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#12 Victor Hugo

#12 Victor Hugo: Die Arbeiter des Meeres

von Konstantin Schönfelder

Sie klagen uns an, die Bücher, die wir nicht gele­sen haben, weil sie auf das verwei­sen, was wir nicht kennen, sehen, verstehen; weil sie unsere persön­liche Haben­seite immer zu über­treffen scheinen. Victor Hugo steht in jedem Falle im Inneren jenes mythischen kano­nischen Zirkels.

»Doch genau die Bücher, die ein Mensch nicht gelesen hat, sind es, die ihn am meisten anklagen.«

Dieser Satz eines Klassikers ließe sich grund­sätzlich für kanoni­sierte Texte in Anspruch nehmen. Erinnern nicht die Bücher, die wir kennen müssen, um zu einer geheimnis­tuerischen literarischen Clique zu gehören, an die eigene Unvoll­ständigkeit, an das eigene Unver­mögen, das sich in den Löchern des Nicht­wissens ausweist? Sie klagen uns an, die Bücher, die wir nicht gelesen haben, weil sie auf das verweisen, was wir nicht kennen, sehen, verstehen; weil sie unsere persönliche Haben­seite immer zu über­treffen scheinen. Victor Hugo steht in jedem Falle im Inneren jenes mythischen kanonischen Zirkels. Die Arbeiter des Meeres, aus dem der Eingangs­satz stammt, stellen wir nun aber nicht andächtig vor (oh, ein Hugo!) – sondern überzeugt.
Das Erfrischende an diesem Buch aus dem Jahr 1866 ist, dass die Leserin nicht entschei­den muss, was wichtig wird. Das hat der Autor bereits. Jede Person, die auftaucht, spielt eine unersetz­bare Rolle; jede Handlung hat eine Konse­quenz, die im Laufe des Romans entfaltet wird; das Natür­liche hat auch eine offen­sichtlich kulturelle Sprache, ist ein Symbol, eine Allegorie, eine Referenz. Alles bedeutet. Ebbe, die Stirnseite des Felsens, die Felsenkrümmung als Arm­lehne.
Die Haupt­figur, der Fischer Gilliatt, lebt im Haus »Weges-Ende« an der Spitze einer Felsen­zunge. Er verliebt sich auf seine Weise – aus der Distanz – in Déruchette, die Tochter eines Reeders. Dieser hat es mit einer guten Idee, nämlich einem Dampf­schiff, zu Reichtum gebracht. Als dieses aber auf Grund läuft und sein Reichtum verloren zu gehen droht, erklärt sich Gilliatt bereit, das Schiff zu bergen und im Gegen­zug einen anderen Schatz zu heben: die Tochter des Reeders, Déruchette. Dass diese Ab­machung nicht einfach so aufgeht, ist das Glück des Lesers. Im Versuch, den Schiffs­rumpf der Durande aus zwei Granit­felsen heraus­zubrechen, kämpft Gilliatt mit der Tiefe des Ozeans und in der Tiefe mit Ungeheuern aus schlei­migen Tentakeln. Gilliatt, der auch »le malin« genannt wird, was im Wortsinn einmal der Durch­triebene, Gewandte meint und ein anderes Mal den Teufel, trifft unter Wasser auf die Krönung der Miss­schöpfung: die Krake. Es ist nicht nur eine Figur aus dem Roman, die den Philosophen Roger Caillois zu einer Philosophie der Krake angeregt hat, sondern es ist eine der eindrück­lichsten Passagen des Romans:

»Im Mittel­punkt der Strahlen hat es eine einzige Öffnung. Klafft da der After auf oder der Mund? Es ist beides zugleich. Dasselbe Loch versieht die beiden Funktio­nen. Der Eingang ist der Ausgang. […] Eklig die Be­rührung mit dieser belebten Gelatine, die den Schwim­mer umgibt, worin seine Hände eintauchen, wo sich die Finger­nägel durchwühlen, Masse, die man zerreißt, ohne sie zu töten, die man mit sich reißt, ohne sie zu entfernen, eine Art fließendes und zähes Wesen, das einem durch die Finger gleitet.«

Was hier abge­kürzt sonder­bar klingt, ist nach wenigen Sätzen völlig selbst­verständlich. Dieser Roman ist, wie sein Gegen­stand, klippig. Überall klaffen Abgründe und auch dort, wie in Wirklich­keit, gelingt
das Leben.

Text: Victor Hugo, Die Arbeiter des Meeres (mare 2017)

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#12 Victor Hugo: Die Arbeiter des Meeres

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