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#52 Judith Schalansky

#52 Judith Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste

von Konstantin Schönfelder

Wir verlieren den Mut auf unserem Weg ins Versprochene. Wir verlieren die Uhr des Großvaters, die unser Vater noch trug. Wir verlieren ein in Leinen gebundenes Buch, das ein Geschenk der letzten Freundin gewesen ist. Immer wenn wir ver­lieren, nehmen wir Anstoß an unserer eigenen Geschichte. Mein Großvater war ein feinsinniger Mensch, der mir als Kind einiges … Wir vergegen­wärtigen uns, was es war, das wir ver­loren haben. Um bestimmen zu können, was es uns bedeutet hat. Und was es uns noch immer bedeutet. Wir erinnern uns. Sich zu erinnern heißt: das Vergessene wachrufen. Wäre es präsent, müssten wir es nicht erinnern. Wir müssen nur erinnern, weil wir vergessen haben. Wer sagt, erinnere mich, meint ja: denn ich werde es ansonsten vergessen. Als sagten wir, die uns erinnern: Nicht Vergessen, nicht vergessen, nicht vergessen – und damit beginnen wir schon, uns zu erinnern.

Was wir verlieren, ist nicht einfach ver­schwunden. Man kann sich zum Beispiel auf die Suche nach der verlorenen Zeit machen und sie damit retten. Man kann sagen: Ja, sie ist verloren, diese oder jene Zeit, aber wenn ich nach ihr suche, trete ich ein in einen Zwischen­raum, in dem mir anwesend wird, was zuvor abwesend war. Dieser Raum könnte ein Roman sein.
Da das menschliche Leben aber sehr flüchtig ist, sind auch die hinter­lassenen Spuren vom Vergessen bedroht. Zwar gibt es Ereignisse, für die die Geschichts­schreibung empfindlich ist. Doch gibt es übersehene Geschichten der Geschichte, die einen zweiten Blick verdienen – oder überhaupt einen ersten, wirklichen. Von einigen schreibt Judith Schalansky in ihrem Buch Verzeichnis einiger Verluste. Sie fängt am Anfang an und hört im Heute auf. In der Hand einen Kompass, der eingenordet ist durch diesen Satz: Finden, was nicht vorge­funden wird und was auch deshalb be­wah­rens­wert ist; es verzeichnen, es vor dem Vergessen retten.

»Die Welt aber trauert nur um das Bekannte und ahnt nicht, was ihr mit jener winzigen Insel verlorenging, obgleich die irdische Kugelgestalt es diesem verlorenen Flecken ebenso gestattet hätte, ihr Nabel zu sein, auch wenn ihnen nicht das feste Tauwerk des Handels und der Kriege, sondern das ungleich feiner gespon­nene Garn eines Traumes mit ihr verband. Denn der Mythos ist die höchste aller Möglichkeiten und, so dachte ich für einen Moment, die Bibliothek der wahre Schau­platz des Welt­geschehens.« (44)

Hören wir die Klage, die von dem Satz ausgeht? Dass die Welt nur um das Bekan­nte zu trauern vermag? Denn wie könnten wir das Unbekannte auch betrauern? Mit welchen Vokabeln ritualisierten wir dann unser Gedenken der Dinge, die wir nicht kennen? Wie würdigten wir im Anschluss mit unserem Schreiben auch das Ungeschrie­bene? Die winzige Insel­gruppe, für die sich Schalansky interessiert, hieß Tuanaki, und lag südlich der Cook-Inseln. Sie muss 1842 oder 1843 von einem Seebeben verschluckt worden sein. Schalansky begibt sich von der Bibliothek aus in den Pazifischen Ozean, rekonstruiert, was wir wissen (es ist nicht viel), arbeitet mit dem Material und bringt es zum Sprechen. Das heißt: Sie lokalisiert den Verlust Tuanakis mit der Präzision einer Dokumentaristin. Sie schreibt von den Berichten, die sie studiert, denen zufolge das Wort »Krieg« den Bewohnern des Atolls gänzlich unbekannt gewesen sei. Sie schreibt vom vor den zudringlichen Gezeiten schützenden Korallenriff vor Tuanaki, von paradiesischen Zuständen. Von dort, von der gesicherten Erkenntnis aus, gelangen wir allein mit der Phantasie ins Innere der Figur: vage, mutmaßend und hoffend.
Sie fragt die Frage einer jeden Erzäh­lerin, die sich an der Wirklichkeit immer besonders für ihre Möglichkeiten fasziniert: Was wäre, wenn? Was wäre, wenn Tuanaki der Nabel der Welt geworden wäre? Und nicht verschwunden, bevor es Bedeutung gewänne? Es ist daher nicht verwunderlich, dass Schalansky in ihren Erzählungen auf die Form des Fragments vertraut.
In »Palast der Republik« beschreibt sie die Liebe eines Paares in der DDR. Der Mann hatte sich heimlich mit einer anderen Frau eingelassen. Als er in die Wohnung der alten Ordnung zurückkehrt, muss er ahnen, dass seine Frau von seinem Betrug weiß. Und tatsächlich: Der Nachbar hatte es ihr zuvor erzählt. Alles erscheint dem Mann verdächtig. Er verhält sich verdächtig. Er traut sich nicht einmal, den Wasserkocher anzuschalten. An diesem Punkt verlässt die Erzählerin die Küche, beschlossen von dem merkwürdig deskriptiven und doch bedroh­lichen Satz: »Ihre Augen waren beinahe schwarz.« Die Erzählung bricht ab, bevor sie den Punkt erreicht, auf den sie zugelaufen war. Sie vertraut in manchen Fragen dem Weißraum mehr, den ein Buch eben auch bewahrt und auszeichnet, von dem aus wir das Buch immer auch lesen können, von seinem Schweigen und Verstummen, von all dem also, was ungesagt bleibt.
Inspirieren wir uns doch von der negativen Kraft des Denkens, in dem wir als Leser gezwungen sind, weiterzulesen, und nicht nur mitzulesen oder nachzulesen. Wer drei Punkte setzt, setzt, wenn er es gut meint, den Satz aus.

»Auslassungszeichen öffnen jeden Text in jenes große, unbestimmte Reich der Empfindungen, die sich nicht versprachlichen lassen oder die vor den zur Verfügung stehenden Worten kapitulieren. / … mein Liebling …« (128)

Wir dürfen nicht glauben, dass der Weiß­raum allerdings ohne seine Zeichen aus­kommt, die ihn erst zu einem Weiß­raum machen. Ein Raum ohne Zeichen wäre ein leerer Raum. Und eine Auslassung ist nicht leer, sondern voller Konnota­tionen. Schau­en wir also noch einmal auf die Zeichen, die wir deuten können. »Jemand wird sich unser erinnern, / sag ich, auch in fernen Zeiten.« Das sind zwei Verse der Dichterin Sappho, die auf Lesbos gelebt hat und geliebt, auch Frauen, worauf die Liebe noch heute unter Frauen begrifflich baut, wenn sie sich als lesbisch ausweist. Von Sappho ist allerdings kaum etwas erhalten, vorgeblich nur sieben Prozent ihres Gesamt­werks, das sehr groß gewesen sein muss. Deshalb sprechen alle immer von Homer und kaum jemand von Sappho. Denn wovon kann man da schon sprechen? Anwesend ist das Verlorene erst als Verlust und nur als Verlust kann es ver­zeichnet werden. Schalansky erzählt in ihrem Buch deshalb mit so großer Dringlich­keit, weil das Erzählte einmal unterbrochen wurde, der Faden wieder neu aufgenommen werden muss. Und in Sapphos Fall heißt das: Von den schwachen Spuren, über die wir ver­fügen, müssen wir das Ganze zu rekon­struieren versuchen. Das Werk.
Das Noema von Schalanskys Buch ist: All das ist einmal gewesen. Das System dafür nennt sie ein Verzeichnis. Und das ist kein Schwindel. Es ist eine entschiedene Haltung zum ästhetischen Programm: 14 Kapitel mit je 16 Seiten. Jedes Kapitel abgetrennt mit einer schwarzen Seite, auf der halb­trans­parent ein Bild oder eine Skizze hervor­schimmert. Ein Vorwort, ein Nachwort. Mathematische Präzision – ein Verzeichnis eben.

»Am Anfang, nur soviel ist sicher, war die Arbeit, das Kreisen des großen Perpe­tuum mobile, das – einmal in Gang gesetzt – die Energien erhält, die Flüsse anschwellen, ins Meer münden und das Wasser in den Himmel aufsteigen lässt, dem großen Kreislauf zuführt, dem Wechsel der Jahres­zeiten, der Wieder­kehr der Begriffs­paare, die seit dem Anfang der Geschichte in Zweier­reihen antreten, um Himmel und Erde zu spie­len, Mutter und Vater, Bruder und Schwes­ter, ein Götter­paar, zwei Unge­heuer, einander spinne­feind. Die wüste Leere eines Vorbeginns scheint reicher als das öde Gesetz des Gegen­satzes, das seither wie ein Fluch auf der Mensch­heit lastet, die sich fortan ent­scheiden muss, zwischen Sammeln und Jagen, dem Pflügen des Ackers und dem Hüten der Herde, dem Schüren des Feuers und dem Gang zum Brunnen. Was dort, in der Tiefe, auf dem Grund des Seins, auf Erkenntnis wartet, vermag niemand zu sagen. Ob am Anfang das ungestüme Chaos, die gähnende Leere, beides oder keines davon herrschte, ob sich die Schöpfung planlos ergab oder zielgerichtet vollzog, als Folge eines Wett­streits zwischen Götter­genera­tionen, eines Kampfes zwischen Alt und Jung. Die Kosmologien, die hier ihren Anfang nehmen, sind so unzählbar wie wider­sprüchlich. Was sie eint, ist die Vor­stellung von der Unvoll­kommen­heit der Welt.« (158)

Schalansky wechselt zwischen den Registern. Sie schreibt mal essayis­tisch, dann streng, romantisch, poe­tisch, lustvoll. Zuweilen aggressiv – im Versuch, die Natur zu beschrei­ben. Denn jeder Verlust muss in einer ihm ange­messenen Sprache geborgen werden. Jede Blüte ist so einzigartig wie ihr Nieder­gang. Schalansky stülpt Greifswald, Babylo­nien und Berlin nicht ihre Sprache über, sondern lässt ihre Sprache von den Phänomenen gestalten. Begleitet von einer Geste der Vorsicht: »Wir wissen nichts. Jedenfalls nicht viel.« Es hätte auch alles anders sein können.

Text: Judith Schalansky, Verzeichnis einiger Verluste (Suhrkamp 2018)

Produktion: Konstantin Schönfelder

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