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#53 Giorgio Agamben

#53 Giorgio Agamben: Pulcinella oder Belustigung für Kinder

von Jarula Wegner

Giorgio Agamben liegt im Gras, blickt zu den Wolken auf und sinniert über sein Leben. Ent­gegen eines oftmals vermuteten aske­tischen oder ver­drossenen Gemüts, behauptet Agamben einen Hang zu Freude und Frohsinn. Vor dem eigentlichen Text heißt es, Agamben entwerfe in diesem Buch seine Lebens­ge­schichte. Merk­würdiges Paradoxon: Der Klappen­text spricht von einer Auto­biographie – Titel und Titelbild verweisen jedoch auf Pulcinella, eine Figur des neapolitanischen Volks­theaters.

»Jede Autobiographie ist an der Stelle, wo sie wahr wird, eine Biographie Pulcinellas. Aber Pulcinellas Biographie ist keine Biographie, sondern eine Belustigung für Kinder.« (130)

Dieser Satz suggestiert, dass wir mit der Autobiographie des italienischen Philo­so­phen Giorgio Agamben eben auch (nur) eine Belustigung für Kinder lesen, wenn sie denn, wie von ihm gesagt, wahr ist. Nicht nur in dieser komödiantischen Anspruchs­haltung weicht Pulcinella oder Belustigung für Kinder vom statischen Genre der »philosophischen Biographie« ab. Dieses war lange Zeit von Philosophen bestimmt, die im Selbst­auftrag akribisch die vermeintlich wichtigen Augen­blicke – von der ersten Kindheits­erinnerung bis zur letzten – in pädagogischer Geste vom Sterbebett aus zusammenfassten. So versuchte sich etwa John Stuart Mill im Jahr 1873. Agambens Beitrag unterscheidet sich auch von neueren Formen situativer Retro­spektion, in der ein Autor angesichts des drohenden Todes beginnt, die eigenen Erlebnisse und Gedanken aufzu­schreiben und damit Einblicke in das Privatleben gewährt. So etwa Stanley Cavell in Little Did I Know (2010).
Jacques Derridas autobiographischer Text Die Einsprachigkeit des Anderen (1996) kommt Agambens Beitrag am nächsten. Darin erklärt der Dekonstruktivist, worüber er in seiner Autobiographie geschrieben hätte, sofern er sie schriebe (was er also nicht tut). Er will zeigen, dass keine Auto­biographie, sondern immer nur eine Biographie möglich ist. Auch dann, wenn wir über uns selbst schreiben, schreiben wir über einen Menschen, der wir nicht sind. Agamben schreibt über sich als ein anderer und ebenso schreibt ein anderer über ihn. Und dieser andere ist immer schon er. Pulcinella und Agamben, Agamben und Pulcinella.
Um 1620 fügt der Schauspieler Silvio Fiorillo die Figur der Pulcinella dem Reper­toire der italienischen Commedia dell’Arte hinzu. Im selben Jahrhundert bringt der italienische Puppen­spieler Pietro Gimonde Pulcinella nach England, wo sie unter dem Namen Mr. Punch zu einer britischen Ikone wurde. Im 19. Jahrhundert erscheint sie zum ersten Mal als Kasperle in deutschen Puppen­theatern, wo sie bis heute besteht. Varianten der Figur wanderten auch nach Holland, Dänemark, Ungarn, Rumänien. Pulcinella war Modell für den französischen Pierrot, welcher bis heute als Pierrot und Pierrot Grenade eine wichtige Rolle im karibischen Karneval von Trinidad und Tobago spielt. Pulcinella erzählt eine Geschichte von Athen bis Kopenhagen, von Bukarest bis Port of Spain.
Agamben richtet sein Augen­merk dabei spezifisch auf die Pulcinellen des venezia­nischen Künstlers Giandomenico Tiepolo aus dem 18. Jahrhundert. Giandomenico war zu Leb­zeiten weit weniger bekannt als sein Vater Giambattista Tiepolo, der vor seinem ältesten Sohn bereits Zeichnungen zu Pulcinella anfertigte. Agamben zieht den schmutzigen und düsteren Dar­stellungen des Vaters jedoch die reinen und heiteren des Sohnes vor. Giandomenico verortet Pulcinella zudem weniger im Leben als im Mythos. Diese Unterschiede zwischen Vater und Sohn markieren eine Verschiebung von einer volkstümlichen Theater- und Kar­nevals­kultur zu den rationalistisch, indivi­dualis­tischen schönen Künsten. Giandomenicos Pulcinella verzeichnet nur noch geringe Anzeichen der Renaissance, während er bereits deutliche Züge der Mo­derne aufweist: Sein Körper zeigt gro­teske Merkmale, während dieser bereits ge­läutert und betriebsam handelt.
Für Agamben ist Pulcinella ein Aus­gangs­punkt des Philoso­phierens. Er ver­wen­det die mythische und theatrale Figur Pulci­nella, um die Gewöhn­lichkeit des Lebens der Menschen auszustellen. Pulci­nella ist tätig als Barbier, Holzfäller, Schnei­der, Koch, Hirt, Künstler. Pulcinella ist ein Jedermann. Pulci­nella agiert nicht mit paradiesischer Grazie, sondern erweist sich als unbeholfen. Pulcinella scheitert unent­wegt im Handeln wie im Sprechen. Pulcinellas schwarze Maske gibt nicht preis, ob er lacht oder weint. Agamben behauptet, dass man lacht oder weint, wenn man etwas nicht sagen kann. Pulcinella befindet sich daher noch vor der Sprache und vor der Handlung. Agamben interessiert sich für Pulcinella als eine Grenzfigur. Eine Figur zwischen Mann und Frau, Tier und Mensch, Leben und Tod, Weinen und Lachen. So hintertreibt Pulci­nella die Grenzen, löst ihre Verankerung und zeigt ihre Fragilität.

Er trägt eine Maske, hat aber darunter kein Gesicht; die Maske selbst wird substanziell. Pulcinella ist hyper­politischer Staaten­loser; das eine wegen dem anderen. Pulcinella kann nicht sterben und verhöhnt damit den Tod. Damit erweist sich die Figur als zeit­gemäß und (natürlich) als ebenso zeitlos.

Text: Giorgio Agamben, Pulcinella oder Belustigung der Kinder (Schirmer/Mosel 2018

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