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#66 Christian Kracht: 1979

von Simon Böhm

Lebenslänglich in einem chinesischen Straflager inhaftiert, schildert der Ich-Erzähler, was ihn dorthin gebracht hat, beginnend am Vorabend der Islamischen Revolution von 1979 in Teheran. Mit der Überlieferung dessen, was ihm zugestoßen ist, widersetzt er sich seiner vollkommenen Auslöschung.

Auf dem Weg nach Teheran sah ich aus dem Autofenster, mir wurde etwas übel, und ich hielt mich an Christophers Knie fest. Sein Hosenbein war von den aufgeplatzten Blasen ganz naß. Wir fuhren an endlosen Reihen von Birken vorbei. Ich schlief. Später hielten wir an, um uns zu erfrischen. Ich trank ein Glas Tee, Christopher eine Limonade. Es wurde sehr rasch Nacht. (17)

Am Vorabend der Islamischen Revolution von 1979 befindet sich Christian Krachts Erzähl­figur mit ihrem Lieb­haber und Lebens­partner in Teheran. Am Ende der Nacht wird Christopher tot sein. Sein Leidens­weg wird kurz gewesen sein, anders als der des naiv anmutenden Ich-Erzählers. Nachdem dieser, dem Rat­schlag des mysteriösen Mavro­cordato folgend, das im Umsturz begriffene Iran in Richtung Nepal verlässt, um dort zur Buße einen heiligen Berg zu unmrunden, wird er von der chinesischen Grenz­polizei im Gebirge fest­genommen und in ein Arbeits­lager in der Wüste verschleppt.
Die Schilderungen aus dem Lager­leben, die sich auf den letzten Seiten des Buches finden, sind so drastisch in ihrem Inhalt, dass die gelassen-naive Sachlich­keit der Erzähl­stimme eine uner­trägliche Spannung erzeugt. Sie lädt so freundlich zum Zuhören ein, sagt immerzu in ihrem Tonfall, dass alles doch halb so wild sei. Doch was geschieht, ist unerträglich, widert an, steht am Rande des Verstummens.

Die Maden waren tatsäch­lich die einzige Möglich­keit, an Protein zu kommen. Wir erkannten, daß sie sich in mensch­lichem Kot, der mit faulenden Kohl­strünken und Kranken­haus­abfällen angereichert war, am wohlsten fühlten; in diesem Nähr­boden vermehrten sie sich am schnellsten. [...] Liu, ein anderer und ich wurden beauftragt, den festeren Kot einmal am Tag aus den Latrinen zu holen. Wir nahmen dafür abends, wenn wir selbst uri­nieren mußten, einen Lumpen, bückten uns und schöpf­ten die dicke­ren Stücke, die immer oben schwammen, in das Tuch. (182)

Schauerlich am Gleich­maß der Erzähl­stimme ist vor allem die Tat­sache einer offen­bar noch immer nicht suspen­dierten Ratio. Strate­gien und Pläne erschei­nen auch dann noch sinnvoll, wenn sie das Auf­sammeln von Fäkalien zur Züchtung von Maden bein­halten. In diesem Zwang, zu solchen Schluss­fol­gerungen kommen zu müssen, um zu überleben, offenbart sich die Erniedri­gung.
Wie aber sich wehren? Widerstand braucht einen Adressaten. Eine An­klage, gegen welche zu revol­tieren wäre. An deren Stelle aber steht bei Kracht ein Vakuum. Eine der vielen Passagen, die von der Sprach­losig­keit erzählen, ist diejenige, die den Ich-Er­zähler nach seiner Gefangen­nahme durch die chine­sische Grenz­polizei zeigt.

Ich bekam Holz­pantinen, ein gelbes Baumwoll-­T-Shirt und einen kratzigen, schlamm­farbenen Schlaf­­anzug zugeteilt, der sich auf der Haut anfühlte, als sei er aus gepreßten Pferde­haaren herge­stellt. Ich war zwar etwas traurig, meine Filz­schuhe abgeben zu müssen, sie hatten mir gut gefallen, aber das Bitten half nichts. Es sei eben ein Teil der Regeln, wurde mir gesagt.
Man sagte mir aber nicht, was mit mir geschehen würde, ich vermu­tete jedoch, man würde mich bald aus Tibet wegschaffen, nach China selbst. Sonder­barer­weise wurde ich auch nicht verhört oder irgend­einer Straf­tat angeklagt, auf meine Frage danach hieß es, ich solle Geduld haben. (150)

Je weiter der Text fort­schrei­tet, desto häufiger wird der Erzähler in ähnlichen Passagen Besserung geloben und anfangen, Verständnis für seine Marter zu entwickeln, wenngleich dieses nie aus­buch­stabiert werden wird. Nie wird klar werden, weshalb genau die Maß­nahmen gerecht­fertigt sind, immer bleibt es beim plumpen Verweis darauf, dass die Regeln eben so seien, wie sie nun einmal sind.
Diese Form der anschmieg­samen Gefügig­keit erscheint uns auch im heutigen Alltag, dort aber oft maskiert. Etwa in Gestalt des gut gemeinten Self-Care-­Ratschlags, nur das zu kon­trollieren, was innerhalb unserer Einfluss­sphäre liegt. Freilich scheint daran zunächst nichts Verwerf­liches zu sein. Was wirklich außerhalb unserer Macht steht, können wir auch nicht verändern. Weit verbreitet ist wohl aber eine Fehl­bemessung dieses Einfluss­raums. Er ist viel größer als wir gemeinhin denken. Und es ist ja doch verlockend, sich enttäuscht von der schmerz­haften Wirklich­keit abzuwenden in dem Wissen, leider nichts daran ändern zu können. Dies gleicht einer Selbst­aufgabe. Und es scheint zunächst so zu sein, dass in Krachts Roman all dies auf die Spitze getrieben wird. Der Protagonist setzt sich nicht zu Wehr. Er vermag es nicht. Zu groß und zu radikal sind die Veränderungen, denen er sich gegenüber sieht. Zu bereit­willig findet er Wege, sich anzupassen.

»1979« erzählt eine Zeit der Willkür. Die Welt ist radikal diesseitig. Nichts ist mehr heilig. Wie aber sich behaupten, wenn es keine über­greifenden Ordnungen mehr gibt, keine Wahrheiten, an die zu appellieren Augen öffnen könnte. Der Erzähler scheint immer schon zu wissen, dass Wider­stand zwecklos ist. Es scheint ihm selbst in Momenten schlimmster Folter gar nicht so offen­kundig zu sein, dass seine Schmer­zen ein Un­recht anzeigen. Dass die Leer­stelle des Wider­stands dieser Figur dieselbe nicht als ver­bittert oder zutiefst pessi­mistisch ausweisen, sie vielmehr zu kindlichem Froh­sinn fähig ist, demonstriert folgende Szene der Ent­deckung eines Berg­sees bei der Wanderung zum Hei­ligen Berg im Himalaya.

Eines Nachmittags, die schnee­bedeckten Berge waren überquert, erreichten wir bei strahlendem Sonnen­schein das Ufer eines scheinbar unermeßlich großen, türkis­farbenen Sees. Ein scharfer Wind wehte über das Wasser und schob kleine Wellen vor sich her, die sich vor uns am Strand brachen. Wir warfen unsere Ruck­säcke hin, wickelten uns aus unseren Filz­streifen und sprangen, nur mit Unter­hosen bekleidet, in die eisigen Fluten. Es schien keine Fische, Krebse oder über­haupt Leben in dem See zu geben, keine Algen, nur frisches, klares Wasser. Man konnte bis auf den Grund sehen während des Schwimmens. Wir tauchten immer wieder unter, lachten, bespritzten uns gegen­seitig mit dem Wasser und scheuerten uns mit dem hellen Sand vom Grunde des Sees die Kruste der letzten Wochen von der Haut. Das Bad war wie eine Salbung. Ich hatte mich noch nie so sauber gefühlt, so zutiefst und im Innersten rein. (132)

Die Unsichtbarkeit allen Lebens, das, wenn auch nicht vernichtet, sich doch ins Mikros­kopisch-Einzellige verflüchtigt hat, befreit den Erzähler seiner­seits zur Lebendig­keit und zum Glück. Gefährdet und der Verschmutzung ausgeliefert scheint er vor allem dort, wo die Zwänge des Sozialen, die Regularien der Gesell­schaft auflauern. Menschen, so deutet Kracht in tief­schwarzem Humor immer wieder an, bekämpfen einander abstrakt, Feind­schaften sind systemisch gewachsen, nicht leiblich. Das Systemische aber ergreift den Leib, macht ihn sich zu eigen. Steckt ihn in Straflager. Iris Därmann spricht in diesem Kontext von body politics. Die zermarterten Körper sind eine politische Äußerungs­form. Das System, die Gesellschafts­form, all das mag abstrakt sein, die Wirkungen auf die Körper jedoch sind konkret. In diesen körperlichen Spuren zeigt sich nicht nur ein Widerstand gegen die Gewalt, die Körper selbst sind dieser Widerstand.

Die immer wieder auffallende Positions­losigkeit der Erzählfigur provoziert. Gewalt darf nicht einfach wider­stands­los bleiben. Vielleicht ist der Widerstand aber wie alles Lebendige im Bergsee nur ins Unsicht­bare, ins Verborgene verschoben. Man denke an das Kind, das der Zurecht­weisung durch ein Eltern­teil zwar mit Schweigen, aber vor Zorn funkelnden Augen lauscht. Die Wut gegen den Aggressor bahnt sich seinen Weg in den Blick, wo im Zweifelsfall eine Leugnung des strafbaren Gefühls durch eine Notlüge, mithin: wo eine Zuflucht möglich ist. Der Psychiater Hans-Joachim Maaz prägte für derartige Unter­drückungs­erscheinungen den Begriff Gefühlsstau, eine Blockade, die, wenn sie dauert, entweder zur Explosion oder zur Implosion führen wird. Im Gegen­angriff also oder in der Auto­aggression mit ihren Erscheinungs­formen der überzo­genen Selbst­kritik, der Selbst­geißelung und, womöglich ist dies die schlimmste aller Varianten, in der Betäubung jeglichen Fühlens.
Doch all dies sucht man in »1979« vergeb­lich. Der Ich-Erzähler weist eine Gefügig­keit auf, die in ihrer Naivität beinah an Gut­gläubig­keit erinnert. Überraschender­weise ist gerade dies ein Schlüssel zum Überleben und zwar in zunehmendem Maße, je schlimmer die Umstände werden. Die personale Integrität kann offenbar auf diese Weise gegen alle Angriffe und Folterungen, gegen jede Schikane, gewahrt bleiben. Folge­richtig bleibt der Erzähler bis zum Schluss, buchstäblich in den letzten Satz hinein, ein Ich-Erzähler.

Alle zwei Wochen gab es eine freiwillige Selbstkritik. Ich ging immer hin. Ich war ein guter Gefangener. Ich habe immer versucht, mich an die Regeln zu halten. Ich habe mich gebessert. Ich habe nie Menschen­fleisch gegessen. (183)

Kaum zu übersehen ist die Sorgfalt, mit welcher sich Kracht diesem Schluss­wort zugewandt hat. Sechs Sätze, davon beginnen fünf mit dem Personal­pronomen »Ich«, der erste in der Sechser­reihe aber eröffnet mit dem Indefinit­pronomen »Alle« und bezeichnet dabei keine unbestimmte Anzahl von Personen, sondern einen Zeit­raum, einen wieder­kehrenden noch dazu.
Zweifellos lassen sich viele Deutungen zu diesem Absatz anbringen. Eine scheint aber mit Blick auf die Über­legungen zum Widerstand geradezu zwingend zu sein. Das Ich hält sich durch. Und dass es sich aller Gewalt zum Trotz erhält, zeigt sich ausschließ­lich in der formalen Eben der Sprache. Denn inhaltlich wird gerade die Kapitu­lation erklärt, die Besserungs-­Ideologie verklärt, es ist die Rede von der guten Gefangen­schaft. Der aller­letzte Satz weist in die Zukunft, als würde die Erzählfigur das Ende schon kennen. Beinahe meint man einen Bruch zu spüren in der Stimme des Erzählers, eine Spur von wachem Sarkasmus, grimmig, als käme ein den ganzen Text über verborgen gehaltener Widerstands­kern der Selbst­behauptung final zum Vorschein.
Und dass sich das Ich zu erhalten im Stande ist, scheint auch in einem früheren Stadium der Gefangen­schaft bereits auf. Zu spüren bekommt die Wider­ständigkeit einer der chinesischen Grenz­polizisten, kurz nach der Verhaf­tung, als der Erzähler das Essen verweigert, das er zu diesem Zeitpunkt noch erhält. Freilich wird aber dies, ganz im gewohnt irritierenden Sinne, nicht als Protest gegen die Unter­drückung, sondern mit Verweis auf die Belastung für seinen Verdauungs­trakt erklärt.

Zu essen gab es eine Art eingelegten Rettich, der heftige Blähungen verursachte, weshalb ich nach zwei Tagen die Nahrung verweigerte. Ein Offizier bekam es mit der Angst, ich würde verhungern, bevor sie mich ordnungs­gemäß abgeliefert hatten, und schrie mich eines Abends an, nachdem ich den Rettich in dem Napf wieder nicht angerührt hatte, ich solle gefälligst essen. Als das Schreien nicht half, schlug er wütend die Hände mehrmals auf die Schenkel und stürmte hinaus. Eine Stunde später kam der Soldat herein, der mich rasiert hatte, er brachte eine warme fleisch­haltige Suppe in einer ordentlichen, ziselierten Schale und hölzerne Einweg­stäbchen. Er nahm den Blech­eimer mit hinaus, um ihn zu entleeren, und brachte ihn wieder zurück. Ich bat um eine Decke, aber es kam keine. (151)

Die Stimme des Ich-Erzählers weist in ihrem unerschütter­lichen Gleich­klang Ähnlich­keiten zu einem anderen neuzeitlich-­­naiven Helden auf: der Filmfigur Forrest Gump. Für den sympathischen Forrest und dessen Pralinen­schachtel-­Philo­sophie, wonach das Leben immer mit Überraschungen um die Ecke komme, die es dann stoisch anzunehmen gilt, hat der Film­kritiker Wolfgang M. Schmitt nur Kopfschütteln übrig. Vor allem problematisiert er die Vermengung von Geschichte und Politik mit dieser Philo­sophie der Schicksals­ergebenheit. Ummantelt von wohl­schmeckender Schoko­lade präsentiert sich so der Schrecken der politischen Ungerechtig­keit als etwas einfach Hinzu­nehmendes.
Doch im Unterschied zu Forrest Gumps Schicksals­ergebenheit, die diesem Erfolg um Erfolg beschert, erlebt Krachts Erzähler den denkbar schlimmsten Abstieg in eine Hölle der sozialen Iso­lation, totalen Aus­beutung, verbunden mit einer grotesk verscho­benen Attri­bution der Schuld an alledem auf sich selbst. Eine Flucht aus diesem Abgrund der Unmensch­lichkeit ist unmöglich. Der Wider­stand aber, der tatsäch­lich vorhanden ist, obwohl es lange nicht so scheint, und der sich durch den gesamten Text zieht, hat seinen besten Aus­druck in eben diesem Texte selbst. Mehr noch noch: Der Text und sein Fort­laufen, die Tatsache also, dass die Erzählung so lange weiter­geht, als schon so viel Schlimmes passiert ist, gerade darin besteht der Wider­stand. Krachts Erzäh­ler hat letztlich zwar den Eindruck, sein Ich zu verlieren und zu verschwinden.

Es gab in unserem Lager keine Ratten oder sonstige Nage­tiere, da diese selbst nichts zu fressen hatten und gar nicht überleben konnten. Lange suchten wir, heimlich, nach Spinnen und Skorpionen. Es gab keine. Nicht einmal Vögel waren am Himmel zu sehen, der Ort, an dem wir und tausende anderer Menschen lebten, war ausgestorben, so leblos wie die Ober­fläche des Mars. Wir waren ver­schwunden, es gab uns nicht mehr, wir hatten uns aufgelöst. (181)

Doch dieses Verschwinden betrifft nur die Erzähl­stimme, nicht die Erzählung. An den Rand der Ichlosig­keit vertrieben, behauptet sich die Erzählung als dasjeniges, was vom Ich gesehen und geschildert, was vom Ich bezeugt wird. Das Zeugnis der Marter steht gegen die Absolut­heit der Marter auf – selbst, wenn dieses Zeugnis wie wertungs­frei daherkommt, nüchtern und betäubt.
Als im ersten Teil des Romans die Iranische Revolution losbricht, läuft der Erzähler verwundert durch die Straßen von Teheran. Ohne absehen zu können, in welche totali­täre Vernichtungs­maschi­nerie er bald hinein­geraten wird, nimmt er intuitiv und mit poetischer Präzision vorweg, dass sich sein indivi­duelles Leben auflösen wird und alles, was bleibt, das Zentrum der Roman­sprache selbst sein wird: der geschrie­bene Text. Dieser ist das einzige, was zwischen den Vernichtungs­versuchen und seiner Auflösung als schützen­des Gebilde noch wacht, weshalb das Ende des Romans, als das Ver­schwinden der Schrift, mutmaß­lich auch das Ende des Erzählers bedeutet.

Ich lief stundenlang durch die riesige Stadt. Etwas Neues war geschehen, etwas völlig Unfaßbares, es war wie ein Strudel, in den alles hinein­gesogen wurde, was nicht festgezurrt war, und selbst diese Dinge waren nicht mehr sicher. Es schien, als gäbe es kein Zentrum mehr, oder gleichzeitig nur noch ein Zentrum und nichts mehr darum herum. (94)

Die mysteriöse Erscheinung des Persers Mavro­cordato, dessen Bekannt­schaft der Erzähler am Vorabend der Revolution macht, kleidet die Quasi-­Religiosität der naiven Erzähl­figur in die Worte »wide open« (60) und vergleicht ihn zudem mit dem Kelch Christi und der Schale Josefs von Arimathea. Er sei ein reines Gefäß, in das alles hinein­fließen könne. Auch der Text des Romans offenbart sich als ein solches Gefäß, alles aufnehmend, ganz gleich, um welche Grausam­keit es sich auch handelt.
Dies jedoch als einen Triumph zu begreifen, wäre verfehlt. Es ist kein hoffnungs­voller Widerstand, der Text ist keine letzte Bastion der Menschlich­keit, die der Verun­menschlichung den Spiegel vorhalten könnte. In Thomas Manns »Doktor Faustus« gibt es in Gestalt von Serenus Zeitblom eine Art Spiegel­figur von Krachts Erzähler. Zeitblom bezeugt die Verführung seines Freundes Adrian Leverkühn durch den Teufel und erblickt aber in dessen dunkelster Stunde das zum geflügelten Wort gewordene »Licht in der Nacht«, als eine Paradoxie der Dunkel­heit, die ihren Sinn wandeln und als Anfang einer besseren Zeit die Hoffnung selbst bedeuten kann.

»1979« zeichnet ein anderes Bild. Der Bruch, das Grauen erfährt bis zuletzt keinen Trost. Und vielleicht braucht es ja diese radikale Abkehr vom Tröstlichen selbst. Womöglich liegt in der Zurück­weisung aller beschönigenden Illusionen über eine verrohte Wirklich­keit ein Schlüssel zum Überleben in einer solchen Wirklichkeit. Denn Illusionen halten uns gerade davon ab, etwas an der Wirklich­keit anzuklagen. Wunsch­träume führen hinein in eine Sprachlosig­keit. Gerede mag es durchaus geben. Plappern. Aber in »1979« sitzen die Sätze wie Messerstiche. Dass dieses sprach­liche Zeugnis bis in die Lager­hölle der chinesischen Wüste hinein nicht abreißt, darin besteht der größt­mögliche Widerstand gegen die Unmenschlichkeit.

»Woher wissen Sie denn so genau um die Zukunft, Mavrocordato? Sagen Sie es.«

»Es ist ganz einfach«, sagte er, und dann drückte er meine Hand sehr fest. »Ich weiß es, weil es geschrieben steht.« (61)

Christian Kracht, 1979, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2001.

Produktion: Simon Böhm, Konstantin Schönfelder, Holm-Uwe Burgemann

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#66 Christian Kracht: 1979

»Auf der Ebene von gewaltsamer Enteignung und Disziplinierung entstehen ›Rückforderungen des eigenen Körpers gegen die Macht‹: ›Die Macht ist in den Körper vorgedrungen, sie sieht sich im Körper selbst Angriffen ausgesetzt‹, der darauf mit buchstäblichen body politics und widerständigen Praktiken antwortet« (Iris Därmann, Widerstände. Gewaltenteilung in statu nascendi, Berlin: Matthes & Seitz 2021, S. 52; Zitat innerhalb des Zitats von Michel Foucault: Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, übersetzt von: Walter Seitter, Berlin 1976, S. 106).

»Das Leben ist nicht nur bloße Existenz. Das Leben findet im Gesellschaftlichen, in einem ökonomischen, in einem politischen Kontext statt. Und diese Kontexte kann der Mensch sehr wohl verändern. Er muss nicht einfach so die Pralinen aus der Schachtel nehmen, die ihm angeboten wird. Man stelle sich einmal vor, man würde einem Sklaven mit dieser Haltung begegnen. Der Satz von der Pralinenschachtel wird fatal, wenn man ihn – wie es der Film tut – mit Geschichte und Politik verquickt. Das Änderbare wird dabei umgemodelt in das Schicksalhafte. Friss die Praline – oder stirb!« (05:29–06:11 im YouTube-Video)

Im Rahmen unserer gemeinnützigen Arbeit nach § 52 Abs 2. Satz 1 Nr. 5 AO sind wir berechtigt, steuer­be­günstigte Zu­wendungen ent­gegen­zunehmen und darüber Zu­wendungs­bestätigungen auszustellen. Diese können Sie nach §10b EStG als Sonderausgaben bei Ihrer Steuererklärung geltend machen und erhalten so einen Teil des gespendeten Betrages zurück. Sollte das für Sie relevant sein, senden wir Ihnen diese im Anschluss an Ihre Spende gerne zu.

Serenus Zeitblom beschreibt seine Hörerfahrung des letzten Musikstücks seines Freundes und Komponisten Adrian Leverkühn, der für musikalische Schöpferkraft seine Seele an den Teufel verkauft hatte: »Hört nur den Schluß, hört ihn mit mir: Eine Instrumentengruppe nach der anderen tritt zurück, und was übrig bleibt, womit das Werk verklint, ist das hohe g eines Cello, das letzte Wort, der letzte verschwebende Laut, in pianissimo-Fermate langsam vergehend. Dann ist nichts mehr, – Schweigen und Nacht. Aber der nachschwingend im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem nur die Seele noch nachlauscht, und der Ausklang der Trauer war, ist es nicht mehr, wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht« (Thomas Mann, Doktor Faustus, Frankfurt am Main: S. Fischer 2012 (Taschenbuchausgabe), S. 711).