Daoud hält jenen, die den von Albert Camus verfassten Klassiker des Existenzialismus, Der Fremde, gelesen und geliebt haben, und sich niemals die Frage nach dem Namen und der Geschichte des erschossenen »Arabers« stellten, einen Spiegel vor.
Ich wollte dieses Buch nicht mögen. Ästhetische Konzepte, die sich in erster Linie als politisch begreifen, scheinen sich nur allzu leicht im Erheben des Zeigefingers zu gefallen. Die Kunst verkommt da schnell zum Zugpferd eines Wagens, der ihren Predigern dazu dient, durch einen anschaulichen Auftritt jenen ihre eigene Meinung als Wahrheit auszugeben, die sowieso schon derselben sind.
Daoud hält jenen, die den von Albert Camus verfassten Klassiker des Existenzialismus, Der Fremde, gelesen und geliebt haben, und sich niemals die Frage nach dem Namen und der Geschichte des erschossenen »Arabers« stellten, einen Spiegel vor. Diese Geschichte, die Geschichte von Moussa, lässt der algerische Schriftsteller Daoud nun von Haroud, dem jüngeren Bruder des Verstorbenen, in der von Wein und Schnaps geschwängerten Atmosphäre einer Bar in Oran erzählen. Dabei tappt er nicht in die offensichtliche Falle, die Geschichte des jüngeren Bruders Haroud oder die der gemeinsamen Mutter zu vergessen. Ganz im Gegenteil: Geschickt erzählt Daoud in seinem Roman die Geschichte einer Sprachermächtigung:
»Ja, die Sprache. Die ich lese, in der ich mich hier und heute ausdrücke, ist nicht ihre Sprache.«
Denn Sprachen gehören niemandem, genauso wenig wie Kulturen. So erzählt Daoud auch die Geschichte einer Kulturermächtigung. Subtil werden biblische Spuren in arabischen Namen gelegt, die der Leserin die Pointe des Buches schon früh ankündigen.
Der Fall Meursault ist eben auch ein Buch vom Tod, vom Kreislauf der Gewalt, vom ewigen Kampf zwischen Herr und Knecht, zwischen Kolonialherr und den Verdammten dieser Erde (Frantz Fanon). Es ist eine Geschichte des Ausgleichs, der Rache, der allzu menschlich gedachten Gerechtigkeit, die in ihrer Ausweglosigkeit dem trunkenen Gang durch das Spiegelkabinett gleicht. So ist in Daouds Roman am Ende nicht mehr klar, wer hier wem den Spiegel vorhält. Der Blick in den Spiegel offenbart eine schöpferische Kraft, die, eigenmächtig und frei, Poesie ist.
Kamel Daouds Roman weist uns neben dem Ausweg der Liebe noch einen weiteren aus dem Kreislauf der Gewalt: das Erzählen. So ist Der Fall Meursault eben auch die spiegelbildliche Verbeugung vor Camus und seinen Sätzen von der Absurdität des Todes:
»Wenn dein Held die Ermordung meines Bruders so gut erzählt, dann konnte er das, weil er auf das Gebiet einer völlig unbekannten Sprache vorgedrungen war, die viel mächtiger und so überwältigend ist, weil sie gnadenlos den Stein der Worte schleift, so schnörkellos wie die euklidische Geometrie. Ich glaube es ist ganz großer Stil, mit so strenger Präzision von dem zu sprechen, was dir die letzten Momente deines Lebens auferlegen. Stell dir einen sterbenden Mann und seine letzten Worte vor. Das ist das Genie deines Helden: die Welt so zu beschreiben, als ob er jeden Moment sterben würde, so, als müsste er jedes Wort auswählen und dabei auch noch möglichst wenig atmen. Er ist ein Asket.«
Text: Kamel Daoud, Der Fall Mersault (Kiepenheuer & Witsch 2016)
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