Entweder, man nimmt den Autor beim Wort, was mühsam ist und ermüdend. Oder aber, man spaziert durch die Sätze, bleibt stehen, guckt kurz, so wie man im Park stehen bleibt, wenn ein lustiger Schnurrbart vorbeiläuft.
»Politik ist die Kunst, die Leute daran zu hindern, sich um das zu kümmern, was sie angeht.« (22)
Ein einleuchtender Satz in unserer postdemokratisch gelesenen Zeit, eine Zeit, in der Politik nicht mehr die Sache der Leute ist. Ein Satz, verehrt von Adorno, dem Mann mit der Glatze, der, glaubt man den Bildern, immer so missmutig dreinzuschauen scheint. Ist dieses Buch humorvoll zu genießen? Sicher nicht. Müssen wir angesichts der Windstriche das Gesicht verziehen? Auch da würden wir uns mit der Buchrückseite, auf der dieser Satz wie ein allessagender Werbeslogan prangt, zu sehr gemein machen.
Paul Valérys cahiers, die Hefte, in die er lebenslang schrieb, wurden posthum publiziert und waren erstmals 1959 in der hiesigen Landessprache zu entdecken. »Es ist erschütternd, mitzuerleben, und erhebend, mitzudenken, wie schwer es sich ein großer Geist mit dem Geist gemacht hat«, stand damals in der Zeit und gab Ausblick auf einen für die Deutschen noch weithin unbekannten Autor, der insgeheim, schon in den privatesten Aufzeichnungen, den Eindruck macht, seine eigentliche Aufgabe sei weniger die eines Literaten als die eines Seelsorgers. Weil er es sich so schwer gemacht hat, müssen wir es nicht mehr tun. Die Windstriche sollten wir, ganz im Gegenzug, leicht lesen. Nicht alles ist hier wichtig, doch manches kostbar.
Die Windstriche nun sind eine Reihe von Aufzeichnungen und Aphorismen, zu deren Natur es gehört, dass man sich nie ganz sicher ist, was genau sie sind und wie man sie richtig liest. Valéry muss sich dessen bewusst gewesen sein, denn in einer vorangestellten Notiz bemüht er sich, den Leser richtig einzustellen, und wenn auch nur, was die Windstriche selbst betrifft.
»Unter Windstrich versteht man eine Richtung, die sich nach dem Winkel bestimmt, in welchem auf der Horizontfläche eine beliebige Gerade zum Meridian steht.« (7)
Unsere Gedanken sind Ableitungen von einer Richtung, die sich nicht einfach ändert, wenn sich unsere Gedanken ändern. Sie sind gewissermaßen bestimmte Abweichungen, die sich – mögen sie auch gesellschaftlich prägend sein – doch nur an den Rändern abspielen. Dieser Einstieg kann entmutigen und wird dem Buch schon dahingehend nicht gerecht, als dass dieses in erster Linie keine Einführung in die maritime Begriffskunde, sondern vor allem ein Buch der schönen Sätze ist. Und schön heißt hier auch immer: fürs eigene Leben bedeutend.
»Jedes Gefühl ist der Saldo einer Rechnung, deren Einzelposten verloren sind.« (14)
Manch ein Windstrich mag ein guter Ratgeber in Alltagsfragen sein. Hin und wieder lohnt es, einen einzelnen Satz herauszugreifen und sich um den Rest nicht weiter zu scheren. Überhaupt gibt es zwei Arten, solche Aphorismenbücher zu lesen. Entweder, man nimmt den Autor beim Wort, was mühsam ist und ermüdend. Oder aber, man spaziert durch die Sätze, bleibt stehen, guckt kurz, so wie man im Park stehen bleibt, wenn ein lustiger Schnurrbart vorbeiläuft und geht unbescholten weiter, ohne glauben zu müssen, allzu sehr geglotzt zu haben. Lesen Sie dieses Buch auf letztere Art. Sie müssen ja nicht – und können jederzeit pausieren.
Denn in zweiter Linie ist dieses Buch eine Sammlung schwieriger und schwerwiegender Motive. So findet sich in dem Teil, der in Kapitälchen mit »Moralia« überschrieben ist, eine kurze, eingängliche, aber nicht ohne Weiteres einfache Abhandlung über den Selbstmord als »grobe Lösung«, die eine ganz eigene Suggestion hat. Auch wenn es sein kann, dass man am Ende eher schwelgend als erleuchtet wieder herauskommt. Das liegt an einer beeindruckenden Bildlichkeit, die dem eigentlich Hässlichen (dem Selbstmord) ein sprachlich schönes Antlitz gibt, es dem Leser aber damit auch nicht unbedingt leichter macht.
»Unter dem Mikroskop erscheint der Faden, den die Parzen abspulen, als ein Seil, dessen vielfarbige Fasern, einander ablösend, bald verschwinden, bald wieder hervortreten, während die Windung sie zieht und mit sich reißt.« (17)
Auch ein dritter Zugang lässt sich legen. Denn was Eingeweihten nicht verborgen bleiben wird: Dieses Buch ist neben den vielfältigen Exkursen auf dem Autor wohl selbst unbekannten Terrains ein Beitrag zu einer spezifischen Auffassung von Ästhetik, die für die kontinentale Philosophie in ihrem weitesten Sinne stilbildend war. Von Valéry treffend im Schlusskapitel »Verschwiegenes« eingeordnet, lassen sich diese Ansichten besonders von jenen gewinnbringend lesen, die davon noch gänzlich unbefleckt sind.
»Das Ziel der Malerei ist unbestimmt. Wäre es klar umrissen [...] so wäre das Problem sehr viel einfacher, und es gäbe sicher mehr schöne Werke [...], aber keine, die unerklärlich schön wären. Es gäbe die Werke nicht, denen man nie auf den Grund kommt.« (99)
»Kritik, soweit sie sich nicht darauf beschränkt, nach ihrer Laune und ihrem Geschmack zu urteilen [...] Kritik als Urteil [also] bestünde in einem Vergleich zwischen dem, was der Autor beabsichtigt, und dem, was er wirklich zustande gebracht hat. Während der Wert eines Werks, in der eigentümlichen und veränderlichen Beziehung zwischen diesem Werk und irgendeinem Leser liegt, besteht das eigentliche Verdienst eines Autors in einer Beziehung zwischen ihm und seinem Vorhaben: es bemißt sich nach diesem Abstand und nach den Schwierigkeiten, die sich bei der Ausführung des Werks ergeben haben.« (103)
Wie lässt sich die Leerstelle zwischen dem Künstler und seiner Absicht und dem Werk und dessen Absicht schließen? Was sind Wesen und Wirken von Kunst? Hier nehmen Streitigkeiten innerhalb der Kunstszene und innerhalb der Szene der akademischen Beobachterinnen von Kunst ihren Ausgang, die im Laufe des Buches rhapsodisch angedeutet, dann zurückgestellt und bald wieder ausgebreitet werden.
Der primäre Gegenstand der Windstriche aber sind diese Stellen nicht. Der Eindruck vom Anfang dagegen hält an. Valéry bleibt der Pfleger, ein Retter der belasteten Seelen. Das soll nicht abschätzig klingen.
Es ist das größte Lob, das man Literatur aussprechen kann. Wie viele schrieben und schreiben aphoristisch und wie wenigen gelingt es, jedem von uns, dem schlausten wie dem abseitigen Geist etwas zu bieten, das wir mit nach Hause und morgens mit auf die Straße nehmen können.
»Ein Glück, diese Leichtigkeit. Welch scheußliche Brut wäre eine Menschheit mit unfehlbarem Gedächtnis, stets vorandrängender Tätigkeit, ständiger Geistesgegenwart und immer wachem, kritischem Sinn.
So bereitet sich denn eine schreckliche Zukunft vor, denn all diese schlimmen Tugenden, die das Leben dem Leben schwermachten, werden wachsen und in der Welt immer mehr herrschen – aber nicht in menschlicher Form. Die Maschine, und was sie verlangt, wird die Gewichtlosesten und Ungenausten in ihre Disziplin zwingen. Sie registriert, sie sieht voraus. Sie präzisiert und sie verhärtet; sie übertreibt die den Lebenden eigene Möglichkeit, zu bewahren und vorauszusehen, und sie strebt danach, das launische Leben der Menschen, ihre vagen Erinnerungen, die dämmrige Zukunft, das ungewisse Morgen in eine Art unveränderter Gegenwart zu verwandeln, vergleichbar dem Leerlauf eines Motors, der seine Normalgeschwindigkeit erreicht hat.« (132, die letzte Seite)
Text: Paul Valéry, Windstriche (Suhrkamp 2017)
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