Aus Énards Dankesrede, die er zur Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung hält, stammt die abgründige Metapher: »Es scheint so, als hätten die politischen Kommentatoren dieser Tage vergessen, wer Europa war.«
Aus Énards Dankesrede, die er zur Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung hält, stammt die abgründige Metapher:
»Es scheint so, als hätten die politischen Kommentatoren dieser Tage vergessen, wer Europa war. Und was Europa bedeutet. Europa war eine libanesische Prinzessin, die an einem Strand bei Sidon von einem Gott des Nordens entführt wurde, der sie begehrte: Zeus. […] Europa ist eine illegale Einwanderin, eine Ausländerin, eine Kriegsbeute.«
Mit diesem nuancierenden, zeitkritischen Blick schreibt Énard auch seinen Kompass. Er will nicht zeigen, was der Orient und was der Okzident »sind«, sondern wo die Schnittmengen liegen, wie sich der Orient in der europäischen Kultur vermittelt hat und noch immer vermittelt (»Ganz Europa ist im Orient. Alles ist kosmopolitisch«). Er will also Nähe herstellen zwischen den beiden Welten, die so viel miteinander gemein haben. Deshalb schreibt er von Liszt in Istanbul, von Goethes Divan, von der klanglichen Schönheit der schlichten Wüste in Le Désert von Félicien David. Der Roman ist dadurch, man spürt es schon, ein intellektuelles Schwergewicht, das den Leser leicht erschöpft. Genauso wie der Protagonist, der Musikwissenschaftler Franz Ritter, so erschöpft ist von seinem Leben und der Tatsache, dass er nicht schlafen kann. Das Buch ereignet sich dann in dieser ermattenden, immer länger werdenden Nacht, in der Franz Ritter, neben seiner sentimentalen Liebe für den Orient, von einer Liebesgeschichte erzählt. So ist, wer bis an das Ende dieses Buches gelangt ist, erhellt und ergriffen. Die Liebesgeschichte von Franz und Sara erinnert an die von Paul (Celan) und Ingeborg (Bachmann), die vor allem schriftlich ist. Verbrieft. Beide sehen sich nacheinander und stoßen sich voneinander ab; wollen zusammengehören und trennen sich voneinander; inspirieren einander und sind doch die großen Teile ihres Lebens nur im Schweigen verbunden.
Und wäre das nicht auch eine Allegorie für das Verhältnis von Orient und Okzident?
Text: Mathias Enard, Kompass (Hanser 2016)
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