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#6 W. G. Sebald

#6 W. G. Sebald: Austerlitz

von Holm-Uwe Burgemann

Austerlitz ist die Geschichte eines Hei­mat­losen. Es ist die Geschich­te der nicht mehr und nie wieder Heimischen in einer Welt nach dem großen Unglück, der Shoah.

Ein Blick auf dieses Buch müsste, wollte man ihm gerecht werden, mit einer Aus­lassung all dessen be­ginnen, was nach den ersten Seiten steht, denn sein »belgischer« An­fang birgt ein schweres Geheimnis, das zu lüften schnell einer unschick­lichen Replik gleich­kommt. So bleibt man, möchte man über Austerlitz’ Geschichte sprechen, dem Zwischen­zeiligen verhaftet. Umliest, so wie Sebald gerne schrieb, ›elliptisch‹ die Frage, was es bedeutet, aus dem Ruck­sack zu leben. Denn Austerlitz ist die Geschichte eines Heimat­losen. Es ist die Geschichte der nicht mehr und nie wieder Heimischen in einer Welt nach dem »großen Unglück«, der Shoah. Auch wenn unsere Begeg­nung mit Austerlitz im Ant­werpen der 60er Jahre beginnt, reicht Sebalds Erzählung weiter zurück. Durch die Augen eines mehr und mehr Freun­des, der der Prota­gonist ist, breitet er behutsam die brüchi­gen Sedi­mente eines Mannes aus, der in den Kriegs­wirren als jüdisches Kind aus der Tschecho­slowakei nach England kam, Englishman wurde und seinen Lebens­ausblick scheinbar gemeinsam mit seiner Erinnerung verlor.
Unter dem Ein­druck der BBC-Produktion »Whatever Happened to Susi« (1991), die sich der Suche der Kinder aus den Kinder­transporten nach ihrer Herkunft widmet, hat Sebald ein Buch geschrieben, dessen Ge­schichte sich liest wie ein nicht enden wollender Herbst. Austerlitz ist nicht nur ein histo­rischer Roman, weil seine Substanz die Geschichte selbst ist, sondern weil sich alles in ihm retro­spektiv ereignet. Erst langsam erinnert sich Austerlitz gemein­sam mit uns, was bis dahin nur eine einsame Vorver­gangenheit war. Je mehr wir mit ihm zu den Orten seines Anfangs vordringen, desto weiter gehen wir in seinen Erinnerungen zurück. Wir lesen vom Schick­sal seiner Mutter, die in der Maschi­nerie der totalen Ver­nichtung zerrieben wurde und trotz­dem bis zuletzt hoffen konnte (nur noch einmal im Park gehen wie zu besseren Zeiten). Wir lesen von Austerlitz’ Reise nach Deutsch­land, in dieses unver­stan­dene Land, das zu kennen nur Schmerz bereitet. Und spät beginnen wir zu begreifen, dass die Struktur dieses Buches der Abdruck unzähliger halt­loser Leben ist. Die Absätze sind verloren­gegangen wie die der Schuhe, die zu viel ertragen mussten, die Sätze strecken sich über ermüdend viele Zeilen, die wie zufällig dazwischen­stehenden, zu oft betrachtete Foto­grafien sind längst vergilbt.

Wie Austerlitz musste auch mein Groß­vater gehen, der Fa­den zur Heimat riss ab und die kom­men­den Jahre wurden blass. Lange lebte er aus seinem ledernen Koffer, der anfangs noch bis oben hin mit er­härteten Leb­kuchen gefüllt war. Es waren die Jahre »danach« und jeder Ankömm­ling schürte, wohin er auch ging, den Hunger der Anderen. Die Heimat Austerlitz’ und die meines Groß­vaters gingen verloren, ein Ruck­sack und ein le­der­ner Koffer blieben.

Text: W. G. Sebald, Austerlitz (Hanser 2001)

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#6 W. G. Sebald: Austerlitz

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