Die schönste Seite der Krise ist der Wendepunkt, von dem an nichts mehr ist und nichts mehr sein kann, wie es war. Und während uns die Sicherungen abhanden kommen, ist es Frühling geworden, doch haben wir ihn nicht gesehen. Darum schreiben wir an seiner Chronik auf Deutsch, Persisch und Englisch.
In Wim Wenders Film »Der Himmel über Berlin« schreiten wir an der Seite zweier Engel durch das geteilte Berlin der Nachkriegszeit. Wir sehen die Mauer in schwarz-weiß, Trennlinie zwischen Ost und West. Getrennt auch die Engel: vom Treiben, das sie bezeugen. Sie sind unsichtbar, im Wortsinn unantastbar. Sehnen sich dabei aber doch nach einer eigenen Geschichte, nach Berührung und Gewicht. Da verliebt der Engel Damiel sich in eine Zirkusartistin, die eines Abends seiner Sehnsucht Ziel ausspricht: {»Je suis joyeuse. J’ai une histoire. Et je vais continuer à avoir une.«: »Ich bin glücklich. Ich habe eine Geschichte. Und werde weiter eine haben.«} Damiel entscheidet sich gegen die Ewigkeit. Er fällt vom Himmel, ist sichtbar wie das Filmbild endlich farbig. Als die Artistin zunächst aber unauffindbar ist und er auf dem verlassenen Zirkusgelände am Erdboden sitzt, fragen ihn Kinder, was er wohl habe, denn er sehe traurig aus. {»Mangel«: Nachdem Kerstin Preiwuß mir ihre Frühlingsgeschichte geschickt hat, schreibe ich ihr, um zu fragen, ob sie uns noch ein weiteres Wort mitgeben möchte. Sie schickte mir dieses.}.
Kurt Drawert schreibt in seinem Essay »Was ist Literatur? Versuche einer Topologie«, der Mangel sei Antrieb aller Literatur: »Es ist ein Fehlschluss, sich den Schriftsteller vorzustellen als jemanden, der aus einem Überschuss an Sprache schöpft {[...]: »Literatur entsteht aus einem Mangel heraus, aus der Erfahrung, die das Subjekt mit dem Mangel macht. Es ist ein Fehlschluss, sich den Schriftsteller vorzustellen als jemanden, der aus einem Überschuss an Sprache schöpft, aus einer Fülle, einem permanenten Zuviel. Wäre es so, müsste er, nein, könnte er nicht schreiben, denn er hätte kein Gefäß, das gefüllt werden kann. Das vorhandene Ding hält immer einen Platz besetzt, dem andernfalls die Schrift gehört. Es muss ein Loch geben, einen Riss, einen Schmerz. Es muss etwas fehlen.«} Es muss ein Loch geben, einen Riss, einen Schmerz. Es muss etwas fehlen.« Der Boden der Tatsachen, auf dem Damiel sich im Film niederlässt, wird so zur Basis auch der dichterischen Schöpfung.
Wenn Wittgenstein sagt: »Die Welt zerfällt in Tatsachen«, und damit meint, dass die Welt ausschließlich aus Tatsachen bestehe, wirkt das wie Provokation. Kerstin Preiwuß stellt diese ihrem Gedicht Locked in voran. Eingesperrt worin? Den Tatsachen? Der Sprache selbst? Drawerts Text, ein Nachwort, entdeckt im Mangel die Fülle und dabei ein Überleben in der Sprache. Preiwuß’ Gedicht erzählt im Modus des Verrückens und Verharrens seinerseits vom Überleben.
So werden beide Texte zu Boten des Frühlings, der seit jeher das Überleben bedeutet. Frühling als Zeichen dafür, dass ein Kreislauf, dessen Lauf sich schließt, auch wieder anläuft.
Kerstin Preiwuß wächst in den 1980er Jahren in Plau am See und Rostock auf. Sie hat in Leipzig und Aix-en-Provence studiert und ist Absolventin des Literaturinstituts Leipzig. Mit einer Arbeit über polnische Ortsnamen wird sie promoviert. Infolge einer zufälligen Begegnung in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung erscheint im Jahr 2006 ihr erster Gedichtband Nachricht von neuen Sternen. Es folgen Rede, Gespür für Licht und, im März 2020, Taupunkt sowie zuvor die beiden Romane Restwärme und Nach Onkalo. Preiwuß ist neben ihrem Changieren zwischen Lyrik und Prosa auch ganz buchstäblich beidhändig und sagt über sich selbst, genau dann gut schreiben zu können, wenn sie das Gefühl hat, dass keiner sie sieht. Mit ihrer Familie lebt sie heute in Leipzig.
Kurt Drawert kommt 1956 im Brandenburgischen Hennigsdorf als Sohn eines Kriminalpolizisten und einer Hausfrau zur Welt. Zum Literaturinstitut Leipzig gelangt er in den 1980er Jahren nach Hilfsarbeiterschaften bei der Deutschen Post, einer Bäckereigenossenschaft und der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden. 1987 erscheint der erste Gedichtband Zweite Inventur. Bis heute folgen weitere sechs, zuletzt 2016 Der Körper meiner Zeit. Gedicht. Drawert veröffentlicht auch Essaysammlungen, Theaterstücke und Prosabände. Er war Stipendiat der Villa Massimo in Rom und Stadtschreiber von Dresden. Im August 2020 erscheint Dresden. Die zweite Zeit, dessen Nachwort hier erstmals lesbar ist.
1(→)Im Sommer 2018 habe ich mit diesem Buch angefangen, heute, am 30. März 2020, schließe ich es ab, das heißt, ich beende, was nicht beendet werden kann: Die Suche nach dem letzten, entscheidenden Satz. Solange dieser Satz fehlt, und er fehlt naturgemäß immer, bleibt alles offen und in Bewegung. Etwas von dieser Bewegung geht auch durch meinen Text, und wenn ich ihn in seiner Chronologie reflektiere, dann ist die Versuchung groß, rückwirkend einzugreifen und Perspektiven zu korrigieren, die mir heute schon nicht mehr richtig erscheinen.
2(→)Das betrifft vor allem das Erzählen im Präsenz der Ereignisse, die Zeitmitschriften, die bereits historisch werden, noch ehe man sie aufgeschrieben hat. Du machst einen Punkt und denkst, dass er eigentlich nur ein Komma sein dürfte, bestenfalls. Und das auch ist die Trägheit der Literatur, ihr dauerndes Zuspät. In dieser Nachträglichkeit aber sind schon die Zeichen der Zukunft erkennbar, wie Schatten, die den Dingen vorausgeeilt sind, und in der Ahnung von etwas, das nicht geboren worden ist, werden die Texte aktuell und aktualisieren sich selbst immer wieder neu; sie finden, auch im Irrtum, einen Kontext, der sie legitim werden lässt und ebenso wahr.
3(→)Über Wahrheit habe ich immer wieder nachgedacht, während ich schrieb, und das umso mehr, desto konkreter und damit auch wiederkennbarer Dinge und Personen erzählt worden sind. Letztendlich aber verweigert sich jede Beschreibung, erst recht, wenn sie in einem ästhetischen Zusammenhang steht, der Wirklichkeit, die uns immer nur in einem Zerrspiegel erscheint, in einem Ausschnitt, einem einzigen hellen Moment (der ein Moment des Erzählens ist und die Dunkelheit für kurze Zeit durchbricht).
4(→)Das Erzählen findet auf einer zweiten Ebene von Wirklichkeit statt; es verwirklicht sie.
5(→)Das Problem der Differenz zwischen Person und Figur, Fakt und Fiktion löst sich auf, und mir liegt viel daran, das an dieser Stelle auch noch einmal zu sagen. Denn meine Furcht vor Missverständnissen ist groß, das gestehe ich ein, doch sie nicht zu riskieren hieße auch, die Chance der Literatur zu verfehlen: Es gesagt zu haben. Oder auf dem Weg gewesen zu sein, es sagbar werden zu lassen.
6Eines aber löst sich nicht auf und belastet mich mit großem Zweifel: Die plötzliche Irrelevanz und Hinfälligkeit der Literatur vor dem Drama dieser furchtbaren Tage, in denen ein Virus, Covid-19 genannt, die gesamte Menschheit angreift und infrage stellt.
Das Problem der Theodizee – wie kann ein allmächtiger Gott das Böse zulassen – ist durchaus übertragbar auf unsere Belange: Warum retten uns die Bücher nicht und richten (scheinbar) nichts aus? Jetzt, unmittelbar, kann kein Buch helfen, und das wirft mich, der Bücher schreibt, auf meine Ohnmacht zurück, auf jenes dauernde Zuspät, von dem ich eben gesprochen habe. Dann aber vertraue ich wieder darauf, dass es ein Überleben in der Sprache gibt und dass eine Flaschenpost manchmal auch ankommt. Ob es dann Menschen sein werden, die sie bekommen, oder Maschinen, lässt sich zur Stunde nicht sagen. Aber soviel scheint klar: Was jetzt die Krise durch das Coronavirus ist, das die zivile Welt aus ihrer Umlaufbahn wirft und zum radikalen Überdenken empfiehlt, war Hochmut vor der Natur. Und damit meine ich auch die kulturelle Natur, die soziale Art und Weise, in der wir uns begegnen und Privilegien ableiten, die auf nichts gestellt sind.
7(→)Die Gegenwart ist immer blind, und so ist die Pandemie auch eine Metapher für die Dispositive der Realität. Wir haben der natürlichen Welt eine technische Kultur aufgezwungen, die ihre Ressourcen erschöpft, und jetzt rächt sie sich und sendet das vergiftete Saatgut zurück. Aber diese Rückpost zu lesen, anstatt sie wieder schnell zu entsorgen, scheint mir das dringlichste Gebot vielleicht nicht dieser Stunde, die andere Aufgaben hat, aber dieser Zeit. Und hier auch erleben wir die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, die Reflexion und Antizipation auf einen Punkt fallen lässt, der eben auch ein Buch sein kann. So also ziehe ich mich selber am Zopf aus dem Sumpf und spreche mir Mut zu, den ich nicht habe.
8(→)Ich glaube nicht, dass ein Einschluss in den Mikrokosmos ein sicherer Ort ist und dass die tendenzielle Regression in die Nationalstaatlichkeit, wie sie jetzt zu erwarten sein wird, sobald die schlimmsten Tage vorbei sind, unsere (Über-)Lebenschancen besser absichert. Im Gegenteil bietet gerade die kollektive Bedrohung eine Gelegenheit zur kollektiven Antwort über alle Ethnien und religiösen oder politischen Zugehörigkeiten hinweg. Wenn schon die gesamte Weltbevölkerung nicht systemisch integriert werden kann – Europa hätte jetzt die Gelegenheit, sich selbst aufzuklären und zu zeigen, was seine Bindekraft ist. Oder es hat Europa niemals gegeben.
9(→)Alle Bilder verschieben sich gerade, die Gewissheiten, von denen ich selbst fast alle aufgegeben habe (die eine ausgenommen, dass es keine Gewissheiten gibt), lösen sich vor unser aller Augen auf. Dieser Einbruch des Realen aber, wie er uns epidemisch erreicht, lässt etwas Hoffnungsvolles zu: Im Verlust den Gewinn zu entdecken, im Mangel die Fülle, in der Zerbrechlichkeit aller Dinge und Ordnungen ihren Anspruch auf Würde und Ernsthaftigkeit. Vielleicht ist der Osten dem Westen darin überlegen, dass er sich besser auskennt mit Brüchen, Rissen und Paradigmenwechseln. Die plötzlich leeren Regale im Supermarkt, mich erinnern sie an die leeren Geschäfte der D.D.R., und dann überkommt mich ein Gefühl der Rückverwandlung, als wäre ich gerade nicht mehr im hessischen Darmstadt, sondern in Leipzig oder Dresden zur Vorwendezeit – und das fast schon in einer Vertrautheit, die mir einen plötzlichen Schwindel verursacht. Nicht eine Sekunde käme es mir in den Sinn, irgendetwas zu horten (was ja nur hieße, dann auch länger leben zu müssen und über das Ende hinaus), im Gegenteil, der Verzicht auf jede Form der Rücklagenbildung ist eine Anerkennung der ontologischen Vorläufigkeit, die unser Leben durchzieht (und immer schon durchzogen hat, über alle Illusionen hinweg, wie sie uns die Vergnügungsgesellschaften beigebracht haben). Das nun hat der Osten gelernt, lernen müssen, dass alles zerbrochen werden kann, auch Eisen und Stein, und diese Erkenntnis ist seine Mitgift, von der wir im Westen jetzt profitieren könnten, wenn wir es denn zulassen wollen.
10(→)Das Kleine spiegelt das Große, das Große spiegelt im Kleinen zurück. Dresden, der konkrete Ort, an dem ich für ein halbes Jahr war, um mich an mein Leben in Dresden vor einem halben Jahrhundert zu erinnern, hat diese Eigenschaft, beides gleichzeitig zu sein – Ereignis und Allegorie. Es ist eine im wahrsten Sinne des Wortes aufregende Stadt, die ihre politische Ambiguität öffentlich austrägt, wie ich es nirgendwo sonst gesehen und miterlebt habe. Die Gründe dafür zu nennen führte zu weit und würde mich auch überfordern, eher verunsichert und an die Ränder der Sprache gedrängt als im rhetorischen Vollrausch. Sofort bei den Worten zu sein, ist ein anderes Geschäft, das mich misstrauisch macht, weil es seine Fehlerquellen ungehemmt mitschickt. Eher setze ich auf die Kraft der Unsicherheit und vernünftigen Infragestellung, Antworten gibt es allenthalben genug. So bin ich mir auch gar nicht mehr sicher, ob ich in Dresden überhaupt war oder nicht alles in einem Kosmos privater Deutungen erlebte; ja, vielleicht stimmt es sogar, was mir ein Freund etwas zugespitzt schrieb: Ich sei ein Tourist und sehe alles von außen. Aber wie, fragte ich zurück, soll ich es denn sonst sehen? Und warum ist denn nicht dieser Blick auch des Austauschens würdig? Lernen wir nicht immer vom Anderen, was und wer wir selber sind? Die Innenperspektive kann nämlich auch sehr schmal und eng sein, und was sich dann für Tiefe und Differenz hält, ist die festgefrorene Meinung eines isolierten Soziotops.
11(→)Pegida kann man nicht nicht sehen, wenn man in Dresden ist, und das wurde mir auch immer wieder zu einem Topos der Reizbarkeit, auf den ich bisweilen selbst aggressiv reagierte. Aber auch wenn ich sachlich bemüht war, diese oft leere, sprachlose Wut als ein Phänomen zu verstehen, das man ernst nehmen muss: Es war und bleibt mir ein Rätsel, das sich aus vielen Problemfeldern gleichzeitig speist, die in die Vergangenheit der D.D.R. ebenso führen wie in die Versagenshistorie der Nachwendezeit. Ich kann es nicht entschlüsseln, weder soziologisch noch politisch noch kulturell, was sich auf der Straße entlädt; am ehesten noch fällt mir ein Begriff aus der Psychoanalyse Lacans dafür ein, der sich Objekt klein a nennt (und etwas meint, das nie erkannt und erreicht werden kann, aber begehrt wird).
12(→)Was ich jetzt und mit diesem Nachwort versuche, ist, eine Lineatur herzustellen, die meine Motive des Buches mit den Metaphern der Gegenwart verbindet. Denn alles lässt sich zweimal lesen: als Erzählung und als Symbol. Und während ich das schreibe, sterben die Tausenden elend, und keiner kann sagen, wie viele noch folgen und wo überall auf der Welt. Die Beherrschbarkeit der Systeme, die wir selber errichtet haben, war eine kühne Illusion. Jetzt kommen uns die Texte trotz ihrer stupenden Langsamkeit aus der Zukunft entgegen; und sie sind wie die stehengebliebene Uhr, deren Zeiger die Zeit am Tag zweimal richtig anzeigen. Für mich ist es eine Zeile von Heiner Müller, an die ich andauernd denke, wenn vor mir am Fenster gerade der Frühling seine herrliche Natur demonstriert: „In den Zeiten des Verrats sind die Landschaften schön“.
»Es gibt noch andere Sonnen, als die oben am Himmel, Cassiel. In der tiefen Nacht wird heute der Frühling beginnen. Ganz andere Flügel werden mir wachsen als die gewohnten. Flügel, über die ich endlich werde staunen können.« (DAMIEL)
Produktion: Simon Böhm, Holm-Uwe Burgemann
Screenshots: Wim Wenders, »Der Himmel über Berlin« (Janus Films 1987)
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