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#54 Giorgio Agamben

#54 Giorgio Agamben: Das Abenteuer. Der Freund

von Marcus Döller

Die Erfahrung der Freund­schaft zu machen heißt, die Erfahrung der Nähe zu machen, die sich nicht prädikativ aus­drücken lässt. Es ist die Erfahrung einer Sprach­losig­keit. Wie können wir von der Freund­schaft sprechen, wenn sich die Erfahrungen der Freund­schaft der Sprache ent­ziehen?

In der Liebe erfahren wir unsere Liebes­unfähigkeit. Diese »Erfahrung der Liebes­unfähigkeit« ist der Erfahrung der Liebe nicht ent­gegen­gesetzt, sondern macht sie in ihrem inneren Wesen aus. Die Erfahrung der Liebe zu machen heißt dann, mit der Un­fähig­keit der Liebe in der Liebe umzu­gehen. Die Unfähig­keit der Liebe als Erfahrung des Liebens besteht für Agamben im Verlust des Geheimnisses. Deshalb ist die Liebe für Agamben nicht mystisch, sondern ent­mysti­fizierend. Sie ist Verlust des Geheim­nisses. Nur im Verlust des Geheim­nisses, indem sich die Liebenden vom Geheimnis ab­wen­den, vermögen sie die Unfähig­keit ihrer Liebe im Vollzug ihrer Liebe zu bejahen.

»Mittels der sinnlichen Befriedigung, ›dem kleinen Mysterium des Todes‹ (wie die Alten den Schlaf nannten), versuchen die Menschen, ihrer Liebes­unfähigkeit Herr zu werden. Denn in ihr scheint die Liebe zu erlöschen, sich von uns zu verab­schie­den – jedoch nicht, wie bür­ger­liches Vorurteil zu wissen glaubt, durch Entzauberung und Traurigkeit, sondern weil die Liebenden in der Be­friedigung ihr Geheimnis verlieren, einander gestehen, dass sie kein Ge­heim­nis haben. Doch gerade in dieser beidseitigen Abwendung vom Ge­heim­nis, treten sie – oder der Dämon in ihnen – in ein neues, glücklicheres Leben ein, das weder tierisch noch göttlich noch menschlich ist.« (67)

Sich vom Geheimnis abzuwenden heißt, in ein Leben einzutreten, das sich den vor­ge­gebenen Bestim­mungen des Tierischen, des Göttlichen, und des Menschlichen ent­zieht. Ein glückliches Leben als Liebende zu erfahren heißt, das Unvermögen zu lieben und in der »Erfahrung zur Liebes­unfähigkeit« zu affirmieren. Indem die Liebenden in der Befriedigung das Geheim­nis verlieren, machen sie sich fähig, »ein neues, glück­licheres Leben« führen zu können.

»Der Dämon sei, wie es heißt, nicht Gott, sondern Halbgott. Aber Halb­gott zu sein, kann nur eins bedeuten: Potenz, Möglich­keit, nicht Wirklich­keit des Gött­lichen zu sein. Weil es aber das Schwerste ist, mit einer Potenz eine Beziehung zu unter­halten, ist der Dämon etwas, das unent­wegt verloren zu gehen droht, etwas, dem man um jeden Preis die Treue halten muss. Dichterisch ist das Leben, das in jedem Aben­teuer an seiner Beziehung nicht zum Akt, sondern zur Potenz, nicht zu Gott, sondern zu einem Halb­gott unbeirrt festhält.« (65–66)

Was heißt es, zur Potenz eine Beziehung zu haben? Zur Potenz eine Beziehung zu haben heißt, zu dem eine Beziehung zu haben, worin sich die Potenz verwirk­licht. Wie verwirklicht sich die Potenz? Die Potenz verwirk­licht sich in der Aktualisierung einer Potenz im Akt. Wie verwirklicht sich die Potenz in der Aktualisierung der Potenz im Akt? Die Potenz verwirklicht sich in der Aktualisierung der Potenz im Akt so, dass sie etwas verwirk­licht, was der Verwirklichung dieser Potenz im Akt entgegen strebt. Es ist die Potenz der Nichtpotenz – das Entgegen – in der Aktuali­sierung der Potenz im Akt.
Ein Leben ist dann dichterisch, wenn es sich auf das, was im Akt gegen die Aktuali­sierung der Potenz strebt, affirmativ aus­richtet. Dichterisch ist ein Leben, das dem Dämon die Treue hält. Wie kann ein dich­terisches Leben dem Dämon die Treue halten? Ein dichterisches Leben kann dem Dämon die Treue halten, wenn es sich dem Verlust und dem Abschied ausliefert.
Wir können nur zur Potenz eine Bezie­hung unterhalten, wenn wir die Potenz aufgeben und uns von ihr abwenden. Die Potenz zu aktualisieren heißt, die Potenz für einen radikalen Verlust und Abschied zu öffnen. Nur, wenn wir die Potenz aufgeben und uns von ihr abwenden, können wir der Potenz die Treue halten. Was heißt es, dem Dämon treu zu sein? Dem Dämon treu zu sein heißt, sich vom Dämon zu trennen und Abschied zu nehmen. Das Leben ist nur dann dichterisch, wenn es sich für das öffnet, was die Potenz von innen her auf ihr Anderes hin öffnet. Was öffnet die Potenz von innen her auf ihr Anderes? Die Potenz wird von innen her auf ihr Anderes geöffnet, wenn sie die »Potenz-nicht-zu« in der Aktualisierung des Aktes zur Geltung zu bringen vermag.
Ein Leben ist dann abenteuerlich, wenn es sich auf das, was im Akt gegen die Aktua­li­sierung der Potenz strebt, affirmativ aus­richtet. Abenteuerlich ist ein Leben, das dem Eros die Treue hält. Dem Eros die Treue zu halten heißt, sich für die »Erfahrung der Liebesunfähigkeit« in der Liebe öffnen zu können.
Die Überlegungen von Giorgio Agamben versuchen, eine Analogie zwischen dem Liebesakt und dem poetischen Akt her­zu­stellen. Liebe und Poesie haben gemein, sich für ein Unvermögen zu öffnen, das der Form des Vermögens, liebesfähig sein und dichtungs­fähig sein zu können, ein­ge­schrieben ist. Die Unfähigkeit, zu lieben, ist der Fähigkeit, zu lieben, immanent, weil die Bejahung von Liebens­unfähigkeit erst die Fähigkeit, uns auf Andere beziehen zu können, eröffnet. In der Fähigkeit, uns auf den Anderen beziehen zu können, bejahen wir den Verlust des Anderen, welcher dem Begehren innewohnt. Das gilt auch für die Vermögen von poetischen Akten der Dichtung. Aktualisiert der Dichter nur das, was er bereits kann, dichtet er nicht. Der poetische Akt findet erst in der Bejahung dessen statt, was noch unsagbar ist.
Deshalb braucht der poetische Akt, um sich zu ereignen, immer eine Über­schrei­tung der Regeln des gewohnten Redens. Dichter zu sein heißt deshalb, im strikten Sinne immer falsch zu reden, um neue Formen in der Rede zu begründen. Deshalb müssen Dichter können, was sie nicht können. Indem sie ihr Nichtkönnen affir­mieren, dichten sie. Dasselbe gilt für den Liebesakt. Liebender zu sein heißt nicht, die Konventionen dessen zu aktualisieren, was es heißt, Liebender zu sein (gemeinsam ins Kino gehen oder sich Sterne ansehen). Erst in der Überschreitung konventioneller Handlungsregeln findet ein Akt der Liebe statt. Deshalb affirmieren auch und ja gerade Liebende die Unfähigkeit, zu lieben. Beide, Dichter und Liebende, richten sich in ihrer Seinsweise auf das Neue hin aus. Wenn die Seinsweise des Subjekts sich auf das Neue hin ausrichtet, dann muss sie sich auch gegen das wenden, was es heißt, Subjekt zu sein, nämlich fähig zu sein und etwas zu können.
Der Essay von Giorgio Agamben ver­sucht, eine Spannung ausz­drücken, die das philoso­phische Denken in seinen Grund­festen auszeichnet. Einerseits ist die Philo­sophie selbst Freundschaft. Freundschaft ist nicht ein Thema der Philosophie, sie macht die Philosophie in ihrer Bestimmung aus. Zugleich aber ist die Freundschaft etwas, das sich nicht in der prädikativen Sprache des philosophischen Diskurses artikulieren lässt. Von der Freundschaft zu sprechen heißt deshalb, von dem zu sprechen, was sich der prädikativen Sprache entzieht.

»In jemandem einen Freund zu erkennen, bedeutet zugleich, ihn nicht mehr als ›etwas‹ erkennen zu können. Man kann nicht ›Freund‹ sagen, wie man ›weiß‹, ›deutsch‹, oder ›heiß‹ sagt – Freundschaft ist weder Eigenschaft noch Qualität des Subjekts.« (79)

Von Freundschaft zu reden heißt also immer, von etwas zu reden, das sich der prädikativen Struktur urteilsförmigen Redens entzieht. Jede urteilsförmige Rede aber bedarf der Erfahrung von Freundschaft, von der her der philo­sophische Diskurs über die Freundschaft seine Kraft gewinnt. Der philo­sophischen Rede geht eine Erfahrung voraus, die selbst nicht so beschaffen ist wie die phi­lo­sophische Rede. Die Erfahrung, die der philo­sophischen Rede über die Freund­schaft voraus geht, ist die Erfahrung der Nähe des Anderen. In der Erfahrung der Nähe des Anderen richten wir uns auf die Philosophie aus, ohne selbst schon philo­sophisch zu reden.
Die Erfahrung der Freund­schaft zu machen heißt, die Erfahrung der Nähe zu machen, die sich nicht prädikativ aus­drücken lässt. Es ist die Erfahrung einer Sprachlosigkeit. Wie können wir von der Freund­schaft sprechen, wenn sich die Er­fahrungen der Freund­schaft der Sprache entziehen? Wir können von der Freund­schaft sprechen, indem wir uns auf Texte beziehen, in denen die Erfahrung der Freund­schaft einen Ausdruck findet.

In einer Deutung von Aristoteles’ Bestimmung der Freundschaft skizziert Agamben die Freundschaft als eine Form des Mit-Empfindens. In diesem Mit-Empfinden drückt sich die menschliche Form des Zusammenlebens aus. Das Sein des Menschen verwirklicht sich im Miteinanderleben. Das Sein des Menschen ist das Miteinanderleben. Aber nicht als das Verfügen über den Anderen. Sondern als die Erfahrung der Unverfügbarkeit des Anderen im Miteinanderleben.

Text: Giorgio Agamben, Das Abenteuer. Der Freund(Matthes & Seitz 2018)

Produktion: Simon Böhm

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