Wir sind der Aufschub. Solange wir uns nicht entscheiden, für Gerechtigkeit einzutreten, dominiert das Recht und Gesetz der Macht. Auf Erlösung würden wir dann ewig warten.
Der Rücktritt von Benedikt XVI. Als gäbe es nicht Wichtigeres zu Beginn des Jahres 2018 zu besprechen als ein vor drei Jahren erstmals auf Deutsch erschienenes Buch des italienischen Philosophen Giorgio Agamben, das sich mit dem fünf Jahre zurückliegenden Rücktritt des letzten Papstes auseinandersetzt. Die Lektüre des schmalen Bands Das Geheimnis des Bösen. Benedikt XVI. und das Ende der Zeiten belehrt uns jedoch eines Besseren: Beginnend bei der Auslegung des zweiten Paulusbriefes an die Thessalonicher, führt uns das Büchlein auf 67 Seiten über die eschatologischen Implikationen der Zweiteilung des Leibes der Kirche auf das Zentralproblem unserer Zeit: »das der Gerechtigkeit, das ebensowenig wie das der Legitimität aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit verbannt werden kann« (30).
Wer heute von »Eschatologie« schreibt, muss sich erklären. Die theologische Lehre von den äußersten, letzten Dingen, also der Vollendung der Schöpfung, ist heute soweit aus unserem Horizont gerückt, dass sich das Böse zu einer eigenständigen Macht erheben konnte, wie Agamben schreibt (55). Dabei ist das Geheimnis des Bösen in Wirklichkeit kein theologisches Schauerdrama, sondern ein von drei Akteuren verkörpertes, historisches Drama in dem sich das Ende der Zeit als die Zeit des Endes, die Jetzt-Zeit erweist.
Der Aufschub (das katechon), der beim Rechtsphilosophen Carl Schmitt noch Grundlage politischen Handelns überhaupt gewesen ist, steht im Mysterienspiel der Lehre von den letzten Dingen im Zusammenspiel mit dem Gesetzlosen (anomos) und dem Messias. Nur wenn jeder Einzelne sich der Gerechtigkeit ebenso wie dem Recht verpflichtet (vergleiche hierzu Röm. 12–13), kann die Illegitimität und Unwirksamkeit von Gesetz und Macht sichtbar (52), und der Aufschub schließlich aufgelöst werden.
»Eine Gesellschaft funktioniert nur, wenn die Gerechtigkeit (der in der Kirche die genannte Eschatologie entspricht), keine bloße, dem Recht und der Ökonomie gegenüber wirkungslose Idee bleibt, sondern sich in einer Kraft politisch Ausdruck zu verschaffen vermag, die sich der fortschreitenden ökonomisch-technischen Nivellierung jener ihrem Wesen nach widerstrebenden, gleichwohl aufeinander bezogenen Prinzipien – Legitimität und Legalität, geistliche und weltliche Macht, auctoritas und potestas, Gerechtigkeit und Recht –, die das kostbarste Gut der europäischen Kultur bilden, entschieden entgegenstellt« (31).
So ist jeder Einzelne zur Verantwortung gerufen. Wir sind der Aufschub. Solange wir uns nicht entscheiden für Gerechtigkeit einzutreten, dominiert das Recht und Gesetz der Macht. Auf Erlösung würden wir dann ewig warten. So gilt es sich zu Beginn des Jahres 2018 zu entscheiden, ob es wirklich Wichtigeres gibt als die Lektüre dieses Buches.
Text: Giorgio Agamben, Das Geheimnis des Bösen (Matthes & Seitz 2015)
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