Sie klagen uns an, die Bücher, die wir nicht gelesen haben, weil sie auf das verweisen, was wir nicht kennen, sehen, verstehen; weil sie unsere persönliche Habenseite immer zu übertreffen scheinen. Victor Hugo steht in jedem Falle im Inneren jenes mythischen kanonischen Zirkels.
»Doch genau die Bücher, die ein Mensch nicht gelesen hat, sind es, die ihn am meisten anklagen.«
Dieser Satz eines Klassikers ließe sich grundsätzlich für kanonisierte Texte in Anspruch nehmen. Erinnern nicht die Bücher, die wir kennen müssen, um zu einer geheimnistuerischen literarischen Clique zu gehören, an die eigene Unvollständigkeit, an das eigene Unvermögen, das sich in den Löchern des Nichtwissens ausweist? Sie klagen uns an, die Bücher, die wir nicht gelesen haben, weil sie auf das verweisen, was wir nicht kennen, sehen, verstehen; weil sie unsere persönliche Habenseite immer zu übertreffen scheinen. Victor Hugo steht in jedem Falle im Inneren jenes mythischen kanonischen Zirkels. Die Arbeiter des Meeres, aus dem der Eingangssatz stammt, stellen wir nun aber nicht andächtig vor (oh, ein Hugo!) – sondern überzeugt.
Das Erfrischende an diesem Buch aus dem Jahr 1866 ist, dass die Leserin nicht entscheiden muss, was wichtig wird. Das hat der Autor bereits. Jede Person, die auftaucht, spielt eine unersetzbare Rolle; jede Handlung hat eine Konsequenz, die im Laufe des Romans entfaltet wird; das Natürliche hat auch eine offensichtlich kulturelle Sprache, ist ein Symbol, eine Allegorie, eine Referenz. Alles bedeutet. Ebbe, die Stirnseite des Felsens, die Felsenkrümmung als Armlehne.
Die Hauptfigur, der Fischer Gilliatt, lebt im Haus »Weges-Ende« an der Spitze einer Felsenzunge. Er verliebt sich auf seine Weise – aus der Distanz – in Déruchette, die Tochter eines Reeders. Dieser hat es mit einer guten Idee, nämlich einem Dampfschiff, zu Reichtum gebracht. Als dieses aber auf Grund läuft und sein Reichtum verloren zu gehen droht, erklärt sich Gilliatt bereit, das Schiff zu bergen und im Gegenzug einen anderen Schatz zu heben: die Tochter des Reeders, Déruchette. Dass diese Abmachung nicht einfach so aufgeht, ist das Glück des Lesers. Im Versuch, den Schiffsrumpf der Durande aus zwei Granitfelsen herauszubrechen, kämpft Gilliatt mit der Tiefe des Ozeans und in der Tiefe mit Ungeheuern aus schleimigen Tentakeln. Gilliatt, der auch »le malin« genannt wird, was im Wortsinn einmal der Durchtriebene, Gewandte meint und ein anderes Mal den Teufel, trifft unter Wasser auf die Krönung der Missschöpfung: die Krake. Es ist nicht nur eine Figur aus dem Roman, die den Philosophen Roger Caillois zu einer Philosophie der Krake angeregt hat, sondern es ist eine der eindrücklichsten Passagen des Romans:
»Im Mittelpunkt der Strahlen hat es eine einzige Öffnung. Klafft da der After auf oder der Mund? Es ist beides zugleich. Dasselbe Loch versieht die beiden Funktionen. Der Eingang ist der Ausgang. […] Eklig die Berührung mit dieser belebten Gelatine, die den Schwimmer umgibt, worin seine Hände eintauchen, wo sich die Fingernägel durchwühlen, Masse, die man zerreißt, ohne sie zu töten, die man mit sich reißt, ohne sie zu entfernen, eine Art fließendes und zähes Wesen, das einem durch die Finger gleitet.«
Was hier abgekürzt sonderbar klingt, ist nach wenigen Sätzen völlig selbstverständlich. Dieser Roman ist, wie sein Gegenstand, klippig. Überall klaffen Abgründe und auch dort, wie in Wirklichkeit, gelingt
das Leben.
Text: Victor Hugo, Die Arbeiter des Meeres (mare 2017)
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