eltern; ihre Dauer; ihre Ewigkeit: ihre flache Hand, ihren Gürtel. Den 50 cm langen Bambus­stock. Mein Körper ist ihr Zeuge.
Mein Mund ist eine Wunde, die ich nicht verstehe. Aber es muss Glaube gewesen sein, Glaube, und nichts anderes, der uns hierher­geführt hat; in dieses Land, und in diese Sprache. In dieses Alphabet, und an das Messer dieser Grammatik. Der Glaube meiner Mutter: daran, dass wir überleben werden, daran, dass wir einmal an­kommen werden, daran, dass wir meinen Vater wieder­sehen werden, daran – als ich ein Kind war, konnte ich so zu Gott sprechen, wie ich nie wieder seitdem ge­sprochen habe. Ich konnte mich ihm anvertrauen, in meiner un­geheuer­lichen Gestalt. So schreiben zu können, wie ich einmal beten konnte – dieser Gedanke hält mich fest.
Wie überraschend ist die Tatsache, dass wir in unserem ganzen Leben nicht ein einziges Mal unser eigenes Gesicht gesehen haben werden? So, wie andere unser Gesicht sehen; so, wie du mich jetzt siehst. Ohne Spiegel, und nicht spiegel­verkehrt. Nicht auf einem Foto, dass es verkleinert, verflacht; vereinfacht und verzögert. Nicht durch einen anderen Gegenstand.

Wenn wir einen Menschen lieben, geben wir diesem Menschen unser Gesicht; wir müssen es nicht mehr vor ihm wahren. Wir können es ihm anvertrauen. Vor ihm können wir unser Gesicht verlieren. Und wenn ich schreibe, verliere ich es. Wenn ich schreibe, gibt es niemanden, dem ich mein Gesicht geben könnte. Wenn ich schreibe, zerstöre ich
mein Gesicht.

Die letzten Kapitel des Romans habe ich als Gast der Inter­nationalen Martin-Luther-Stiftung und der Deutschen Bibel­gesell­schaft auf der Wartburg geschrieben, dort, wo Luther vor 500 Jahren das Neue Testament ins Deutsche übersetzte, und ich habe verstanden, dass ich diesen Roman, der alles von mir genommen hat, der auf alles von mir bestand, der alles von mir verlangte, dass ich diesen Roman nur habe schreiben können, weil ich immer eine Form des Gott­vertrauens besaß – against all odds. Es gab keine Stunde, in der ich nicht bereit war, mir mein Leben zu nehmen.
Ich suche nicht das Wort, das im Anfang, und das bei Gott gewesen sein soll, weil Gott dieses Wort ist, sondern das, was diesem Wort vorausging. Wie lange hat Gott geschwiegen? Wie weit öffnete er seinen Mund? In welcher Stimme, in welchem Fall hat er gesprochen? Wie groß muss Gottes Einsamkeit gewesen sein, im Vergleich zu meiner? Wie einsam war Gott, um uns erschaffen zu müssen? Was, und wer, ist Gott ohne uns, ohne seine Zeugen? Was ist, wenn Gottes Wort mein Schweigen ist?
Die Wörter, die ich nicht sagen konnte, haben andere für mich gesungen. Mit diesem Roman habe ich mich ans Messer geliefert.

Dieser Roman ist ein Gebet. Ein Gesang.
Ein Gebetsbuch; ein Gesangbuch. Ein Hohelied der Liebe. Mein schwarzes Album. Mein Neues Testament. Dieser Roman ist eine Apokryphe: ein nach­gereichtes Buch der Bibel. Dieses Buch ist ein Psalm.

Psalmós heißt auf altgriechisch Lied. Und das heißt für mich Glauben: in der tiefsten, traumlosen Dunkelheit, in dem ent­setzlichsten Wissen, in dem kein Mund uns finden wird, im Fehlen jeder Himmels­richtung, singen wir. Oder, wie es in Brechts Svendborger Gedichten heißt: »In the dark times / Will there be singing? / Yes. There will also be singing. / About the dark times.«

Sind deine Eltern stolz auf dich?
Ja. Weil sie nicht wissen, was ich schreibe. Weil ich in einer Sprache schreibe, die sie nicht verstehen. Als ich angefangen habe, diesen Roman zu schreiben – und ich kann diesen Anfang, den Augen­blick, in dem sich der Roman für mich entschieden hat, nicht datieren; alles, was ich weiß, alles, woran ich mich jetzt noch erinnern kann, ist, dass ich, als wir uns in diesem immer gleichen Sommer in Orion zum ersten Mal gesehen haben, alles, was ich weiß, ist, dass ich in diesem anderen Juli den ersten Satz schreiben konnte, ihn bereits geschrieben hatte; diesen einen Satz, auf den ich drei Jahre gewartet habe: Das ist eine Liebesgeschichte …

Als wir uns das erste Mal sahen, hast du gesagt, du wüsstest nun den ersten Satz für deinen zweiten Roman und hast mir genau diesen gesagt …
… als dieser Roman mit mir anfing, fragte ich mich, ob die Dinge vielleicht anders liegen, anders, als wir anzunehmen, und vielleicht auch zu glauben bereit sind: dass nicht unser Unbewusstes, wie Lacan mit Verweis auf Lévi-Strauss sagt, wie eine Sprache strukturiert sei, sondern, ob nicht vielleicht unsere Sprache unser Unbewusstes ist. Was ist, wenn unsere Sprache das trägt, was wir nicht ertragen können? Was ist, wenn sie das sagt, was wir nicht sagen dürfen? Wir sind uns über den Umfang und über die Umgebung der Wörter nicht bewusst. Wir kennen nicht das Maß ihrer Zähne, und auch nicht das ihrer Geduld.
Es gibt einen Ernst der Sprache, den wir nicht verstehen. Unsere Sprache der Liebe ist eine kanni­balische Sprache. Die Hoffnungslosig­keit unserer Rede­wendungen – und was könnten Rede­wendungen anderes sein als sedimentiertes, trauerndes Wissen? – bezeugen es. Wir sprechen einen Wunsch aus, dem unsere Anatomie widerspricht. Weil unsere Anatomie ihm widerspricht. Damit unsere Anatomie ihm widerspricht. Wir sagen: ich habe dich zum Fressen gern. Wir sagen: ich fresse dich, mit Haut und Haaren. Wir sagen: I want to eat you out. Yerim seni. Jigar-e to bokharam. Ez de dl u melaka ta xum. Ta ha zemrën. Unsere Sprache der Liebe ist eine kanni­balische Sprache, weil unser Körper eine Grenze ist. Sieh hin: diese Haut. Dieses Fleisch. Diese Knochen.
Wir liegen auf der Brust eines Menschen, den wir lieben; der Mensch, den wir lieben liegt auf unserem Schoß – und er fehlt. Wir vermissen ihn. Wir empfinden diesen Abstand, zwischen uns, diesen Abstand, der immer gleichbleibt, und für den wir keine Maßeinheit kennen, keinen Meter, keine Kilometer, keine Hand.

Der Mensch, den wir lieben, ist der abwesendste, der entfernteste Mensch von allen: weil er nie nah genug sein kann. Weil er immer zu weit entfernt ist. Unser Körper ist ein Unterschied. Dieser Körper ist eine Grenze. Der Roman wird durch diese Sätze, und durch die Empfindung und Stille, die ihnen vorausgingen, sprachlich legitimiert. Aus diesem Hunger ist er gekommen. Wir nehmen diese Sätze in den Mund, ohne zu wissen, was sie bedeuten. Was sie wollen. Worauf sie hinauslaufen. Wir sagen sie, ohne ihren Durst, ohne ihre Vehemenz und Konsequenz zu kennen.

Aber ich lag falsch. So, wie ich immer falsch liege. Es gibt nicht nur eine lange, sprach­kritische Tradition in der Philosophie, sondern auch eine in der Literatur, die eine verwandte Skepsis teilt, und der ich mich früher, vielleicht aus Gründen der Sentimentalität, und des einfachsten, falschen Schmerzes, zugehörig fühlte. Ihr Unbehagen ist ein allgemeines; auch Menschen, die nicht schreiben, glauben daran: dass die Wörter zu wenig sind. Dass sie uns verraten. Dass sie uns täuschen. Dass sie uns in eine falsche Richtung lenken. Dass sie nicht ausdrücken können, was wir wirklich – was wir wirklich – meinen.
Aber wenn ich als Christ spreche, und wie sollte ich anders sprechen, wenn ich weiß, dass Gott das Wort ist, und das Gott sich uns in der Bibel offenbart hat, als Sprache, in Sprache, und durch Sprache, so, wie Gott sich in dieser Sprache, in seiner Heiligen Schrift verbirgt: als Verberger, als Verbergen, und das als Verborgen­sein selbst – der offenbarte Gott, deus revelatus, ist ein verborgener Gott, ein deus absconditus, und umgekehrt –, dann müsste ich anders sprechen. Dann darf ich nicht von der Unzu­länglich­keit, vom Ungenügen und der Schwäche der Wörter ausgehen. Subjekt und Objekt liegen woanders; anders, als ich annahm; anders, als ich glaubte.

Ich – bin weniger als ein Wort.
Ich bin geringer als ein Wort.
Im Vergleich zu einem Wort bin ich Nichts.

Die, vor allem jüdische Philosophie, die von der Irreduzibilität, der Unhinter­gehbar­keit eines Du, die von der grund­sätzlichen Differenz, Diskrepanz und Diskontinuität zwischen dir und mir ausgeht, diese sanfteste Geste der Philosophie, die das Antlitz, das Gesicht eines anderen Menschen bewahrt, beschützt, in dem sie sich jede Projektion und jede Fixierung, in dem sie sich jedes Bild und Ebenbild, im geschichtlichen Wissen um das Desaster, den Tod, den Genozid, der vor den Zuschreibungen und nach ihnen kommt und immer kam, verbietet, diese Philosophie spricht aus einer Haltung, aus einer Geistes­haltung, die auch unsere Zurück­haltung sein sollte, wenn wir über Sprache sprechen.
Ich stehe unter den Dingen. Ich stehe unter jedem Wort. Ich kenne keine Maßeinheit außer meiner leeren Hand. Die erste literarische Erfahrung ist vielleicht die: dass es nur Wörter sind, die uns zerreißen. Dass es nur Sprache ist, die uns verformt. Dass die Sätze uns im verborgensten Winkel unseres zurück­gelassenen Körpers lesen, deuten. Herta Müller sagt in einem Interview mit der Paris Review: »It’s the words that are hungy. I’m not hungry for words, but they have a hunger of their own. They want to consume what I have experienced. And I have to make sure that they do that.«
Wenn wir einen Menschen nicht für unsere Zwecke instru­mentali­sieren, wenn wir ihn uns nicht unterwerfen dürfen, wenn wir keinen Menschen ver­dinglichen sollen, wenn er keine Fläche für unsere Projektionen sein darf – warum wenden wir dieses andere mosaische Gesetz, seine Wahrheit und sein Recht, dann nicht auch auf die Sprache an? Warum weiten wir diese Vorsicht nicht auch auf die Wörter und Gegenstände aus, die uns von()einander, und voreinander trennen?

Wir sollten die Sprache nicht zur Verantwortung ziehen, für die Dinge, die wir von ihr verlangen; die wir von ihr erwarten, ohne sie vorher gefragt, ohne nach ihrem Einvernehmen gefragt zu haben. Wir sollten sie nicht in Haft nehmen für die Eigenschaften, die wir ihr zuschreiben: für unseren Traum von ihr, der nicht ihr Trauma ist. Die Wörter erzählen uns mehr als nur das, was wir in sie hineinsprechen. Ich bin ihnen ausgesetzt. Ich bin ihnen ausgeliefert. Ich habe keinen Grund, an ihnen zu zweifeln. Ich schulde ihnen alles.

Sie kommen zu ihrer Zeit, und zu ihren Bedingungen. Das ist meine Form der Hingabe; des Gott­vertrauens. Wenn ich sage, dass die ästhetische Erfahrung eine religiöse ist, dass also die poetische Erfahrung eine prophetische, präzisier vielleicht: eine mystische ist, dann meine ich das: dass ich nicht sagen kann, wer durch meine Hände geschrieben hat. Dass ich nicht einmal sagen kann, ob meine Hände diesen Roman geschrieben haben. Dass ich im Dienst, im Gottesdienst der Sprache stehe; damit sie mein Rückgrat bricht, und mir mein Genick. Bis sie meine Organe herausnimmt und nummeriert, jedes einzelne, neben diesen Zähnen.
Ja. Es ist richtig: wir ertragen nicht, was wir ertragen müssen. Ja. Es ist richtig: es gibt keine Sprache, die trägt, was wir nicht tragen können. Ja. Meine Eltern sind stolz auf mich.

Es gibt in deinem Roman eine Stelle, in der du beschreibst, dass, wenn ein Jäger dem Tier seine Innereien entnimmt, ihm, in der Weidmanns­sprache, das »Geräusch« entnimmt. Ich beobachte das Schreiben bei dir ganz ähnlich. Ich glaube, es gibt Bücher, die lassen sich lesen als ein Geräusch, das heraus­genommen wurde, das während ich lese, heraus­genommen wird. Auch in Rot (Hunger) beschreibst du diesen Vorgang. Doch es ist nicht Armin Meiwes, der Bernd Brandes ausnimmt, und es ist auch nicht die jahrelange Hingabe von »E.« und den anderen, die dich ausnimmt. Du bist es. Du bist der, der den Schnitt, die Öffnung vornimmt, der sich entblößt und sein Innerstes sprich­wörtlich nach außen kehrt, sodass es jeder (und auch sie) lesen kann.
Ein Schnitt ist nur ein Schnitt; weil er uns verbindet. Das ist mein Leib, für euch. Tut dies zu meinem Gedächtnis. Ich erinnere mich, daran, dass wir in Orion – und Orion ist in der griechischen Mythologie ein Jäger, der von zwei Jagd­hunden, von Sirius und Procyon begleitet wurde – über meine Passivität gesprochen haben; darüber, dass ich mich immer nur als Objekt, als Zuschauer sehe, und keine Hände besitze, keine Klauen, nichts, um eingreifen, um mein Geräusch halten zu können. Daran hat sich nichts geändert. In der Sprache der Jäger heißt Geräusch: Herz, Leber, Lunge und Nieren eines Schalen­wildes. Aufbrechen heißt: das Geräusch herausnehmen. Aber ich bin kein Jäger. Ich bin das Tier. Ich öffne nichts; ich werde geöffnet. Aufgebrochen; aus­geweidet, gewildert bis zur Unkenntlich­keit, von jedem Wort.
Ich muss anders anfangen. Einen Körper bricht man erst mit der Stimme. Und diese Stimme, die ich gehört habe, immer von irgendwo her, wie ein Geräusch aus einer Richtung, diese Stimme, die mich fand, und die ich nicht bestimmen, die ich nicht beziffern, die ich nicht benennen kann, und die hier war, einfach so; so einfach, wie eine Stimme zu uns kommen kann, beugte, deklinierte mich: nach ihrem Willen, und nach ihrem Gesetz.
Dieser Roman hat mich gebrochen; auf­gebrochen. Dieser Roman legt mein Geräusch, mein Herz, meine Leber, meine Lunge und Nieren, das Wenige, das ich habe, das Wenige, das ich bin, in andere, in Deine unbekannten Hände. Ich: schaue nur zu. Wir geben, was wir nicht haben.
Teilen heißt beides: trennen und verbinden. Annie Ernaux beschreibt diese Situation in ihrem Roman Die Scham, in der Sprache des Neuen Testaments: »nehmt und lest, denn das ist mein Leib und mein Blut, das ich für euch vergießen werde.« Aber es sind unsere monströsen Hände, und die Bestialität unseres Mundes, die wir geerbt haben, als Schuld, und als Chance, von Gott und den Tieren, die uns mit seiner Sakralität und ihrer Animalität, die uns mit seiner Animalität und ihrer Sakralität verbindet. Ich bin so weit von einem Tier entfernt, bis ich wieder ein Tier bin. Ich bin der, wie Simone Weil in Schwerkraft und Gnade schreibt, der von Gott am weitesten entfernt ist, an jener äußersten Grenze, von der aus« – Weil sagt hier: »von der aus es noch nicht völlig unmöglich ist«; ich aber muss anders sprechen: von der aus – »es« unmöglich ist, »zu ihm zurückzukehren. In unserem Sein ist Gott zerrissen. Wir sind die Kreuzigung Gottes.«
Und so sprechen wir: mit einer dreimal gespaltenen, mit einer zerrissenen Zunge. Von dieser Trinität, von dieser Drei­faltig­keit gehe ich aus: von drei Stimmen. Erstens: die Stimme, die wir nie hören werden. Das ist die Stimme, in der ich gerade zu dir spreche. Ich höre mich anders, als du mich hörst. Wir erinnern uns vielleicht an diese Scham, an dieses Entsetzen: zum ersten Mal unsere eigene Stimme – damals: auf einem Kassetten­recorder meines Vaters aufgenommen – gehört zu haben. Wir erkennen sie, wir erkennen uns nicht wieder. Aber das: sind wir. Das: sollen wir sein. Das ist die Stimme, die andere kennen, und an der sie uns wieder­erkennen werden. Zweitens: die Stimme, die nur wir hören. Jetzt, wenn ich zu dir spreche, hörst du mich so, wie ich mich nicht höre; so wie ich mich aus anatomischen Gründen nicht hören kann. Mit dieser Stimme sind wir allein. Niemand anderes hört sie. Sie ist unser privatestes Rauschen. Unser Geheimnis. Nur wir erkennen uns an ihr, nur wir erkennen uns in ihr wieder. Sie lässt sich nicht dokumentieren, nicht durch jemand anderes, oder etwas anderes, wiedergeben, sie lässt sich nicht re­produzieren, nicht wieder­holen. Von ihr können wir nicht erzählen. Niemand würde uns glauben, was wir gehört haben. Niemand außer uns kann ihre Realität bezeugen. Die dritte Stimme ist die letzte: unser verschlossener Mund. Die Stimme – und manchmal auch die Stimmen -, diskret, irgendwo in uns, die für keinen anderen bestimmt ist, aber für Gott, die nicht aus­gerichtet ist, für keine Ohren, und nicht einmal auf uns selbst. Die bei uns bleibt, und uns, unseren Körper nicht verlässt. Die Stimme, in der wir lesen, in der wir zu uns sprechen, und aus unserer Einsamkeit in ein Gebet. So: vertrauen wir uns ihm an. So: falten wir unsere Hände. So: kehren alle Sätze zu uns zurück.

Jede dieser drei Stimmen kommt aus einer anderen Richtung, Aus einem anderen Hunger. Aus einem anderen - es spielt keine Rolle. Wenn ich schreibe, verliere ich sie. Wenn ich schreibe, durchtrenne ich meine Stimmbänder. Wenn ich schreibe, teile ich meinen Rachen. Nur eine andere Stimme, die nicht unsere ist, und die von woanders herkommt, kann uns öffnen.

Wir öffnen einen Körper wie ein Buch.
Wir öffnen ein Buch wie einen Körper.
Aber hier: liegt nur mein Geräusch.

III. Monument, Monster

Du hattest vorhin gesagt, du seist weniger als ein Wort, was mir zunächst als religiöses Argument scheint. Es ist aber auch ein sprachkritisches, ein Misstrauen gegenüber den bloßen Worten, eine Ablehnung des Augenblicks, in dem wir sagen, these are just words. Und das im doppelten Sinne.

Hegel sagt, die Philosophie sei das Gegenteil des gesunden Menschen­verstandes. Ich glaube, das gilt auch für Literatur; für Literatur als einen Modus der Reflexion; für eine Form der Literatur, die weder an Geschichten noch am Erzählen interessiert ist. Ja. Das ist eine verbreitete Haltung, die, über­raschender­weise, Menschen, die schreiben, mit Menschen, die nicht schreiben, teilen. Ein Grund mag darin liegen, dass Menschen Sprache auf einen Zweck reduzieren – auf ihren kommunikativen Aspekt. Aber Sprache ist nicht nur das. Die Sprache der Literatur ist vor allem nicht das.
Ilse Aichinger sagt in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk: »die Sprache ist, zum Unterschied von allen anderen Möglichkeiten der Aus­einander­setzung, der künstlerischen Aus­einander­setzung, ja ein Mittel, das auch als Zweck, als Mit­teilungs­zweck benutzt wird, nicht auch, sondern nur als Mit­teilungs­zweck benutzt wird, und man ist nicht ge­wöhnt, es als etwas anderes zu betrachten, nämlich als ein Mittel zum Schweigen, zum Beispiel. Wenn einer malt, oder Skulpturen macht, so sagt man nicht: »mit dem Stein hättest du was anderes tun können, oder mit den Farben hättest du etwas anderes machen können als zum Beispiel deine Bilder.« Wenn einer schreibt, so sagt man ihm, du hättest verständlicher schreiben müssen, weil man schon wieder die Mitteilung als erstes sieht, und nicht die andere Aufgabe der Sprache, nämlich in Schweigen zu übersetzen.«

Wenn ich sage, die ästhetische Erfahrung ist eine religiöse, dann meine ich auch das: wenn ich schreibe, ist Sprache kein Instrument; ich bin das Instrument der Sprache. Sie ist das Subjekt. Ich bin das Objekt. Ich: schaue nur zu.

Weil ihr Wille geschehe, wie im – man sagt: ein Buch sei wie ein Kind, wie ein Baby. Ein Buch zu schreiben: wie eine Geburt. Ich verstehe nichts von diesen Dingen. Aber, was ich weiß, ist: dass nicht ich dieses Buch geschrieben habe, sondern es mich. Was ich weiß, ist: dass nicht ich dieses Buch erschaffen habe, sondern es mich. Was ich weiß, ist: dass die Verhältnisse anders liegen; dass sie umgekehrt sind. Dass das Gegenteil wahr ist.
Das gewöhnliche Misstrauen, das Menschen gegenüber der Sprache kultivieren, erinnert mich an eine verwandte Form des Verdachts: an die philosophische Feindschaft gegenüber den Sinnen. Der Feindschaft gegenüber dem Körper, die spätestens seit Parmenides, seit seinem Lehrgedicht in ihrer einfachsten Gestalt ausgesprochen und, seitdem, als ein philosophisches Prinzip, wir könnten auch sagen: als eine philosophische Ideologie, erhalten und bewahrt blieb. Dass Wahrheit das Eine sei, gleichbleibend, über jeder Zeit; dass das Wahre sich nicht verändert, wie die Dinge, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, dass das Wahre nicht verschwindet, wie die Dinge, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, dass das Wahre nicht vergeht; wie wir und unser Körper einmal vergehen werden.
Es gibt Menschen, die aus Angst schreiben: vor dem Tod, vor ihrem eigenen, und vor der Idee des Todes selbst. Die ihn überleben wollen. Die, in irgendeiner Form, weiterleben müssen. Wenn ich schreibe, möchte ich nur das: dass jedes einzelne Wort mich vernichtet. Das Argument, das auch Descartes am Anfang der Philosophie der sogenannten Neuzeit verwendet, um die Un­zu­verlässigkeit der Sinne noch einmal zu beweisen, um die Sinne wieder zu denunzieren, ist, ich kann es nicht anders ausdrücken: auf eine beeindruckende Art kindlich, unreif: weil die Sinne uns einmal betrogen haben, könnten wir uns nicht auf sie verlassen. Sie würden uns keine Sicherheit, nichts Verbindliches, keine feste Erkenntnis geben. Aber wie oft täuscht uns unser Geist? Wie oft führen unsere Gedanken uns in eine andere, in eine barbarische Richtung?
Wahrscheinlich sind alle Dinge, die ich denke, falsch. Ich kann mich auf meine Gedanken nicht verlassen. Die Stimmen, in mir, die ich höre, weil sie zu mir sprechen, immer, als wäre ich ein anderer, als wäre ich ein entfernter Gegenstand, den man wenden, den man anschauen, den man tragen könnte, sagen mir nichts, woran ich glauben darf; nichts, das ich in eine Handlung übersetzen will.

Nur, weil die Wörter uns enttäuscht haben – und die Enttäuschung wäre in diesem Sinn das Ende eines Zustandes, der der Täuschung bedarf –, weil wir sie auf einen traurigen Zweck, und nur zu ihrer Handhabung, reduzieren, werde ich nicht aufhören, jedem Wort zu vertrauen. Nicht wir halten unser Wort. Sondern das Wort hält uns. Dass Wörter uns enttäuschen, liegt nicht an den Wörtern. It’s not on them. This is on us.
Ich gebe dir mein Wort. Du hast mein Wort.

Dieser Roman erzählt davon, was geschieht, wenn man den Worten Folge leistet. Ihnen nachgeht, sie auf ihre Belastbar­keit, ihre Bedeutung prüft. Da gibt es den Einen, der das Bedürfnis hat, seinen Hunger durch Menschen­fleisch zu stillen, und den anderen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als dass er es ist, der verspeist wird. Sie nähern sich einander mit Worten. Und dann gibt es, und so erschließt sich eine Drei­einig­keit, das Ich dieses Romans, das nebenher geht. Dieses Ich bist du. Auch du spürst Hunger. Einen Hunger, den nur das Schreiben dieses Romans stillen konnte, und wenn auch nur für eine begrenzte Zeit.
Jetzt also komme ich in die Verlegen­heit, etwas Verbindliches über dieses Buch zu sagen. Ich bin es nicht gewohnt, darüber zu reden. Das ist mein erstes Gespräch. Die ganze Sprache, die diesen Roman begleitet hat, weil sie ihm vorausging, alle Begriffe, die diesen Text provoziert haben, weil sie ihn in sich hinein­riefen, sind verschwunden. Ich habe keinen Zugriff mehr auf sie. Ich kann in dieser Terminologie, in dieser Sprache, in dieser Sprache von Gestern und Vorgestern, nicht mehr sprechen. Ich finde diese Stelle nicht. Ich kann diese Stelle nicht mehr finden. Vor vier Monaten habe ich diesen Roman beendet. Und dennoch: fängt er erst jetzt, erst jetzt fängt er wieder an. Jetzt: muss ich andere Wörter versammeln. Andere Wörter anrufen. Auf andere Wörter warten. Das erste Sprechen ist immer ein ereignis­loses Sprechen. Gestammeltes Schweigen. Ein Wühlen mit dem stumpfen Messer.
Lass mich also mit etwas Nach­vollziehbarem beginnen; mit der Form. Ursprünglich wollte ich den Roman in der Struktur eines Triptychons gestalten; aus dem Triptychon ist ein Diptychon geworden. Der Roman besteht aus zwei Tafeln, die jeweils in 12 Kapiteln geteilt sind: A und B. Ein unvollständiges Alphabet. Ein Präfix. Eine Vorsilbe. Ab-brechen. Ab-trennen. Ab-schneiden. Ab-beißen. In der Mitte des Buchs, zwischen den beiden Tafeln, als ein Zeichen des Verlusts: ein doppel­seitiges Gemälde, in unter­schiedlichen Abstufungen von Rot, von meinem Freund Kurt Bille, der auch das Cover designt hat, und den ich wie Dich in Orion das erste Mal gesehen habe.
Der Roman erzählt zwei Geschichten, abwechselnd, die so fest ineinander verkeilt, so eng miteinander verzahnt sind, nicht nur hinsichtlich ihrer Symbolik, Metaphorik und Motivik, sondern in jeder anderen Hinsicht auch, bis sie nur eine Geschichte, diese eine Liebesgeschichte sein werden; das, was sie von Anfang an bereits waren. Der Roman erzählt einmal von einem Jahr; von einem Schriftsteller, nach einer Trennung, und von einem Tag, von einer Verabredung, von einer Verbindung; davon, wie Armin Meiwes, der sogenannte Kannibale von Rotenburg am 9. März 2001 Bernd Brandes in seinem Ein­verständnis, und nach seinem Willen, getroffen, getötet, und Teile von ihm gegessen hatte.
Jeder Mensch, der diesen Roman einmal lesen sollte, der ihn einmal gelesen haben wird, wird eingebunden sein, in eine kannibalische Handlung; wenn ich aus diesem Roman lese, muss das eine Form von Auto­kanni­balismus, von Selbst­verspeisung sein. Aber ich empfinde keinen Hunger auf Wörter; ich kenne keinen Hunger auf das Schreiben. Ich weiß nicht, warum ich schreibe, und ich bin auch nicht daran interessiert, es heraus­zufinden. Ich muss keine Gründe kennen. Ich schreibe aus dem Nichts. Ich komme aus dem Nichts. Ich bin Nichts. Aber, was ich weiß, ist auch das: dass es falsch wäre, zu glauben, dass nur Armin Meiwes – im Roman: A – Hunger empfunden hat. Auch das, was Bernd Brandes – im Roman: B – empfand, und seine Sätze sprechen davon, seine Sätze sprechen ihn aus, war Hunger; Hunger, und nichts anderes: »Ich will meine Haut für deine Zähne hinhalten. Ich möchte deine Zähne in mir arbeiten sehen. Ich will, dass du mir den Schwanz abschneidest, mir das Fleisch bei lebendigem Leib von den Knochen reißt und mich auffrisst.«
Die direkte Rede von A und B besteht im Roman aus­schließlich aus Original­zitaten, die aus ihrem Chat, aus ihren Nachrichten, aus Interviews, die Armin Meiwes nach seiner Inhaftierung dem Journalisten Günther Stampf gab, entnommen worden sind, und die ich aus lyrischen Gründen, und nach dem dramaturgischen Maß der Verse, gebrochen habe.

Das Gegenteil von Gott ist nicht der Teufel, sondern Gott. Das Gegenteil von Armut ist nicht Reichtum, sondern Gerechtigkeit. Und die Antwort auf Hunger – ist Hunger. Was sollte sie sonst sein?

Ich muss vielleicht etwas – und ich empfinde einen Widerstand, über diese, wie soll ich sagen, obszönen und vulgären Dinge zu sprechen; ich empfinde einen physischen Widerstand, hier, in meinem Mund; eine Art Langeweile –, ich muss vielleicht etwas hinzufügen: dieser Tag, von dem dieser Roman auch erzählt, diese Tat gehört zu den berühmtesten Kriminal­fälle der Berliner Republik. Ich erinnere mich immer noch an die Bericht­erstattung, die ich bereits damals, 2002, ich war 18, ich bin gerade volljährig geworden, nach Meiwes Festnahme sehr genau verfolgt habe.
In der journalistischen Erzählung wurde Brandes ein Opfer, und Meiwes zu seinem Täter gemacht. Weil Menschen sich diesen Hunger nicht vorstellen konnten. Weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass ein Mensch diesen Mangel, und diese Richtung empfindet. Weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass es einen Ernst der Sätze gibt, in denen wir sprechen. Weil wir diese Leere kennen. Weil wir diese Empfindung kennen. Weil wir sie schon einmal erfahren haben. Den Wunsch, in jemand anderem, und von jemand anderem, den wir lieben, aufgenommen zu werden. Die Grenze, die zwischen uns liegt, diese definitive Grenze aufzuheben. Den Rede­wendungen und Metaphern, in denen wir träumen, weil sie von uns träumen, wenn wir begehren, wenn wir mit jemand anderem zusammen sein wollen, nachzugehen – bis zu dem Punkt, an dem sie sich verkörpern. Das Interesse an dieser Geschichte war so groß, weil sie, das ist meine Vermutung, uns angesprochen hat, weil sie uns an eine Stelle unseres Körpers erinnerte, an einen Hunger, den wir nicht anzuschauen, nicht anzuerkennen bereit sind, und darum verleugnen; abwehren müssen, mit allen Wörtern, die dem Journalismus nicht zur Verfügung standen, und auch immer noch nicht stehen. Meiwes wurde als ein Ungeheuer dargestellt, zu einem Monster gemacht, auf die Formel der Kannibale von Rotenburg reduziert. Die Vulgarität und Obszönität, die Einfachheit der Bericht­erstattung hatte bereits damals, vor 20 Jahren, mich nicht überrascht.
Ich sehe in dem, was zwischen A und B geschehen ist, keinen Skandal. Ich sehe hier nur Menschliches; Menschliches, allzu Menschliches. Keinen Grund zur Moralisierung. Keinen Grund zur Skandalisierung. Keinen Grund zur Psychologisierung. Keinen Grund zu einem Spektakel. Wenn die journalistischen Texte die Moral dieser Zeit dokumentieren, dann muss der Roman ein amoralisches Buch sein. Was ich sagen will, ist das: Brandes Wille wurde ihm abgesprochen. Und der Roman spricht ihn wieder aus; spricht ihm seinen Willen wieder zu. Gibt ihm seine Sätze zurück.

Es ist sehr einfach: wer sind wir, um über ihren Hunger zu urteilen? Was wissen wir von der Einsamkeit ihrer Begierde, von der Stille, aus der sie kam? Was wissen wir von den Dingen, die sie gesehen haben, und die von ihnen gesehen worden sind? Was wissen wir von der Verwüstung ihrer Trauer? Was wissen wir von ihrem Versprechen?

Kafka hat recht: »wir Menschen sollten voreinander so ehrfürchtig, so nachdenklich, so liebend stehen wie vor dem Eingang zu Hölle.« Aus dieser entschiedensten Demut spricht der Roman. Das ist sein Winkel. Seine Vorsicht.
Und noch etwas: Unsere Sprache der Liebe ist eine kannibalische Sprache, unmittelbar, und auch vermittelt. Auch die Metaphern, in denen wir träumen, bezeugen das. Wir sprechen von Vereinigung, von Verschmelzung, wir sagen: Verbindung. Wir wollen das Unmögliche: eins werden, mit dem Menschen, den wir lieben. Die Differenz, die Diskrepanz und Diskontinuität zwischen uns annullieren. Sie aufheben. Die Entfernung entfernen. Es stand für mich immer außer Frage: wenn ich etwas schreiben möchte, das vorher noch nicht geschrieben worden war – und weshalb sonst sollte ich schreiben? -, dann werde ich mich nicht verlassen können, auf die bereits etablierten Formen der Literatur. Ich kann mich auf den Roman nicht verlassen, nicht auf die Novelle, auf keine Kurzgeschichte. Jeder Text verlangt seine eigene Gestalt.
Ich bin immer wieder, jedes Mal, als wäre es das erste Mal, überrascht, darüber, dass Menschen heute immer noch in den engen Kategorien der kanonischen Gattungen schreiben; als wären wir nicht hindurch­gegangen, durch eine marxistische, eine feministische, eine post­moderne, eine post­koloniale, durch eine queer­feministische Kritik am klassischen Roman; als wäre nichts geschehen. Wenn dieser Roman – und von Roman spreche ich hier aus Verlegen­heit; ich habe bereits andere Ausdrücke vorgeschlagen, um ihm einen Namen zu geben; Gebet. Gesang. Langgedicht -, wenn dieser Roman von einem Jahr nach einer Trennung erzählt, und von einem Tag der Verbindung, dann darf es in diesem Roman keine Silben­trennung geben; kein Gesetz, keine Regel, nach denen die Wörter getrennt, geteilt, und wieder verbunden werden. Sie brechen am Ende der Zeile; das zufällige Ende der Zeile, das kommen wird, bricht sie. Und um ein Wort zu sein, in unserem konventionellsten Sinn, muss dieses Wort sich erst zerreißen; sich in der Entfernung einer Zeile, in der es sich verloren hat, wiederfinden. Auch die Wörter sind eine Wunde. Es gibt keine Regel, keine Interpunktion, keine Orthographie, die uns sagen werden, wie wir uns trennen, wie wir uns verbinden. Durch diese Entscheidung werden die Wörter, während wir sie lesen, verlangsamt, verunsichert; sie zeigen sich in ihrer Verletzbarkeit, in ihrer Einsamkeit, in ihrer Ausgesetzt­heit; sie zeigen sich wie in einem Gedicht.
Auch Konjunktionen, - coniunctio, lateinisch für Verbindung – operieren in diesem Roman anders, als wir es aus unserer Alltags­sprache gewohnt sind. Ich musste sie außer Kraft setzen, die Gelenke in einem Satz aushebeln, um ihnen eine andere Bedeutung, eine andere Funktion geben zu können. Sie stellen keine syntaktischen Beziehung, keine logische oder kausale Verknüpfung von Wörtern und Satz­teilen mehr her, die neben­ordnenden Konjunktionen wie und und aber, so, wie die unter­ordnenden Konjunktionen wie weil oder dass werden zu poetischen Verbindungen. Ich spreche von einer Poetik der Nicht­nach­voll­zieh­barkeit. Sie gilt nicht nur für die Konjunktionen, sondern auch für die Sequenz und Konsequenz der Sätze im Allgemeinsten. An keiner Stelle ist sie, die Richtung und Folge der Sätze, plausibel; sie gehorcht nicht den Gesetzen der Logik, nicht dem Gesetz der Kausalität, nicht den Paragraphen der Intuition. Ihre Verbindung ist nicht einsehbar. Und dennoch; und doch: sind sie voneinander verbunden. Miteinander getrennt.
Es muss eine Sprache geben, die nichts zeigt und nicht verbirgt. Für den Rest: habe ich keine Worte. In »My little Empire« singen die Manic Street Preachers: »All of my sins / are attempts to fill the voids. / All of my voids / they are filled with sin. / All of my demons / they are kept within. / And all my violence / It does not exist.« Für den Rest habe ich keine Worte.

Als wir zuvor über die Liebe sprachen und ich die Widmung erwähnte, da ging es mir nicht um das Private dahinter, sondern um die Geste, die darin besteht, noch vor dem ersten Satz aus­zusprechen, was hier geschah: »Das ist eine Liebes­geschichte.« Nun mag es viele Stellen geben, von denen sich angesichts der religiösen Bezüge und Metaphern sagen ließe, sie seien monumental. Nicht als Prädikat, sondern als Beschreibung: welt­umspannend, in die höchste Höhe greifend. Während derartige Sätze nun aber – und ich meine das nicht geringschätzend, ganz im Gegenteil – Behauptungen sind; so ist es diese Geste, diese Bemerkung vor der ersten Seite, die diesem Roman von da an immer wieder, und aus einem bestimmten Blickwinkel gesehen sogar permanent, eine monumentale Gestalt gibt. Weil dies damit nicht nur ein Buch ist, dass du der Heiligen Schrift »nachreichst«, wie du schreibst, sondern dass du jener weltlichen Gegenwart nachreichst, in der du diesen Menschen liebtest.
Roland Barthes sagt in seiner letzten Vorlesung, in der Vorbereitung des Romans: »Ein Schriftsteller, der kühn genug ist, ein Werk als essentiell, als prophetisch, als Essenz des Buches zu konzipieren und zu entwerfen, kann bei uns gar nicht anders, als es der Bibel anzuähneln.« Es gibt eine etymolo­gische Beziehung zwischen den Wörtern Monument und Monster; beide Wörter teilen dieselbe Wurzel: das Verb monere, mahnen, warnen. Ja. Dieses Buch ist ein Monument. Ja. Dieses Buch ist eine Monströsität. Monstrum heißt auf Latein Mahnzeichen. Monstrare: zeigen.

Dieser Roman ist das Zeichen auf
meiner Stirn. Dieser Roman zeigt
meine ungeheuerlichste Gestalt.

Aber ich - ich bin mir nicht sicher, ob ich dieses Buch; als ich auf der Wartburg war, kam ein Freund mich besuchen, in den letzten Tagen, als ich die letzten beiden Kapitel schrieb. Und zu ihm habe ich das gesagt: dass ich lange Zeit, als ich nicht mehr schlafen ging, wusste, dass ich diesen Roman schreiben muß. Aber ich wusste nicht, dass den Roman schreiben nicht identisch ist mit seiner Ver­öffentlichung. Bis heute weiß ich nicht, ob ich ein Recht habe, dieses Buch zu ver­öffentlichen, daraus zu lesen, darüber zu sprechen. Aber ich kenne bereits die Antwort.

(leise) Und was ist die Antwort? Dass du kein Recht hast?
Ich habe kein Recht, dieses Buch zu ver­öffentlichen. Ich hatte kein Recht, es zu schreiben. Aber alles, was ich verstehe, verstehe ich immer zu spät.

Der Schlag­bohrer, die Hammer­schläger unter uns, die mir erst später als eine Antizipation unseres Gesprächs bis hierhin aufscheinen, haben abgenommen. Das Sprechen falle ihm schwer, sagt mir Senthuran. Aber es werde besser. Der Späti, von dem ich sonst oft eine Coke, manchmal auch ein Kaffee, mitbringen sollte, als ich die ersten Male zu Besuch kam, hat an diesem Sonntag geschlossen. Stattdessen gehen wir in eine Bar, die gerade erst neu eröffnet hat und gleich auf der anderen Straßen­seite liegt. Dass das warme Licht und das zu weiche Sofa Senthuran gefällt, halte ich einen kurzen Augenblick für sonderbar. Wir sprechen über dies und das, auch über jenes, das an diesem Tag, der einzig dem Gespräch versprochen war, keine Rolle spielt. In den letzten Jahren habe ich mich oft gefragt, was es für Senthuran bedeuten mag, sich jenseits seiner schriftstellerischen Arbeit, für etwas zu interessieren. Und habe nunmehr festgestellt, dass die ihm eigene Höflichkeit, keine Maske ist, wie ich anfangs öfter vermutet hatte, sondern echte Sanftheit. Eine Zärtlichkeit, die manchen nur deshalb merkwürdig vorkommen mag, weil sie angesichts seiner Härte sich selbst gegenüber, meistens schlicht unplausibel scheint.
Als wir wieder auf die Straße treten, schaue ich nach oben. Keine Sterne. Die Berliner Lichtverschmutzung, von der der Schriftsteller Senthuran Varatharajah mir vor vier Jahren, unweit der Pyrenäen erzählt hatte, schneidet den Blick ab. Während Senthuran sich eine weitere Zigarette anzündet, erzählt er mir von seiner jüngsten Reise nach Italien und dass dann in Florenz zwei Jungs auf ihn zugekommen seien und ihn gefragt hätten, ob er an die Hölle glaube. Da kommt, von der anderen Seite des Vorplatzes aus dieser relativen Dunkelheit ein Mann herüber und bittet um einen Euro. Senthuran gibt ihm fünf. Und dieser antwortet: »Gott schütze dich.« Senthuran faltet die Hände. Nun muss das wie ein Schauspiel erscheinen, denn zu un­wahrscheinlich ist diese Begebenheit. Und doch ist sie genau so geschehen. Als er sein Portemonnaie wieder in die Mantel­tasche steckt und wir die wenigen Schritte zurück zum Hauseingang gehen, schaut er mich an: »Ich sage immer: Über mir, niemand außer Gott. Unter mir keiner, nichtmal der Teufel.«

IV. Apokalypse

Du hast mir gerade, als wir eine Pause gemacht haben, von einer Vignette aus Adornos Minima Moralia erzählt, die »Zum Ende« heißt. Ich möchte darauf nun noch eimal zu sprechen kommen, weil wir über das einfachste und offen­sichtlichste noch nicht in dieser Form gesprochen haben: Du hast diesen Roman tatsächlich geschrieben. Womit dir etwas gelungen ist, wovon wir oft sagen, dass es gänzlich unerreichbar ist, du bist bis zum Ende gegangen, noch dazu an dieser Stelle. Und auch der Roman selbst erzählt davon, die Dinge, die Menschen, die Beziehungen zwischen ihnen an ihr Ende bringen. Was bedeutet es, einen Menschen auf diese Weise, in der Sehnsucht nach seiner »äußersten Bedeutung«, anzusehen?

Das, was zwischen uns liegt, verbindet uns. Das, was uns verbindet, trennt uns voneinander. Wenn ich zu dir spreche, jetzt, hier, mit diesem Tisch als absehbarem Abstand zwischen Deiner und meiner Brust, wenn ich zu dir spreche, existiere ich unbedingt für dich. Jetzt, hier, an diesem Tisch, in dieser Wohnung, unter diesem Streifen aus Licht, jetzt, hier, in meinem Wohnzimmer, und immer in dieser Stunde, gibt es mich nur, weil es dich gibt.

Mein Körper beginnt, wo Dein Körper aufhört. Mein Körper fängt an, dort, wo Dein Körper ist. Ich bin hier - aus Deiner Gnade. Durch Deine Zeit. Unter Deinen Augen. Ich sehe dich. Ich betrachte dich. Ich: bin Dein Zeuge. Ich glaube daran, dass du mich erreichen wirst. Ich glaube daran, dass du mich siehst: dort, wo ich mich aus anatomischen Gründen nicht sehen kann; hier, wo ich mich nicht anschauen will. Du: siehst mein Gesicht. Du: bist mein Zeuge. Du: hörst mich, so, wie ich mich nie gehört haben werde.

Meister Eckert lag falsch: auch Gott kann sich nicht selbst schmecken. Gott ist auf uns angewiesen. Gott schmeckt sich durch uns. Gott hört sich: weil wir seinen Namen rufen. Weil wir ihn singen können. Weil er der Abstand ist, den nur er überwindet. Wenn wir einen Menschen lieben, sagen wir immer nur das, in Variationen: öffne dich. Bitte öffne dich für mich. Ich bitte dich darum. Nimm mich in dir auf. Werde meine Zuflucht. Sei meine Kirche. Weise mich nicht ab. Ich bitte dich darum. Ich schulde dir alles. Ich gebe dir alles. Ich glaube dir jedes Wort. Komm näher. Komm näher zu mir. Du bist immer noch zu weit enfternt.
Wenn ich vor dem Menschen stehe, den ich liebe, stehe ich vor ihm ohne eine Hand. Damit seine Hände mich öffnen werden. Damit sie mein Geräusch halten, wie gebündeltes Fleisch. Damit er mich wärmen kann, am Eingang seiner Hölle.

Könnte man darum nicht sagen, dass jede Beziehung nach einer Einheit verlangt?
Nach Verbindung. Nach Verschmelzung. Nach irgendeiner Vereinigung. Nicht nach Identität, nicht nach dem, was der Hunger von Hegels Geist verlangt, nicht nach der einfachen Identität der Nichtidentität und der Identität, sondern, in der Sprache von Adornos Negativer Dialektik, nach der Nichtidentität der Identität und Nichtidentität.

Wenn ich den Menschen, den ich liebe, verschlingen sollte, wenn ich ihn mir einverleibe, dann wird er zu mir, indem er nicht zu mir geworden sein wird; in dem er ein Du bleibt, an einem anderen Ort, und an einer anderen Stelle, das nicht mehr nur ein Du ist; so, wie auch ich nicht mehr nur ich bin. Dieser Mensch soll zu mir werden, aber er soll dieser andere Mensch sein; nicht ich. Seine Differenz, diese Diskontinuität und Diskrepanz bleiben – über seinem Körper, über sein Fleisch hinaus. Hier, in mir. Tief vergraben in den Wendungen meiner Muskel.

In diesem Bedürfnis nach Verbindung, nach Verschmelzung, nach Vereinigung, in diesem Bedürfnis sind Glaube und Liebe verwandt. Auch hier berühren sie sich. Im Sprechen aus Einsamkeit. In der Sprache der Einsamkeit. In den verzweifelten Versuchen, die wir unternehmen, und die wir immer wieder zu unternehmen bereit sind, nach jeder Enttäuschung, nach jeder Enttäuschung, nach jedem Ende eines Zustandes, der einer weiteren Täuschung bedarf, um diesen Abstand – die Beschaffenheit einer Haut; das Perlmutt unseres Fleisches; die Kälte unserer Knochen –, um diesen Schmerz unserer Gattung für eine Sekunde aufheben, um diese Kilometer für einen Augenblick vielleicht beenden zu können. Oder, wie Augustinus in seinen Bekenntnissen sagt: »Ich wäre nicht, wenn du nicht in mir wärst. Ich wäre nicht, wenn ich nicht in dir wäre.« Wenn wir lieben, existieren wir unbedingt für einen anderen. Nichts anderes heißt Liebe.

Es gibt einen Absatz von Roland Barthes, von dem ich mich frage, ob du dich mit ihm verbinden kannst; was ich natürlich hoffe.
Aus den Fragmenten einer Sprache der Liebe? Dass wir schreiben, dass wir betteln?

Nein, nein, nein. Er berührt die Frage, ob wir denn tatsächlich verliebt sind. Ich habe ihn mir hier auf Englisch aufgeschrieben und er erinnert mich ein wenig daran, dass, aber das erzähle ich dir jetzt off-record, Roger Willemsen, der mir sehr wichtig ist, wie du weiß, einmal von einer Moderatorin in einer Talkshow gefragt wurde, wie er es fände, wenn sie nun »Ich liebe Sie« sagen würde, und er dann antwortet »Wie redest du mit mir? Warum fädelst du uns in diese sechspurige Autobahn ein? ...
(lacht leise)

Gerade noch waren wir so besonders und nun sind wir alle« und so weiter. Barthes sagt jedoch etwas anderes: »Am I in love? – yes, since I am waiting. The other one never waits. Sometimes I want to play the part of the one who doesn't wait; I try to busy myself elsewhere, to arrive late; but I always lose at this game. Whatever I do, I find myself there, with nothing to do, punctual, even ahead of time. The lover's fatal identity is precisely this: I am the one who waits.«
Wenn wir lieben, warten wir. Wenn wir lesen, warten wir. Wenn wir schreiben, haben wir gewartet. Warten auf Duldung. Auf Ab­schiebung. Auf einen Brief, der uns Monate später aus dem Krieg erreichen wird. Warten auf Staats­bürger­schaft. Auf das Ende der Asyl­bewerber­heime. Auf einen Anruf, den nur eine Bombe unterbrechen kann. Warten auf eine Stimme aus einem brennenden Busch. Warten auf den Messias. Warten auf den Tod. Warten ...

… auf Godot, der niemals kommt.
Wenn wir lieben, warten wir – weil es kein Ende der Liebe gibt. Cher fragt danach, in ihrem Lied Believe: »do you believe in life after love?« Mein Freund Fabian Saul antwortet darauf: Of course we don’t believe in live after love. Also warten wir - noch ein wenig mehr.

Und darum sprechen wir mitunter davon, denn das sind ja Redensarten, die wir ganz unbewusst verwenden, dass die Liebe ein Geschenk sei, dass sie eine Gabe ohne Gegengabe ist, etwas, das uns widerfährt.
Eine Gnade.

Wie hat das ausgesehen, als du noch geschrieben hast?
Als ich geschrieben habe?

Ja.
Ich habe geschrieben. Das ist alles, was ich weiß. There is no glory in writing. Das ist alles, was ich dir dazu sagen kann.

Und als der Roman dann geschrieben war, da hast du mir gesagt, dass er genauso schnell gegangen ist, wie er gekommen war.
Ja. So habe ich es empfunden. Auch, wenn es nicht wahr ist. Ja. Der Roman war verschwunden, verloren – so plötzlich, auf einmal, noch einmal, aber so kam er nicht; so ist dieser Text nicht zu mir gekommen. Er kam, langsam, allmählich, aus dem Hinter­grund, aus dem Hinter­halt; aus meinem Rücken. Er kam leise, leiser, leiser als ein Geräusch, vorsichtig wie ein Gespenst, das ich nicht rief. Vor vier Monaten habe ich das Manuskript, die letzte Fassung meinem Verlag gegeben. Dieses Buch ist beendet – und dennoch: wird es in neun Tagen erst wieder anfangen.
Im Deutschen sprechen wir von Erscheinung. Eine Erscheinung ist nicht nur ein Begriff aus dem Bereich der Religion und der Angst, sondern auch aus der kantischen Erkenntnis­theorie. Wir können das Ding an sich, diesen in die traurige Materialität der Dinge säku­larisierten, abgestürzten Gott, nicht erkennen, sondern nur seine Erscheinung: das Ding an sich bleibt entrückt, unserer Wahrnehmung und unserem Zugriff prinzipiell entzogen, immer gleich­bleibend entfernt. Die Erscheinung aber ist das, was wir nach den Maßen unserer Kategorien und nach dem Sand in unseren Augen, das, was wir unserer eigenen Erfahrung nach von diesem Ding an sich erkennen können – seine deformierte, seine andere, seine veränderte und verspätete Gestalt. Der Text ist verschwunden. Verloren. Und in neun Tagen wird jedes Wort zur Jagd frei­gegeben sein. In neun Tagen kann man dieses Buch verschlingen, verreisen, verurteilen. Das ist der Stand der Dinge. Der Lauf der Dinge. Dieser Roman hat von mir Besitz ergriffen. Dieser Roman hat mich besessen. Dieser Text, rief mich in sich hinein. Beschwörte mich. Dieser Text rief mich an – durch alle Namen, die mir einmal gegeben worden sind, und die mir noch gegebem werden. Dieser Text teilte mich: nach seinem Willen, und wieder nach seinem Gesetz.

Von ihm wollte ich nur das: vernichtet werden. Restlos nullizifiert. Keine Haut, kein Fleisch, kein Knochen sollte von mir übrig bleiben. Ich bin davon ausgegangen, dass ich diesen Roman nicht überleben werde. Umso un­glücklicher bin ich darüber, überlebt zu haben. Aber ich spreche aus einem anderen Rest heute zu dir.

Wenn du über andere Menschen sprichst, kannst du unheimlich behutsam sein.
(lacht leise)

Ich frag mich, was das für ein Menschen­bild ist, dass du hast. Dein Menschen­bild von anderen Menschen, nicht von dir selbst.
Er ... hat uns nur wenig geringer gemacht als sich selbst. Wie sollte ich dann anders über einen Menschen sprechen? Es gibt für mich nur diesen einen Kasus: so ehrfürchtig, so nachdenklich, so liebend wie – du weißt es.

Das klingt so befriedend, dass ich es nicht glauben kann, wo du doch ein Schriftsteller oder, genauer, ein Schriftsteller in Deutschland, in einem bestimmten Betrieb bist, umgeben von Verleger:innen, Agent:innen, Kritiker:innen, die, wie alle Menschen, ihre eigenen Absichten haben und ein dir Äußeres signifizieren, dass dich unvermeidlich betrifft, dich immer mit-meint.
Mhm.

Kurz vor Weihnachten hatte ich dir von einem Schriftsteller erzählt, von dem ich weiß, dass er auch dir viel bedeutet, weil er jüngst mit seinem Lebens­werk einen Preis gewonnen hat. Aber der Verlag hat kein Wort gesagt, keine Gratulation, nichts. Nun haben wir kaum über die Produktions­bedingungen gesprochen, denen auch du unterstehst, und schon hat sich – wie selbst­verständlicher­weise – deine Stimmlage, dein Blick, dein Atem geändert. Ist das ... because it’s business? Ist das, weil jederzeit alles anders sein könnte, weil es keine Sicherheit gibt? Und weil deshalb auch jede Frage danach uninteressant ist?
Ich komme aus einer Familie, die einen Krieg und einen Völkermord überlebte. Ich komme aus der bittersten Armut, die mich als Kind gesehen hat. Nein. Es gibt keine Sicherheit. Und wenn es mir um Sicherheit gegangen wäre, hätte ich nicht angefangen, zu schreiben. Dann hätte ich diesen Roman nicht geschrieben. Dann hätte ich ihn nicht so geschrieben. Aber ich hänge auch nicht am Leben. Das erleichtert vieles ...

(Schweigen)
Wir dürfen uns kein Bildnis machen. Dieses alt­testament­liche Gebot ist für mich ein ästhetisches Prinzip. Ich darf mir kein Bild machen, von den Menschen, die diesen Text einmal lesen werden, und dieser Text darf nicht das Eben­bild dieser möglichen, dieser unter­stellten Menschen sein. Nur so kann die Integrität des Textes gewahrt bleiben – indem der Text nicht an ein zukünftiges Publikum adressiert ist. Wenn ich ins Nichts schreibe – dann schreibe ich ins Nichts. Für Niemanden. Für nichts. Der Text bleibt lesbar – weil er in Sprache verfasst wurde. Wenn ein Mensch, der schreibt, gefragt wird, für wen er schreibt, dann werden Kategorien zur Beschreibung verwendet, Kategorien des Marketings, in denen rassistische, sexistische, klassistische, demographische Vor­an­nahmen getroffen worden sind, um eine Target Audience zu erfinden, die jeden Menschen, der dieses Buch einmal lesen wird, bereits vor dem Lesen zugerichtet, verletzt haben. Ich vertraue diesen Text dem Nichts an; so, wie ich jeden Text in diese unbekannten Hände lege.
Wenn Gott uns nach seinem Ebenbild erschaffen hat, sagt die Theologin Kelly Brown Douglas, dann müssen wir den Menschen, alle Menschen, die gelebt haben, die leben, und die irgendwann vielleicht einmal leben werden, anschauen, um zu wissen, wie Gott aussieht. Edmond Jabès sagt, wenn Gott jedes Gesicht besitzt, dann hat er keins. Ich schreibe ohne Gesicht. Ich schreibe für kein Gesicht. Und so vertraue ich dir diesen Text an.
Zur journalistischen Realität der Literatur­kritik kann ich nur das sagen: ich habe keine Angst vor Deutschen. Ich habe keine Angst vor der beschränkten Vorstellungs­kraft weißer Menschen. So, wie andere Menschen vor mir, neben mir, und nach mir auch, bereiten meine Texte eine andere Zukunft vor: das Ende Europas. Das Ende weißer Gewalt. Das Ende einer Welt, die nach weißer Imagination geordnet wurde. Das ist die Apokalypse, an die ich glaube. Dieser Roman ist Teil dieser Offen­barung.

(...)

Glückliche Gespräche enden nicht mit dem letzten Wort. Während ich an diesem Sonntagabend nach Hause gehe, weiß ich längst, was der Morgen bringt. Ich stelle mir vor, wie ich zu Senthuran sage: »Und wer kann das schon wissen?« – Dieser Morgen ist ein Montag. Es ist der 14. Februar. Valentinstag. Wir haben diesen Tag ausgewählt, um die Bilder zu machen, die dieses Gespräch rahmen sollen. Und so stehe ich vor seinem Hauseingang. Als er mich sieht, ist sein Blick sanft, ausgeschlafen. Wir umarmen einander lange. In einer Woche wird der S. Fischer Verlag seinen zweiten Roman veröffentlichen. Den Titel für sein drittes Buch wisse er schon.

Produktion: Giulia Romani, Holm-Uwe Burgemann

Bilder: Holm-Uwe Burgemann

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#14 Senthuran Varatharajah
Kapitel I–IV
I. Schöpfung, Erschöpfung
II. Hingabe, Aufgabe
III. Monument, Monster
IV. Apokalypse

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