Leere denken bedeutet, die Gedanken selbst zu entleeren. Denn in der Leere ist nichts. Nichts außer die Bedeutungslosigkeit. Den Raum der Leere können wir nicht bewohnen. Wir können ihn nicht von innerhalb denken, sondern nur von außerhalb, stellen ihn uns vor als Leer___stelle, eine Lücke, die der Teufel lässt, um uns zu ärgern. Aber auch in einer nach-religiösen Welt gäbe es das: einen gegenstandslosen Ort ohne Material, eine Filmrolle, die auch in der Sonne ihre schwarz-braune Farblosigkeit behält. ISO 0.
Ein Ort ohne Halt und ohne Geschichte, der einzig durch Literatur kartographiert werden kann. Denn literarisch sehen, heißt auch – und vielleicht mehr als alles andere – der Sprache Umwege sehen. Wo bricht sie ab, wo weicht sie aus und zeichnet eine Ahnung, die nichts und niemanden mehr betrifft. Denn das Nicht-mehr-betroffen-werden-Können ist, was wir die Bedeutungslosigkeit nennen. Sie ist das Signum der Leere. Und wenn es ein Motiv gibt, das Heinz Helles neuer Roman, Die Überwindung der Schwerkraft, antastet, dann ist es dieses.
Der Moment, in dem wir reden, ohne etwas zu sagen, Sinn produzieren, der sich für den einen, um den es wirklich geht, verspätet und darum uns alle betrifft.
Heinz Helle berichtet vom Gespräch eines Brüderpaars, dass uns aus der Perspektive des Jüngeren erzählt wird, der Philosoph ist und Don DeLillo liest, wie Helle. Der Jüngere erzählt dieses Gespräch in ausufernden Rückblenden. Von Anfang an ist klar, dass der Ältere im Laufe dieses Buches sterben wird, ja, dass er bereits verstorben ist und nicht mehr zu retten sein wird. So erscheint dieses Buch gleichermaßen als Protokoll und Prolog eines absehbaren und darum umso schwerer wiegenden Verlustes. Das Andenken setzt ein, wo wir vom Tod wissen, ohne das Sterben zu kennen.
»Bald bin ich so alt, wie mein Bruder war, als er starb«, heißt es im ersten Satz. Eine Markierung, wie wir sie aus unseren eigenen Brüchen und Abrissen kennen. Ein Satz, der vergemeinschaftet, weil wir alle zu jenen gehören, die das Lebensalter – oder müssten wir es nicht Sterbealter nennen? – anderer passieren. Seinen trauernden Ton kann der Roman in seinem Verlauf nur an jenen wenigen Stellen überwinden, in denen das Brüderpaar sich Bier um Bier sediert und damit immer ein wenig auch uns. »Nach jeder Flasche warten wir eine Weile und lauschen, wie der Klang der Splitter verhallt.« Dies ist der letzte Satz und mit ihm erfährt das Gespräch, dass das letzte der beiden gewesen sein wird, so etwas wie eine bildliche Schließung. Für mehr als 100 Seiten sind Flasche und Glas Symbole für den Alkohol gewesen, der die Anzeichen eines schlimmeren, grundsätzlichen Leidens an der Welt und ihrer Aussichtslosigkeit verwischt hat und das mit ihm einhergehende Sprechen zum absoluten Nächsten (dem Bruder) für eine Zeit andauern ließ. Im Ende wird der Jüngere, seine Tochter fest bei der Hand haltend, leere Flaschen auf dem Boden des metallenen Glascontainers in jene Splitter zerbersten lassen, die in den Überresten der Erinnerung an den Älteren aufgehen.
Zwischen diesem ersten und letzten Satz gibt es keinen Weißraum. Ohne Absätze und Umbrüche, ohne Pause und ein wenig atemlos knüpft Helle einen Erinnerungsteppich, der Unterbrechungen kaum zulässt. Selbst dann, wenn man eigentlich gerne aufschauen würde, weil der Text unerträglich wird. So lesen wir im Bann des Schicksals auch Szenen, in denen der Ältere den sexuellen Missbrauch zweier achtjähriger Mädchen durch den Belgier Marc Dutroux schildert. Der unaufhörliche Textfluss, der Autor:innen wie Max Sebald ähnelt, ist entscheidend. Denn er zwingt der Leserin weniger solch explizite Grausamkeiten auf, als das Ringen um eine Aussicht, eine Hoffnung. Denn während die Geschichte in ihren Einzelheiten wenn nicht als belanglos dann doch in ihren zeitgeschichtlichen Referenzen als ein wenig gezwungen erscheint und ihr sprachphilosophisches Fundament zu bereitwillig preisgibt, so lüften diese Avancen nichtsdestoweniger, dass mehr verhandelt wird als das einzelne Unglück.
»Ich erinnere mich noch, wie ich für einen Augenblick dachte, dass dies vielleicht der Moment ist, in dem die informative Ebene unseres Gesprächs überlagert wird von der klanglichen, möglicherweise ging es ab hier nur noch darum, eine vertraute Stimme in bekannte Einheiten zu unterteilen und dieser Reihe von Einheiten durch ihre äußere, grammatikalische Ordnung den Anschein einer inneren Ordnung zu geben, die sie schon lange verloren hatte, ein als Rede getarntes, rhythmisches Summen, allerdings mit dem gleichen zutiefst menschlichen Ziel, das jeder Austausch von Zeichen hat, der Erzeugung von Nähe.« (55)
Vielleicht sind diese Passagen hier richtig, weil sie, zumindest für jene, die selbst (bisweilen auch nur unwissentlich) die Wirklichkeit semiologisch – Zeichen für Zeichen – interpretieren, eine Beschreibung für das Anrennen gegen die Bedeutungslosigkeit geben. Auch wenn diese noch chiffriert ist. Eine aufgeschlossenere Beschreibung desselben Gefühls lesen wir in den Worten des Älteren.
»Seiner Meinung nach sei es Jesu Christi größter und einziger und darum, weil er ja Gott war, unverzeihlicher Fehler, dass der das Wort ›ich‹ gebrauchte in seinen Gebeten und Verheißungen und die Menschen damit anfällig gemacht hat für die Illusion, sie könnten werden wie er, nur weil auch sie in der Lage sind, ›ich‹ zu sagen, und während die permanente Aufwertung des Einzelnen gegenüber der Macht selbstverständlich richtig und notwendig war, ist und bleibt, bedeutet die Beschränkung auf die subjektive Perspektive wiederum eine Vervielfachung genau des Leids, das minimiert werden sollte durch die Befreiung des Individuums, da alles, was ›mir‹ geschieht, eben auch zuallererst ›mich‹ schmerzt, ›mich‹ in meiner Entwicklung hindert, ›mich‹ kleiner macht, als ›ich‹ glaubte zu sein. Man hat dann gar keine andere Wahl, schrieb mein Bruder weiter, als zu meinen, dass sich die Schwerkraft gegen einen persönlich richtet, ebenso wie die Zeit, die Angst, das Vergessen, und man beginnt, zu übersehen, dass alle anderen ebenso diesem Sog ausgesetzt sind, diesem fortwährenden Weggezerrt-Werden vom Jetzt, diesem seltsamen Sturm, der einen immer einen Meter vor sich selbst stehen lässt …« (137–38)
Einige Seiten später erreicht den Älteren ein Brief des Vaters. Ihm sind Fotos beigelegt, darunter eines in schwarz-weiß, das eine Kette an Erinnerungen, an die russische Front, den Krieg und die Rhetorik der Gewalt, in Gang setzt, mittels derer der Roman auf seinen eigentlichen Gegenstand, die Abwesenheit aller Gegenstände, zuläuft.
»und all die Wörter, die man sich ausgedacht hätte, um zu beschreiben, was in solchen Situationen passierte, … all das sei nur nutzloses Blendwerk, um darüber hinwegzutäuschen, dass sich Menschen, die Berufe gelernt hatten, Köpfe gestreichelt und Münder geküsst, gemeinsam auf eine Wiese begaben, um ihre Körper von verschieden großen, verschieden geformten Metallteilen in Stücke reißen zu lassen und danach gemeinsam zu verfaulen, bis sie nicht mehr von dem zu unterscheiden waren, was sich in dem Moment, als sie ihren letzten Gedanken dachten, Vaterland, Gott oder Mama, in ihrem Darm befand. Diese Geschichte zeige doch ganz deutlich, wie mein Bruder nach einem tiefen Zug an seiner Zigarette anhob, dass unsere Sprache vor allem dazu da ist, um uns zu trösten und um die Leere zu füllen, die sich in uns ausbreitet, wenn wir merken, wir haben keine Ahnung, warum geschieht, was geschieht.« (148–49)
Das Gefühl, sich an nichts festhalten zu können, bezeugt Orientierungslosigkeit. Eine wie wir sie aus Räumen kennen, deren Wände nicht lotrecht sind und uns somit schief scheinen. Ohne Fluchtpunkt passen wir uns ihrer Schiefe an. Schauen wir dann aus dem Fenster, sehen wir eine Welt die – eigentlich gerade – sich uns ihrerseits nur schief darstellen kann. Die Überwindung der Schwerkraft drückt sich in dieser Abweichung von einer vorherrschenden Gerichtetheit, einem Glauben oder Urvertrauen, auf tragische Weise aus. Die Ungewissheit des Älteren ist gleichsam existenziell wie exemplarisch. Sie ist ein Generalzustand, der mit Blick auf die Schiefe der Welt durch den Roman keine beruhigende Antwort erhält. Keine Antwort jenseits des Scherbenhaufens der Erinnerung. Wer die Schwerkraft überwindet, schwebt bodenlos im All. Ein Sprechen, das sodann bedeutungslos ist, mag immer noch einen Inhalt haben – so wie es selbst der Inhalt dieses Buch ist –, doch leitet sie zu nichts an. »Irgendwer spricht, doch was er sagt, sagt er nicht von irgendwo her«, schrieb Foucault. Bei Heinz Helle spricht das Brüderpaar. Es spricht zueinander im Lichte des Leidens des einen. Aber ist ihr Sprechen wirklich oder nur pro forma? Sie sprechen einander an, doch die Worte, die Zweifel des Älteren erreichen den Jüngeren nicht. Der Jüngere versteht die folgenden Versuche der Wiederaufnahme des Sprechens nicht mehr genug und zeitigt des Älteren Ende.
Die Überwindung der Schwerkraft kennt keine narrative Pointe, die dem philosophischen Anspruch gerecht würde. Der Ältere stirbt, stirbt an einer physischen Krankheit. Die Geschichte bleibt anerzählt. Ein Jahr nach seinem Tod geht der Jüngere, seine Tochter fest bei der Hand zu jenem Glascontainer, an dessen Grund das Glas aufprallt und erklingt. Sie stehen am Zebrastreifen und warten.
»Die allermeisten scheinen uns überhaupt nicht wahrzunehmen, zumindest wirken sie, als gäbe es gar keinen Zebrastreifen, und keine Menschen, die dort warten, um über die Straße zu gehen. Und dann hält doch jemand an, tatsächlich, einer bremst, die Stoßstange kommt immer noch sehr schnell näher, und ich staune wieder einmal, wie er es dann doch schafft, auf den paar verbleibenden Metern vollständig zum Stehen zu kommen, dann der hinter ihm, dann der dahinter, dann alle anderen. Wir gehen rüber … Manchmal winken wir, um unseren Dank zum Ausdruck zu bringen, nein, Dank ist es eigentlich nicht, eher Anerkennung, ich sehe, dass es dich gibt, da hinter dem getönten Glas, und ich weiß, dass du uns gesehen hast und entschieden hast, auf uns zu reagieren, und darum reagieren wir nun auch auf dich.« (200)
Was heißt »die Schwerkraft überwinden«? Die Unordentlichkeit der eigenen Existenz anerkennen, ihre Leerstellen aushalten? Es scheint, als gäbe Heinz Helle darauf keine Antwort. Aber was, wenn das programmatisch ist? Drückt sich echte Abwesenheit nicht am ehesten durch eine Anwesenheit aus, die uns nicht genügt?
Es bleibt nur ein Abdruck, ein Umriss. Konturen ohne Inhalt.
Und auch eine Welt jenseits davon.
Text: Heinz Helle, Die Überwindung der Schwerkraft (Suhrkamp 2018)
Produktion: Holm-Uwe Burgemann
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