SHOP
#51 Heinz Helle

#51 Heinz Helle: Die Überwindung der Schwerkraft

von Holm-Uwe Burgemann

Leere denken bedeutet, die Ge­danken selbst zu entleeren. Denn in der Leere ist nichts. Nichts außer die Bedeutungs­losig­keit. Den Raum der Leere können wir nicht bewohnen. Wir können ihn nicht von innerhalb denken, sondern nur von außer­halb, stellen ihn uns vor als Leer___stelle, eine Lücke, die der Teufel lässt, um uns zu ärgern. Aber auch in einer nach-religiösen Welt gäbe es das: einen gegen­stands­losen Ort ohne Material, eine Film­rolle, die auch in der Sonne ihre schwarz-braune Farb­losig­keit behält. ISO 0.

Ein Ort ohne Halt und ohne Ge­schichte, der einzig durch Literatur karto­graphiert werden kann. Denn literarisch sehen, heißt auch – und vielleicht mehr als alles andere – der Sprache Um­wege sehen. Wo bricht sie ab, wo weicht sie aus und zeichnet eine Ahnung, die nichts und nie­man­den mehr betrifft. Denn das Nicht-mehr-betroffen-werden-Können ist, was wir die Bedeutungs­losig­keit nennen. Sie ist das Signum der Leere. Und wenn es ein Motiv gibt, das Heinz Helles neuer Roman, Die Über­win­dung der Schwerkraft, antastet, dann ist es dieses.

Der Moment, in dem wir reden, ohne etwas zu sagen, Sinn produzieren, der sich für den einen, um den es wirklich geht, verspätet und darum uns alle betrifft.

Heinz Helle berichtet vom Gespräch eines Brüderpaars, dass uns aus der Per­spek­tive des Jüngeren erzählt wird, der Philosoph ist und Don DeLillo liest, wie Helle. Der Jüngere erzählt dieses Gespräch in aus­ufernden Rückblenden. Von Anfang an ist klar, dass der Ältere im Laufe dieses Buches sterben wird, ja, dass er bereits verstorben ist und nicht mehr zu retten sein wird. So erscheint dieses Buch gleichermaßen als Protokoll und Prolog eines absehbaren und darum umso schwerer wiegenden Verlustes. Das Andenken setzt ein, wo wir vom Tod wissen, ohne das Sterben zu kennen.
»Bald bin ich so alt, wie mein Bruder war, als er starb«, heißt es im ersten Satz. Eine Markierung, wie wir sie aus unseren eigenen Brüchen und Abrissen kennen. Ein Satz, der vergemeinschaftet, weil wir alle zu jenen gehören, die das Lebensalter – oder müssten wir es nicht Sterbealter nennen? – anderer passieren. Seinen trauernden Ton kann der Roman in seinem Verlauf nur an jenen wenigen Stellen überwinden, in denen das Brüderpaar sich Bier um Bier sediert und damit immer ein wenig auch uns. »Nach jeder Flasche warten wir eine Weile und lauschen, wie der Klang der Splitter ver­hallt.« Dies ist der letzte Satz und mit ihm erfährt das Gespräch, dass das letzte der beiden gewesen sein wird, so etwas wie eine bildliche Schließung. Für mehr als 100 Seiten sind Flasche und Glas Symbole für den Alkohol gewesen, der die Anzeichen eines schlimmeren, grundsätzlichen Leidens an der Welt und ihrer Aussichts­losigkeit verwischt hat und das mit ihm einher­gehen­de Sprechen zum absoluten Nächsten (dem Bruder) für eine Zeit andauern ließ. Im Ende wird der Jüngere, seine Tochter fest bei der Hand haltend, leere Flaschen auf dem Boden des metallenen Glascontainers in jene Splitter zerbersten lassen, die in den Überresten der Erinnerung an den Älteren aufgehen.
Zwischen diesem ersten und letzten Satz gibt es keinen Weißraum. Ohne Absätze und Umbrüche, ohne Pause und ein wenig atem­los knüpft Helle einen Erinnerungs­teppich, der Unter­brechungen kaum zulässt. Selbst dann, wenn man eigentlich gerne auf­schauen würde, weil der Text unerträglich wird. So lesen wir im Bann des Schicksals auch Szenen, in denen der Ältere den sexuellen Missbrauch zweier achtjähriger Mädchen durch den Belgier Marc Dutroux schildert. Der unaufhörliche Textfluss, der Autor:innen wie Max Sebald ähnelt, ist entscheidend. Denn er zwingt der Leserin weniger solch explizite Grausam­keiten auf, als das Ringen um eine Aussicht, eine Hoffnung. Denn während die Geschichte in ihren Einzelheiten wenn nicht als belanglos dann doch in ihren zeitgeschicht­lichen Referenzen als ein wenig gezwungen erscheint und ihr sprach­philosophisches Fundament zu bereitwillig preisgibt, so lüften diese Avancen nichtsdestoweniger, dass mehr verhandelt wird als das einzelne Unglück.

»Ich erinnere mich noch, wie ich für einen Augenblick dachte, dass dies vielleicht der Moment ist, in dem die informative Ebene unseres Gesprächs überlagert wird von der klanglichen, möglicherweise ging es ab hier nur noch darum, eine vertraute Stimme in be­kannte Einheiten zu unterteilen und dieser Reihe von Einheiten durch ihre äußere, grammatikalische Ordnung den Anschein einer inneren Ordnung zu geben, die sie schon lange verloren hatte, ein als Rede getarntes, rhyth­misches Summen, allerdings mit dem gleichen zutiefst menschlichen Ziel, das jeder Austausch von Zeichen hat, der Erzeugung von Nähe.« (55)

Vielleicht sind diese Passagen hier rich­tig, weil sie, zumindest für jene, die selbst (bisweilen auch nur unwissentlich) die Wirklichkeit semiologisch – Zeichen für Zeichen – interpretieren, eine Beschreibung für das Anrennen gegen die Bedeutungs­losigkeit geben. Auch wenn diese noch chiffriert ist. Eine aufgeschlossenere Beschreibung desselben Gefühls lesen wir in den Worten des Älteren.

»Seiner Meinung nach sei es Jesu Christi größter und einziger und darum, weil er ja Gott war, unverzeih­licher Fehler, dass der das Wort ›ich‹ gebrauchte in seinen Gebeten und Verheißungen und die Menschen damit anfällig gemacht hat für die Illusion, sie könnten werden wie er, nur weil auch sie in der Lage sind, ›ich‹ zu sagen, und während die permanente Auf­wertung des Einzel­nen gegenüber der Macht selbst­verständ­lich richtig und notwendig war, ist und bleibt, bedeutet die Beschränkung auf die subjektive Perspektive wiederum eine Verviel­fachung genau des Leids, das minimiert werden sollte durch die Befreiung des Individuums, da alles, was ›mir‹ geschieht, eben auch zuallererst ›mich‹ schmerzt, ›mich‹ in meiner Entwicklung hindert, ›mich‹ kleiner macht, als ›ich‹ glaubte zu sein. Man hat dann gar keine andere Wahl, schrieb mein Bruder weiter, als zu meinen, dass sich die Schwerkraft gegen einen persönlich richtet, eben­so wie die Zeit, die Angst, das Vergessen, und man beginnt, zu übersehen, dass alle anderen eben­so diesem Sog ausgesetzt sind, diesem fortwährenden Weggezerrt-Werden vom Jetzt, diesem selt­samen Sturm, der einen immer einen Meter vor sich selbst stehen lässt …« (137–38)

Einige Seiten später erreicht den Älteren ein Brief des Vaters. Ihm sind Fotos bei­ge­legt, darunter eines in schwarz-weiß, das eine Kette an Erinnerungen, an die russische Front, den Krieg und die Rhetorik der Gewalt, in Gang setzt, mittels derer der Roman auf seinen eigent­lichen Gegenstand, die Ab­wesenheit aller Gegenstände, zuläuft.

»und all die Wörter, die man sich aus­ge­dacht hätte, um zu beschreiben, was in solchen Situationen passierte, … all das sei nur nutzloses Blend­werk, um darüber hinweg­zu­täuschen, dass sich Menschen, die Berufe gelernt hatten, Köpfe gestreichelt und Münder geküsst, gemeinsam auf eine Wiese begaben, um ihre Körper von verschieden großen, verschie­den geformten Metall­teilen in Stücke reißen zu lassen und danach ge­mein­sam zu verfaulen, bis sie nicht mehr von dem zu unter­scheiden waren, was sich in dem Moment, als sie ihren letzten Gedanken dachten, Vaterland, Gott oder Mama, in ihrem Darm befand. Diese Geschichte zeige doch ganz deutlich, wie mein Bruder nach einem tiefen Zug an seiner Zigarette anhob, dass unsere Sprache vor allem dazu da ist, um uns zu trösten und um die Leere zu füllen, die sich in uns ausbreitet, wenn wir merken, wir haben keine Ahnung, warum geschieht, was geschieht.« (148–49)

Das Gefühl, sich an nichts festhalten zu können, bezeugt Orientierungslosigkeit. Eine wie wir sie aus Räumen kennen, deren Wände nicht lotrecht sind und uns somit schief scheinen. Ohne Fluchtpunkt passen wir uns ihrer Schiefe an. Schauen wir dann aus dem Fenster, sehen wir eine Welt die – eigentlich gerade – sich uns ihrerseits nur schief darstellen kann. Die Überwindung der Schwerkraft drückt sich in dieser Abwei­chung von einer vorherrschenden Gerichtet­heit, einem Glauben oder Urvertrauen, auf tragische Weise aus. Die Ungewiss­heit des Älteren ist gleichsam existenziell wie exem­plarisch. Sie ist ein Generalzustand, der mit Blick auf die Schiefe der Welt durch den Roman keine beruhigende Antwort erhält. Keine Antwort jenseits des Scherben­haufens der Erinnerung. Wer die Schwer­kraft überwindet, schwebt bodenlos im All. Ein Sprechen, das sodann bedeutungslos ist, mag immer noch einen Inhalt haben – so wie es selbst der Inhalt dieses Buch ist –, doch leitet sie zu nichts an. »Irgendwer spricht, doch was er sagt, sagt er nicht von irgendwo her«, schrieb Foucault. Bei Heinz Helle spricht das Brüderpaar. Es spricht zueinan­der im Lichte des Leidens des einen. Aber ist ihr Sprechen wirklich oder nur pro forma? Sie sprechen einander an, doch die Worte, die Zweifel des Älteren erreichen den Jüngeren nicht. Der Jüngere versteht die folgenden Versuche der Wiederaufnahme des Sprechens nicht mehr genug und zeitigt des Älteren Ende.
Die Überwindung der Schwerkraft kennt keine narrative Pointe, die dem philoso­phischen Anspruch gerecht würde. Der Ältere stirbt, stirbt an einer physischen Krank­heit. Die Geschichte bleibt anerzählt. Ein Jahr nach seinem Tod geht der Jüngere, seine Tochter fest bei der Hand zu jenem Glascontainer, an dessen Grund das Glas aufprallt und erklingt. Sie stehen am Zebra­streifen und warten.

»Die allermeisten scheinen uns über­haupt nicht wahr­zunehmen, zumindest wirken sie, als gäbe es gar keinen Zebra­streifen, und keine Menschen, die dort warten, um über die Straße zu gehen. Und dann hält doch jemand an, tat­säch­lich, einer bremst, die Stoß­stange kommt immer noch sehr schnell näher, und ich staune wieder einmal, wie er es dann doch schafft, auf den paar verblei­benden Metern voll­ständig zum Stehen zu kommen, dann der hinter ihm, dann der dahinter, dann alle anderen. Wir gehen rüber … Manch­mal winken wir, um unseren Dank zum Ausdruck zu bringen, nein, Dank ist es eigentlich nicht, eher Anerkennung, ich sehe, dass es dich gibt, da hinter dem getönten Glas, und ich weiß, dass du uns gesehen hast und entschieden hast, auf uns zu reagieren, und darum reagieren wir nun auch auf dich.« (200)

Was heißt »die Schwerkraft über­winden«? Die Unordent­lichkeit der eigenen Existenz anerkennen, ihre Leer­stellen aushalten? Es scheint, als gäbe Heinz Helle darauf keine Antwort. Aber was, wenn das pro­gram­matisch ist? Drückt sich echte Abwesen­heit nicht am ehesten durch eine Anwesen­heit aus, die uns nicht genügt?
Es bleibt nur ein Abdruck, ein Umriss. Konturen ohne Inhalt.
Und auch eine Welt jenseits davon.

Text: Heinz Helle, Die Überwindung der Schwerkraft (Suhrkamp 2018)

Produktion: Holm-Uwe Burgemann

Hat Ihnen dieser Text gefallen? PRÄ|POSITION ist als gemein­nütz­iges Projekt der »Förd­erung von Kunst und Kultur« ver­pflich­tet. Das Koll­ektiv arbeitet allein für den Text. Doch ohne Mittel kann auf Dauer selbst Kultur nicht stattfinden. Werden Sie Freund:in von PRÄ|POSITION und unterstützen Sie uns über PayPal, damit auch komm­ende Texte lesbar bleiben.

#51 Heinz Helle: Die Überwindung der Schwerkraft

Im Rahmen unserer gemeinnützigen Arbeit nach § 52 Abs 2. Satz 1 Nr. 5 AO sind wir berechtigt, steuer­be­günstigte Zu­wendungen ent­gegen­zunehmen und darüber Zu­wendungs­bestätigungen auszustellen. Diese können Sie nach §10b EStG als Sonderausgaben bei Ihrer Steuererklärung geltend machen und erhalten so einen Teil des gespendeten Betrages zurück. Sollte das für Sie relevant sein, senden wir Ihnen diese im Anschluss an Ihre Spende gerne zu.