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#19 Thomas Bernhard

#19 Thomas Bernhard: Der Untergeher

von Konstantin Schönfelder

Glück und Unglück beschreibt dieser Roman ganz aus­führlich, beschreibt, wie das eine über das andere her­fällt, wie ein augen­blick­liches Glück während eines Spazier­gangs das Unglück der Lebens­situation über­decken kann, aber auch, wie um­gedreht, sogar das Glück am Spazier­gang er­drückt wird von einem exis­ten­zi­ellen Unglück.

Sie waren drei Freunde. So wie Klaviervirtuosen befreundet sein können – besonders im Wettstreit verbunden. Das große Genie der drei ist Glenn Gould. Kanadier, Exzentriker, ein Zauberer. Der Mann ist ikonisch geworden durch seine Interpretation der Goldbergvariationen, lässt Bernhard erzählen. Sein unverwechselbarer Anschlag, die Finger, die sich von den Tasten nie lösen, sein in sich zusammenfallender Körper auf dem zu niedrigen Klavierhocker. Gould hatte das »Bedürfnis nach Weltverblüffung« und war bereit, alles dafür zu setzen. In der Nacht um vier geht er ins Bett,

»nicht um zu schlafen, so Glenn, sondern um die Erschöpfung ausklingen zu lassen

Bernhards Untergeher geht der Geschichte des realen Pianisten Glenn Gould nach, mit dessen menschlicher Folie er dann aber fiktionialisiert. Alles, was Bernhard in seinen Mikrokosmen seitenlang beschreibt, gibt es: das Salzburger Mozarteum, die Wiener Akademie und die Streitigkeiten zwischen den beiden Ausbildungsorten, den Pianisten Glenn Gould. Aber genau so gibt es das alles eben nicht, zumindest nicht nur.
Bernhard vermischt seine Fantasie mit der Realität. Im ewigen Schatten des Genius stehen die anderen beiden Freunde, die ihre Laufbahn abbrechen, bevor sie erst richtig beginnt. Wertheimer ist der tragische Held, ist der Untergeher. So beschreibt ihn Gould während ihrer gemeinsamen Studienzeit. Die Zuschreibung sollte prognostisch sein. Wertheimer nimmt sich das Leben, was zum großen Thema des Buches wird. Das Bestaunen Goulds erschöpft sich nach dem ersten Drittel. Den Knacks in Wertheimers Leben nachzuvollziehen, das im Suizid endet, weist über das Buch hinaus. Von August Strindberg stammt der Satz:

»Bezeichne den Selbstmörder immer nur als einen Unglücklichen, dann tust du recht; und damit ist alles gesagt.«

Natürlich nicht alles, das beweist dieser Bernhard-Roman, aber etwas ganz Fundamentales. Glück und Unglück beschreibt dieser Roman im Detail, beschreibt, wie das eine über das andere herfällt, wie ein augenblickliches Glück während eines Spaziergangs das Unglück der Lebenssituation überdecken kann, aber auch, wie, umgedreht, sogar das Glück am Spaziergang erdrückt wird von einem existenziellen Unglück.

»Möglicherweise müssen wir davon ausgehen, daß es den sogenannten unglücklichen Menschen gar nicht gibt, dachte ich, denn die meisten machen wir ja erst dadurch unglücklich, daß wir ihnen ihr Unglück wegnehmen.«

Wertheimers Unglück war sein Glück, weil er sich zumindest daran erfreuen konnte, dass er etwas fühlte, will Bernhard vielleicht sagen und zeigt, wie rasant die Grenze zwischen den beiden vermeintlich entgegengesetzten Phänomenen verschwimmt.
Geschrieben ist der Roman in dem Bernhard-Ton, der sich erst nach und nach entschlüsselt und doch epochenprägend wird. Ohne Absatz und Kapitel schreibt der Autor in einem 243-seitigen Rutsch durch. Doch ist dieser Roman kein Durch­einander, sondern ein Auf-etwas-zu. Es ist eine simple, überschaubare Geschichte, die immer wieder überrascht mit präzisen Beobachtungen auf geistigen Nebenstraßen.

»In der Theorie verstehen wir die Menschen, aber in der Praxis halten wir sie nicht aus, dachte ich, gehen mit ihnen meistens nur widerwillig um und behandeln sie immer von uns aus gesehen. Wir sollten die Menschen aber nicht von uns aus gesehen, sondern von allen Blickwinkeln aus gesehen betrachten und behandeln, dachte ich, mit ihnen auf solche Weise verkehren, daß wir sagen können, wir verkehrten mit ihnen sozusagen vollkommen auf unvoreingenommene Weise, was aber nicht gelingt, weil wir tatsächlich immer jedem gegenüber voreingenommen sind.«

Dieses »dachte ich« taucht meistens familiär auf. Sagte er, dachte ich ... Familiär deshalb, weil es eine Stilfigur ist, die daran erinnert, dass die Konstruktion einer Geschichte immer fragil ist, weil sie von einzelnen Menschen abhängt, von einem er, ich, die übertreiben und weglassen. Diese Form nimmt vorweg, was in ähnlicher Weise bei W. G. Sebalds Roman Austerlitz stilgebend wurde. Und es ist auch hier stilgebend. Eine Geschichte hängt am Subjekt und ist durch dieses überhaupt erst möglich.

Die Blickwinkel sind nie total. So ist das eben. Das ist menschlich, würde Bernhard bestimmt schreiben. Und häufig ist es furchtbar ungerecht.

Text: Thomas Bernhard, Der Untergeher (Suhrkamp 1986)

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#19 Thomas Bernhard: Der Untergeher

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