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#65 Pier Paolo Pasolini: Ragazzi di vita

von Kristin Rampelt

»Wenn einer, der Verse, Romane oder Filme macht, in der Gesellschaft, in der er wirkt, auf Komplizität, Duldung oder Verständnis stößt, dann ist er kein Autor. Ein Autor kann nichts anderes als ein Fremder sein in feindlichem Land

Pier Paolo Pasolini – Wie lässt sich dem Menschen hinter diesem sonoren Namen, diesem Fremden in feindlichem Land, diesem Intellektuellen Pasolini, dem Homosexuellen Pasolini, dem Rebellen Pasolini, dem katholischen, sinnlichen, idealistischen, dem skandalösen, radikal – leidend – leiden­schaftlich verwickelten Pasolini, diesem Schriftsteller und Dichter von Romanen, Anthologien und Gedichtbänden in Dialekt, Verfasser von poetologischen, literaturtheoretischen, journalistischen Texten, Drehbuchautor und Regisseur, Kritiker der Künste, der Zeit, der Gesellschaft, und schließlich auch, doppelbödiger Grund dieses Textes, Autor von Ragazzi di vita (1955), angemessen nahetreten?
Pasolinis Texte und Bilder setzen zu. Brennen sich ein. Schmerzen. Sich mit ihnen auseinander­zusetzen bedeutet, sich durch eine Reihe von unauflöslichen Widersprüchen zu arbeiten: Pasolinis Selbstwidersprüche, die allzu schnell die eigenen werden. Man muss sich der grenzenlosen, schmerz­haften Radikalität seines Schaffens überlassen, um auf das hin geöffnet zu werden, was sich in diesen Extremen mitspricht. Um nach­horchen zu können, von wo das Zwischenzeilige der eigenen Reaktionen sich her­schreibt.
So will ich versuchen, mich über seinen ersten Roman, Ragazzi di vita, von meiner anfangs affirmativen, naiven, dann zunehmend skrupulös sich windenden Faszination für Pasolini mitnehmen zu lassen. In die offenen Fragen an seinen Text, seine Person, hineinzuwachsen.

Nicht, um schließlich an einem Punkt größerer Klarheit angekommen zu sein,

(wie einfach wäre das?)

sondern entzündet, angesteckt und darin auch verwundet von der Fähigkeit Pasolinis, die schmerzhaftesten und blindesten Flecken der Nachkriegs­gesellschaft bis in die eigene Person hinein offenzulegen, mit der vollen Involviertheit seiner schillernden Existenz.

Und um sich dann womöglich bewusst zu werden, was eigentlich von vorne­herein klar ist: dass sich Pasolini noch im Moment der größtmöglichen Nähe als mir Fremder entzieht, entziehen muss, damit seine scharfsinnige, durchschlagende, beißende Gesellschaftskritik nicht hinter den Schranken des Verständlichen eingezäunt und gezähmt wird.
Damit sie ihre politische, poetische, persönliche Kraft behält.

Die Sommermonate seiner Kindheit und Jugend verbringt Pier Paolo Pasolini in Casarsa della Delizia, dem Geburtsort seiner Mutter, einer kleinen Gemeinde im norditalienischen Friaul. In ihrer Kurzweiligkeit prägen diese Aufenthalte Pasolini stark, bilden, trotz allem, die einzige Konstante in einem von zahlreichen Stadtwechseln geprägten Heranwachsen.
Fasziniert von der archaischen, bäuerlichen, vorbürgerlichen Welt, die sich für den Dichter in Casarsa auch aus den fremden Klängen des friaulischen Dialektes herausspricht, widmet der damals Einundzwanzigjährige seinen ersten Gedichtband diesem scheinbar perfekten, unberührten sprachlichen ›Mutterland‹. Das Friaulische, bis dahin eine ausschließlich orale Mundart, wird in den Poesie a Casarsa von 1942 für Pasolini der poetische – und einzigmögliche – Weg, diesen Sehnsuchtsort

ca da l’aga,
diesseits der Gewässer

(des Tagliamento)

zur Sprache zu bringen und dichterisch zum Leben zu erwecken.

Durch das Bekanntwerden seiner Homosexualität, und einer damit zusammen­hängenden Anzeige aufgrund sogenannter ›obszöner Handlungen‹ im Jahr 1948, wird Pasolini nicht nur von der katholischen Kirche bloßgestellt, sondern auch aus der PCI, der Kommunistischen Partei Italiens, welcher er erst ein Jahr zuvor beigetreten war, ausgeschlossen. Er verliert seinen Job als Mittelschullehrer in Casarsa und sieht sich gezwungen, die Stadt zu verlassen.

Gemeinsam mit seiner Mutter zieht Pasolini 1949 nach Rom; es beginnen verunsichernde Jahre für den Dichter. –
Weit entfernt von seinem Idyll im Friaul, aus dessen paradiesischen Eden er qua seines (sexuellen) ›Andersseins‹ ausgestoßen wurde, lebt er, geplagt von Arbeitslosigkeit und in sehr bescheidenen, ärmlichen Verhältnissen, an den Peripherien der Ewigen Stadt. Erst durch die Hilfe eines Freundes gelangt er an eine Stelle als Mittelschullehrer in den borgate romane, den Vororten, den Elendsvierteln Roms,

dove vita significava malavita,
in einer Welt kaum unterschieden von der Unterwelt.

Aus diesen Erfahrungen heraus, der Desillusion, dem Schmerz, der in dem Widerfahrnis des Geächtetwerdens gesteckt haben muss, aber auch im Rahmen seiner Lehrtätigkeit in den borgate, und vor allem durch seine Liebesbeziehungen zu deren Bewohner:innen, reift seine politische und intellektuelle Haltung.
Seine Vorstellung vom Leben in den Vororten entwickelt sich zu einer Vision, die die Bezirke aus ihrer Randständigkeit heraus zu reinen, unkorrumpierten gesellschaftlichen Sphären erhöht, unberührt von Bildung und Moral und darin frei von der konservativen Werteordnung, die auch ihn selbst zunehmend in eine Ecke drängt.
In der Welt der borgatari, der Bewohner:innen der borgate, stößt Pasolini auf die Authentizität des Lebens, hält sie für die wahren, die wirklichen Italiener:innen, deren Gesichter (noch) nicht konformiert und verstellt sind durch die neue Macht, il nuovo potere, durch die unaufhaltsame und normierende Macht des Neokapitalismus, des Imperiums der Güter und des Konsums, die er als neuen Faschismus begreift, als nuovo fascismo.
Pasolini kostet von der sinnlichen, körperlichen Schönheit, die er in den Bauern des Südens, den Randständigen in den Elendsvierteln Roms, den ragazzi di vita entdeckt. Mit ihnen entwickelt er sich zu dem, »der er bis zu seinem Ende bleiben wird: Der Erzähler einer Welt, die er verschwinden sieht. ›Das Verschwinden der Glühwürmchen‹ als poetische Umschreibung für den Übergang einer bäuerlichen Welt in das Elend der Wohnsilos, die Verbürgerlichung der Subproletarier.«

In Rom, so könnte man sagen, liegt ein Anfang des noch im größten Erfolg ausgestoßenen Intellektuellen und seines Werks. Einer, der in den selbst Ausgestoßenen, in den Menschen des Subproletariats der römischen Vororte, eine Gegen­gesellschaft entdeckt, ein letztes Bollwerk gegen den Verfall durch die bürgerliche Kultur und den fortschreitenden Kapitalismus.
Es ist dieses Szenario, in das Pasolini mit seinem Roman Ragazzi di vita von 1955 eintaucht, das er durchwandert wie der Vergil der Göttlichen Komödie die Vorhöfe der Hölle.
Der Welt der borgatari romani setzt er ein sprachliches Denkmal – ihrem Kampf, den sie führen müssen, um in einer Gesellschaft zu überleben, die ihre Ausgrenzung erst produziert, die sie verdammt und dann vergisst, ausspeit, aussortiert wie Müll an den Rändern der Stadt.
Es ist ein Kampf, der mit allen Mitteln erfolgt, jenseits aller moralischen Regeln,

(jenseits aller bürgerlichen Regeln)

durch deren blinde Flecken sie als Mittellose erst zu Verbrechern gemacht werden:

Die vier lumpigen Lire, die er als Hilfsjunge des Fischhändlers verdiente, reichten nicht hinten nicht vorn. Wie soll man denn da als Junge noch ehrlich bleiben! Gabs irgendwo was zu klauen, dann klaute er, versteht sich, bei dem aufgestauten Appetit auf Knete, den er hatte! (156)

Der Roman öffnet seinen Blick auf die borgate romane, unvermittelt sehen wir in die »geschändeten Lebensbereiche der Machtlosen«, in die »Außenbezirke der Ewigen Stadt« direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, wie es der Übersetzer Moshe Kahn im Nachwort zur deutschen Ausgabe beschreibt.

Es ist nicht das monumentale, pompöse, nicht das feine, gebildete Rom, dessen Bilder wir kennen. Es ist sein Negativ, dessen Unterseite: die Unterwelt Roms in ihrer ganzen Marginalität, im Zustand ihrer ganzen wirtschaftlichen und moralischen Misere, die sich, vor den Augen der italienischen Gesellschaft und inmitten des wirtschaftlichen ›Aufschwungs‹, den, so formuliert es Alberto Moravia, »die Italiener auf seltsam spöttische Weise als ›Boom‹« bezeichnen, an den Rändern der städtischen Zentren – gleichwohl Symbole des Wohlstandes und des Fortschritts – ausbreitet.

Das römische Subproletariat der Nachkriegszeit, dem Pasolini sich verschreibt, von dem (aus) er schreibt, ist eine Schicht, Pasolini spricht gar von Kaste, die sich aus den Ärmsten der Ärmsten, den Mittellosen, den Arbeitslosen, den Wohnungslosen, Menschen am äußersten Rande des Existenzminimums, darunter eine stetig wachsende Zahl von Migrant:innen aus dem ländlichen Süden Italiens, zusammensetzt.
Sie sind es, die diese Ränder Roms bewohnen und in Ragazzi di vita zur Sprache kommen, deren obskure, missachtete Welt Pasolini zum Schauplatz seines Textes macht.
An diesen Rändern erstrecken sich

ausgedehnte Siedlungen mit Elendshütten, deren Anblick man von der Straße aus wunderbar genießen konnte. Sie bestanden aus lauter kleinen rosa und weiß angestrichenen Behausungen, mit Baracken, Bruchbuden, radlosen Wagen und Schuppen mittendrin, alles wahllos durcheinandergeschmissen, zum Teil über die Wiesen verstreut, zum Teil in malerischster Unordnung an die Mauern des Aquädukts geklatscht. (137)

Dort, inmitten dieser malerischen Unordnung, inmitten »Lawinen von Unrat und Abfällen, Häusern, die nicht einmal fertig, schon wie Ruinen aus­sahen, riesigen Schlammlöchern, Müllhalden« hausen Pasolinis ragazzi di vita.

Es ist die Gesellschaft, so Pasolini in einem Brief an seinen Verleger Livio Garzanti, »die das Leben der Jugendlichen (die durch den faschistischen Krieg wie Wilde aufwuchsen: als Analphabeten und Verbrecher), zu einem illusionslosen und unmoralischen macht und die auf deren Vitalismus ein weiteres Mal mit autoritären Mitteln reagiert, indem sie ihnen ihre moralische Ideologie aufzwingt«.
Pasolini wiederentdeckt in ihnen die bäuerliche Kultur, die er im friaulischen Idyll bereits verdichtete und idealisierte und projiziert sie auf die Protagonist:innen des Subproletariats.
In all ihrer fehlerhaften Menschlichkeit sieht Pasolini in ihnen authentische, von der aufkeimenden Konsumideologie noch nicht korrumpierte und darin vorbürgerliche Menschen, Engel in Gewändern des Teufels, die es, so seine pathetische, ja hochmütige Geste, zu verteidigen, deren Kultur es zu bewahren gelte.

Im Roman begegnet man diesen Menschen, aus denen sich noch in den lautesten Tönen ihrer gleichgültigen Leichtigkeit, der indifferenten Erwartungslosigkeit dem Leben und der Welt gegenüber ihr ganzes Leid mitspricht, »einer hungriger als der andere«, wie Alduccio, einer von ihnen, lachend, »mit einem ironischen Grinsen« feststellt.
Es sind ragazzi eines Kalibers wie Lenzetta:

War er nicht zu Hause, dann schlug er sich mit’n bißchen Arbeit (so wenig wie möglich) bei einem Fischhändler oder einem Straßenverkäufer durch, oder er filzte was von den Verkaufsständen oder in Straßenbahnen. Wenn ihm danach war, blieb er mit einem Lumpensack in der Peripherie zwischen Prenestino und Quadraro und suchte im Abfall nach Schrott oder Bleiresten. Aber das tat er nur selten, weil er vom Bücken Rückenschmerzen bekam, und außerdem kriegte er vom trockenen Staub einen so trockenen Mund, daß er sich mindestens ‘nen Liter Wein runterkippen mußte, um ihn zu desinfizieren. (110)

Oder Piattoletta, ein kleines, schmächtiges Kerlchen, der sich damit über Wasser hält, »morgens mit seiner Oma im Müllhaufen« herumzustochern, »auf stinkenden Wiesen und bei den Bruchbuden, wo die Abwässer der Universitätsklinik in den Aniene mündeten«.
Und auch Begalone:

Mit seinen schielenden Augen, seinen Sommersprossen und seinem roten Haar konnte sich Begalone für den Ausgekochtesten der ganzen Clique halten. [...] Er hatte sich die ganze Nacht um die Ohren geschlagen, zum Teil irgendwo in der Via Salaria geschlafen, zum Teil in der Villa Borghese, unter Ganoven und Schwulen, oder er war in der Straßenbahn, wo er die ganz besonders großen Trottel beklaute. (178)

Wie sehr die Schönheit, die Zärtlichkeit der Sprache doch täuschen kann, oder besser: wie schmerzhaft nah manchmal ihre Enden, ihre vermeintlichen Extreme beieinander liegen:

Unter seinen gelben Haaren hatte Begalone ein schönes gelbes Gesicht mit einem Stich ins Grüne, das seine rötlichen Sommersprossen angenehm betonte. Er war so kraftlos, daß nicht mal das Fieber ihm ein bißchen Farbe ins Gesicht pinseln konnte: und dieses Fieber hatte er jeden Abend, so an die sechs, sieben Striche über normal, seit er aus dem Forlanini-Krankenhaus entlassen worden war. Vor zwei, drei Jahren war er an Tuberkulose erkrankt, und jetzt konnte ihm niemand mehr helfen; ungefähr noch ein Jahr hatte er zu leben. (204)

Als ›Hauptfigur‹ neben weiteren Protagonist:innen, kann Riccetto identifiziert werden, der, mal sichtbarer, mal nebendarstellend und im szenischen Hintergrund, gleich einem Ariadnefaden durch die Welt der borgate führt, als neuer Vergil unseren Gang durch die pasolinische Hölle, durch das »Valle dell‘Inferno« der ragazzi begleitet, es gleichsam durchlebt.

Man lernt die ›Jungs von der Straße‹, wie Kahn Pasolinis ragazzi di vita übersetzt, nicht in ihrer psychologischen Tiefe kennen, sondern trifft in acht episodenhaften Erzählungen, die zwar einem chronologischen Zeitverlauf folgen, aber auch große Zeitsprünge, teilweise drei Jahre, bergen, mal den einen, mal den anderen und beginnt sie für ihre charakteristischen Eigenheiten zu lieben.
Borgo Antico etwa, mit seinem »kleinen Vogelgesicht«, der singen kann mit einer »Stimme [...], die zehnmal größer war als er selbst und so voller Leidenschaft, daß man ihn glatt für einen Dreißigjährigen hätte halten können«. Oder sein jüngerer Bruder Mariuccio, der die älteren Jungs, besonders seinen ältesten, »immer schweigenden« Bruder Genesio, voller Ehrfurcht bewundert, vergöttert, zu ihnen hochsieht, »als würde er eine Bergspitze ansehen«. Und auch Genesio selbst, der »herzensgut« war, aber, »von seinen Gefühlen und von seiner Zärtlichkeit hin und hergerissen, alles in sich verschloß und so wenig wie möglich sprach, um nur ja nichts von sich preisgeben zu müssen«.

Es bleibt eine fragile Liebe, verunsichert durch die in einigen Abschnitten aufscheinende Brutalität und Rücksichtslosigkeit der ragazzi, zu der das Leben sie zwingt – oder vielmehr: die sie als Antwort auf eine ignorante, bürgerliche Gesellschaft finden.

Das Leben ist bitter für den,
der zarte Füße hat
.

Amerigo, der nur für die kurze Dauer eines Kapitels, des titelgebenden Kapitels Ragazzi di vita – Jungs von der Straße, lebt, von Pasolini aber mit aller Deutlichkeit beschrieben und in Erinnerung gehalten wird, ist eine furchteinflößende, eine Skrupel erregende, und doch so verletzliche Gestalt:
Sein »praller Mund, der wie eine Wunde klaffte, die nicht eigentlich rot war, sondern vielmehr blau unterlaufen, und seine unzufriedenen Augen«, »seine kranken Augen«, trotz seines »Kadaverblicks« »mit einem zärtlichen Ausdruck in seinem finsteren Gesicht«, der aber nicht darüber hinwegtäuscht, »daß mit ihm nicht zu spaßen war«, dass er, »wacher und flinker als ein wildes Tier«, der »schlimmste Rowdy von Pietralata war«.

So folgt man den ragazzi, den »Rowdys«, den »Ganoven«, den »Hurenbolzen«, »Knirpsen und Jungs« in ihre Welt der borgate, folgt ihnen auf den Ab-Wegen ihrer kleinkriminellen Machenschaften, Diebstähle, Einbrüche und Betrügereien, mit denen sie ihr Überleben sichern, »den Appetit auf Knete« stillen.
Und man folgt ihnen bei ihren Streifzügen durch die Stadt, auf der Suche nach Vergnügung, einer günstigen Gelegenheit, dem »großen Ding«, Geld, Liebe, Sex, Spaß, immer auf der Suche nach etwas, »denn sich regen bringt Segen und wer sucht, der findet«.

Langsam ergibt sich ein Bild von ihrer Welt, »dieser beschissenen Welt«, in der Geld »Quell allen Vergnügens und aller Befriedigung« ist, aber auch Quell größter Enttäuschung, größten Leids. In einem unaufhörlichen Pendel zwischen Glück und Unglück, Gewinn und Verlust, einer kurzzeitigen Befriedigung finanzieller oder sinnlicher Art, auf die scheinbar zwangsläufig eine tragische Wendung folgen muss –

das Glück dieser Welt ist nur von kurzer Dauer
und Fortunens Rad dreht sich

– scheinen die ragazzi ihrem Dasein als Mittellose ausgeliefert, dazu verdammt, sich am Rande der Gesellschaft zu bewegen, außerhalb der kapitalistischen Logik, die auf Akkumulation beruht und die die Ausgeschlossenen als blinde Flecken in ihre Logik doch einschließen muss, um zu funktionieren.
Sie verstehen sich nicht als Opfer einer systemischen Schieflage, »wenn überhaupt, dann wollten sie sich eigentlich die Welt zur Brust nehmen, dieses ganze verrottete Menschenpack, das sich nicht so wie sie zu amüsieren verstand« – ein Menschenpack, eine Welt, welche sich um die borgatari einzig zu Wahlkampfzeiten schert, wenn sie für politische Zwecke instrumentalisiert werden können.

Nach den Poesie a Casarsa (1942) wird Ragazzi di vita (1955) Pasolinis zweite dialektale Station, mit der er seinen Kampf um den Erhalt der italienischen Dialekte fortsetzt, in denen er kraftvolle, lebensnahe und vielfältige Sprachen erkennt, kulturelle Schätze, die sich den unzählbaren, fließenden Lebensformen, der Vielgestaltigkeit der Welt zumindest anzunähern imstande sind.

Erst in Rom lebend stößt er auf den neuen, für ihn zunächst fremden Klang des Römischen, eine Sprache, die er genauso leidenschaftlich zu lieben und zu verinnerlichen beginnt, wie deren Sprecher:innen, die borgatari, und in deren Formen er hinabsteigt, in seine Protagonist:innen und deren Welt, um sie möglichst unvermittelt wiederzugeben.
Diese Sprache, die sie sprechen, folgt nicht dem altrömischen Klang der gebildeten Bourgeoisie. Es ist die Sprache der Bauern, der Arbeiter:innen, der Unterwelt, ein derber und dreckiger Ton, reich an Interjektionen und Vulgaritäten. Im Italienischen spricht sich darin das Warme, Breite, Offene, Ineinanderfließende der Dialekte des Südens mit. Aber auch die Verwurzelungen und Überbleibsel der bäuerlichen Kultur, aus der sich die Richtung Norden migrierenden Menschen in der Nachkriegszeit lösen, – auch sie heben sich in der klangvollen Semantik des Römischen auf.

Moshe Kahn, renommierter Übersetzer nicht nur von Pasolini, sondern auch von Primo Levi und Paul Celan (ins Italienische) hat sich 1990, erst knapp vierzig Jahre nach der Erstveröffentlichung, an die unmögliche Aufgabe gemacht, das Romanwerk des italienischen Dichters zu übersetzen – eine Aufgabe, die trotz aller Unmöglichkeit geglückt ist.
Besonders die Schwierigkeit, die würdevolle Eigentümlichkeit des römischen Dialekts, den Pasolini als Sprache seines Romans wählt, dessen Semantik in seiner Derbheit und Direktheit sowie den einzigartigen Klang in eine Form des Deutschen zu übertragen, scheint genauso produktiv wie unmöglich.
Und doch. Über die Abgründe und Aufgaben, das Aufgegebene zwischen einem Text und seiner Übersetzung, über die zeitlichen und sprachlichen Klüfte beider Werke hinweg ist das Einende (auch dieser Übersetzung) das Wagnis, das in dem Sprung liegt –

in diesemsprunghaften
Versuch, dieKluft
zu überwinden,
darin scheitern zu müssen,

aber doch einmal gesprungen
zu sein.

Es entsteht eine neue, eigene Realität, die den Mikrokosmos Pasolinis, seine sprachliche Welt, dem Blick auch deutschsprachiger Leser:innen kunstvoll öffnet.

Den Dialekt wählt Pasolini nicht nur für die Dialoge und direkte Rede der ragazzi. Auch die Beschreibungen des Erzählers zeigen sich immer wieder kontaminiert von den Sprechweisen der Jungs, dieser ausgekochten Hurenbolzen, als die sie sich, so transportiert es die Stimme des Erzählers, sehen und inszenieren.
Durch das Changieren, Gegenüberstellen, Vermischen und Kontrastieren zwischen Standardsprache und Dialekt entsteht ein eigener, teils absurd anmutender, teils komischer, auch zumutender, manchmal gewaltvoller und darin schmerzender Ton, in dem sich die lange, fließende Syntax einer literarischen Sprache mit Beschreibungen füllt, wie sie vielleicht nur die borgatari selbst, im Gespräch mit Pasolini, entstehen lassen können:

Der Morgen begann zu dämmern. Über den Dächern sah man Wolkenbänder, vom Wind zerfetzt und zertreten, der da oben so frei herumwehen mußte wie am Anfang der Welt. Unten dagegen ließ er nur ein paar abgeblätterte Plakate gegen die Häuserwände klatschen oder ein Stück Papier aufwirbeln und über abgetretene Bürgersteige und Straßenbahngleise fegen. Wo die Häuser auf der einen oder anderen Seite auseinandertraten oder an dem einen oder anderen Bahnübergang, die still wie ein Friedhof dalagen, oder auf Baugrundstücken, wo es nichts als Baustellen gab, mit Gerüsten bis zum fünften Stock rauf und verdreckten Wiesen drumherum, da konnte man den ganzen weiten Himmel erkennen: mit Tausenden von pustelgroßen Wölkchen wie Seifenblasen, die auf die benommen wirkenden, ausgezackten Spitzen der Hochhäuser in der Ferne niederflogen, in allen Formen und Farben: schwarze Tellermuscheln, gelbliche Pfahlmuscheln, türkisfarbene Lippenbärte, eidottergelb getönte Spucke, und ganz weit weg, hinter einem Streifen Himmelblau, durchsichtig rein und gläsern wie ein Fluß am Polarkreis, eine riesenhafte weiße Wolke voller Locken, frisch und ungeheuer groß, wie der Läuterungsberg im Fegefeuer. (159-160)

Es entsteht eine eigene Welt, in der der Erzähler, die italienische Sprache (ver)wendend, immer wieder als Beobachter durchscheint, kommentarhaft und im Dialog mit den ragazzi, im Wechsel und Ineinandergreifen der verschiedenen Sprechweisen. Unaufhörlich vertiefen sich entlang der Wölbungen und Kanten der Buchstaben und Wörter, zwischen den Zeilen und in den Leerstellen der Seiten die Grenzen der borgate, hinter denen sich in der Abstraktheit der Normsprache als Kontrapunkt zum Römischen nichts weiter als die Gesichtslosigkeit der bürgerlichen Normalität ausdrückt.

Im Italien der 1950er Jahre scheint es der Ton des Romans zu sein, der eine explosive Kraft entwickelt, auch vor dem Hintergrund der tradierten literarischen Konventionen des 20. Jahrhundert: die Artifizialität, der Konservatismus und Ästhetizismus in der italienischen Literatur, deren tradierte Sprechweisen Pasolini als überholt und inadäquat, reduktionistisch, bieder, abstrakt betrachtet, deren Komplizenschaft zum Faschismus er aufs Ärgste ablehnt und durchzuarbeiten versucht und deren Enge er durch das Spielen und Experimentieren mit neuen Sprechweisen wie den Dialekten in all seinen Werken ausreizen und durchbrechen möchte.
Noch vor der eigentlichen Veröffentlichung des Textes empören sich Buchhändler:innen, die die ersten Druckfahnen des Romans zu lesen bekommen, über die grenzenlose Vulgarität der Sprache, über ruchlose Sequenzen, die jegliche – zumindest ihre bürgerlichen – Moralvorstellungen aufs Äußerste übersteigen. Auf Druck seines Verlegers Garzanti sieht sich Pasolini zu einer harschen Zensur gezwungen, löscht die gefährlichsten Episoden, fasst ganze Kapitel zusammen, ersetzt die anrüchigsten Ausdrücke durch Pünktchen.
Trotzdem, oder gerade wegen des Skandalons, das den Text umgibt – neues Futter für eine sensationsgeile, konsumistische Gesellschaft, von deren Urteil Pasolini existenziell abhängig bleibt – wird der Roman bei seiner Veröffentlichung im Mai 1955 ein direkter Publikumserfolg. Knapp zwei Monate später, Mitte Juni, ist die erste Auflage vergriffen, wichtige Literat:innen beurteilen den Text positiv, sogar für den renommierten Literaturpreis Premio Strega wird der Titel vorgeschlagen, den er letztlich aber nicht erhält.

Doch auch die Negativkritik lässt nicht lange auf sich warten. Sie bildet eine immer lauter werdende Front, die Marxist:innen mit Vertreter:innen des bürgerlichen Establishments gleichermaßen verbindet und Pasolini in einen von da an bis zu seinem Tod nicht mehr abebbenden Sumpf an Verleumdungen, Gerichtsprozessen und destruktiven, ja vernichtenden Urteilen zieht:

»Über dreißig Prozesse

wurden

im Namen des italienischen Volkes

gegen Pasolini

geführt,

und seine Filme wurden

immer wieder

zensiert oder verboten«

– weiß der Autor und Kritiker Georg Seeßlen dazu anzuführen.

Gemäßigte Kritiker:innen der PCI werfen dem Text einen Mangel an moralischer Vision vor, der das kontinuierliche Engagement und die Verdienste der kommunistischen Partei – derselben Partei, so sei erinnert, von der Pasolini, sich selbst als Marxist in der Nachfolge Gramscis verstehend, wenige Jahre zuvor aufgrund seiner Homosexualität und unter dem Vorwurf ›moralischer Unwürdigkeit‹ ausgeschlossen wurde – im Einsatz für das Subproletaritat verkenne.
Ein noch viel schärferer Ton wird von anderen Marxist:innen und PCI-Anhänger:innen angeschnitten, die Pasolini unterstellen, »sein ureigenstes, morbides Interesse an Schmutzigem, Verworfenem, an Verwesung und Trübem auf das römische Subproletariat zu übertragen« und zu dem Schluss kommen, dass der Roman an »Verachtung, Gleichgültigkeit, oberflächlicher und verfälschter Kenntnis der Wirklichkeit und [...] einer genießerischen Lust an den widerwärtigsten Seiten einer komplexen, vielgestaltigen Wahrheit« kaum zu überbieten sei, wie es Kahn in seinem Nachwort zum Buch zusammenfasst.

Den Höhepunkt der Anschuldigungen bildet der gerichtliche Prozess, der Pasolini, ausgehend von einer Anzeige wegen »Verbreitung unzüchtiger Schriften«, von höchster Stelle, aus dem Büro des italienischen Ministerpräsidenten, trotz aller Kürzungen, trotz aller Streichungen und Bereinigungen noch im Juli selben Jahres, also ebenfalls unmittelbar nach der Veröffentlichung, gemacht wird und der sich über fast ein ganzes Jahr zieht. – Am Ende wird Pasolini freigesprochen, »weil die Veröffentlichung des Romans keinen Straftatbestand erfüllte«. Für die Dauer des Prozesses bleibt der Text aber konfisziert.

Fern dieser konservativen Verurteilungen scheint der Text bis heute an Schärfe kaum einzubüßen. Und vermutlich wählt Pasolini, Fremder in feindlichem Land, Radikalität als poetisches Mittel, um jegliche Konformität zu vermeiden, um sich nicht anzubiedern, nicht – nie – zu gefallen – einem System, dem er angehört, und welches er doch in seinen Wurzeln zu verändern sucht, einer Gesellschaft, aus der heraus er schreibt und von der er sich darin aufs Ärgste abzuspalten versucht, wobei sich das Bewusstsein über die Unmöglichkeit dessen und das Schmerzhafte dieser Erkenntnis aus all seinen lauten, leidenschaftlichen Gebärden, aus seinem gesamten Werk herauszusprechen scheint.

In Ragazzi di vita wird Pasolinis Blick auf die Gesellschaft unser Blick und unser dadurch »ein Blick der Beunruhigung, voller Beklemmungen, ein Blick, der sich am liebsten abwenden möchte«, heißt es im Nachwort des Übersetzers Moshe Kahn.

Und,

manchmal möchte man das Buch am liebsten zuschlagen

und nie wieder öffnen.

Man möchte wegrennen,

sich selbst verschließen

vor der Gewalt

inmitten der Gewalt,

die immer die Schwächsten,

die immer die Kleinsten

trifft.

Wenn der knirpsige Piattoletta gedemütigt, misshandelt und, als Gipfel eines wahnsinnigen, bösen Spiels, von »den Jungs, die eigentlich nicht mehr konnten, immer wilder tanzten und immer lauter schrien, nur um die Starken zu markieren«, an einen »Marterpfahl« gebunden und angezündet wird.
Oder wenn man von Alduccios Schwester liest; von all der häuslichen Gewalt, der sexualisierten Gewalt, die scheinbar selbstverständlich, kaum kommentierungsbedürftig in diese pasolinische Welt gehört, auch oder vielleicht gerade in die idealisierte Welt ›seiner‹ ragazzi.

Immer dann schlagen die Flammen der römischen, der pasolinischen Hölle hoch,

werden heiß,

so heiß,

so heiß,

dass

selbst noch beim

Lesen der

Körper ver

brennt.

Was ist es aber, was da im Inneren brennt?

Ist es allein der Schmerz der Ungerechtigkeit?

Der Schmerz über die Gewalt in der Welt, die Pasolini in seinem Roman auf teils unangenehmste Weise reaktiviert, immer wieder bespielt, exerziert, vielleicht sogar, könnte man ihm vorwerfen, genussvoll verherrlicht?

Bleibt der Text an dieser Stelle stehen?

Erschöpft er sich in bloßen

Darstellungen, der bloßen

Verherrlichung von

Extremen

– extremer Gewalt?

Sollte man das Buch also besser beiseitelegen?

– Der vermeintlichen Obszönität oder Amoralität wegen, die Pasolini von Seiten der ärgsten Kritiker seit jeher vorgeworfen wird, an der er sich labe, die er auch dem Subproletariat fälschlicherweise aufpfropfe, seine eigenen sexuellen Neigungen und Gewaltphantasien auf wehrlose Menschen übertrage, die sich dagegen nicht zu verteidigen wissen?

Oder, mit einem anderen Blick:

Steckt nicht in der Konzeptualisierung des römischen Subproletariats als eine Gegengesellschaft,
als eine Sphäre, die Pasolini als (noch) unberührt begreift, frei, nicht korrumpiert,

eine viel zu einfache Idealisierung?

Eine bloße Ästhetisierung von Armut und Mittellosigkeit?

Die Anbetung der Armen?

Ein nostalgischer Traum von einem, der an seiner Einsamkeit zugrunde ging, der nirgendwo einen wirklichen Rückzugsort fand, weder im friaulischen Idyll, noch in den römischen Vororten und am wenigsten in den kleinbürgerlichen Sphären, denen er qua Geburt doch angehörte, deren Privilegien er im Aufwachsen noch genießen konnte, die ihn aber durch sein ›Anderssein‹, das nicht auf die geraden, heteronormativen Bahnen des Normalen konformiert werden konnte, nie als zugehörig betrachten, denen er sich nie zugehörig fühlen konnte

– wollte?

Ist es also eine Flucht?

Flucht aus Selbstschutz?

Flucht in eine bäuerliche, religiöse, archaische Menschheit, in die rückwärtsgewandte Utopie einer Gesellschaft, die es nie gegeben hat und die es niemals geben wird?

Aus diesen Widersprüchen, der extremen Gewalt innerhalb einer utopischen Gegengesellschaft und der äußeren Gewalt, in der diese überwältigenden Zustände eingebettet sind, die wiederum auf uns, die Bürgerlichen, zurückführen, auf unsere Skrupel demgegenüber, welche plötzlich in einem anderen Licht erscheinen, spricht sich eine prototypische Spannung.

»Gewiss kann man sagen, dass es den Pasolinischen Subproletarier nicht mehr gibt und vielleicht nie gegeben hat. (Wir begegnen indes immer wieder Menschen, die an ihn erinnern.) Das ändert nichts daran, dass es eine prähistorische und präpsychologische, einfach eine präbürgerliche Existenzweise des Menschen gibt, und mehr noch, dass die destruktive Macht des Bürgertums eben darin zum Ausdruck kommt, dass es alles andere Menschen-Leben überlagert hat, außer

dem Wahnsinn,

dem Verbrechen

und der ›Fremde‹«.

Überlagert, ausgestoßen, aber als Außen doch an sich gebunden hat, in seiner dualen Logik des Entweder-Oder, des Wir-oder-ihr sogar an sich binden muss, um ex negativo das eigene Sein behaupten zu können.

Und vielleicht ist es ja das, um was es Pasolini geht: An den Menschen außerhalb des Bürgers zu erinnern. Daran, dass ›der Mensch‹ eine umstrittene und wandelbare Kategorie bleibt, die nicht aufgeht in der normativen Logik eines bürgerlichen Subjekts, das »männlich, weiß, urban, eine Standardsprache sprechend, heterosexuell in einen Fortpflanzungszusammenhang eingebunden sowie [...] Vollbürger eines anerkannten Gemeinwesens« ist.
Diesem vermeintlich universellen Standard des man of reason stellt Pasolini ein vor- oder besser außerbürgerliches Subjekt gegenüber: Das subproletarische Subjekt, das stielt, lügt, auch mordet; das uns in seiner Unverständlichkeit und Widersprüchlichkeit, die leicht als Schuld abgetan werden kann, an die Schuld unserer eigenen Existenz erinnert.

Wenn man nur gut genug hinhört.

Wenn man dem Knacken und Knirschen lauscht,

dem Reißen und Ratschen von feinen Rissen

– Auslassungen

in der einfachen Logik des Innen und Außen.

Geht es dann auch darum, zu fragen, welche Schuld schwerer wiegt?

In La sequenza del fiore di carta, Pasolinis Beitrag zu einem Episodenfilm namens Amore e rabbia, der 1969 auf der Berlinale uraufgeführt wurde, appelliert ein vielstimmiger Gott an eine lethargische Menschheit, die überzeugt ist von ihrer eigenen Unschuld. An die erste und existenzielle Schuld des Menschen, seinen Fall, erinnernd, wendet sich der polyphone, göttliche Chor an den Protagonisten Riccetto (ist es Zufall?):

Das ist es, was ich von dir will: Ich will von dir deine Früchte, deine ersten Früchte. [...] Die Früchte deines Wissens und deines Wollens.

Und was ist es, das du weißt, Riccetto?
Was ist es, das du willst?

Es ist wahr, du bist unschuldig, und wer unschuldig ist, weiß von nichts, und wer von nichts weiß, kann nicht wollen. Ich aber, der ich dein Gott bin, befehle dir, zu wissen und zu wollen. Es ist widersprüchlich, ich weiß, vielleicht sogar unauflöslich. Denn wenn du unschuldig bist, kannst du nichts anderes sein, wenn du unschuldig bist, kannst du kein Bewusstsein und keinen Willen haben.
Unschuld ist eine Schuld. Unschuld ist eine Schuld, verstehst du? Und die Unschuldigen werden verdammt sein, denn sie haben kein Recht mehr darauf, unschuldig zu sein. Ich kann denen nicht verzeihen, die mit dem glücklichen Blick der Unschuldigen inmitten der Ungerechtigkeiten und Kriege, zwischen all dem Blut und Schrecken verweilen. Wie dich gibt es Millionen von Unschuldigen auf der ganzen Welt, die lieber aus der Geschichte verschwinden wollen, als ihre Unschuld zu verlieren. Ich muss sie sterben lassen.

Unschuld ist eine Schuld, vielleicht die größte. –

Pasolini weiß um die Unmöglichkeit der Unschuld und verzweifelt daran. Sein Ideal eines unschuldigen Subproletariats als umstürzlerische Kraft, als paradiesische Gegengesellschaft, bleibt in einem unhintergehbaren Widerspruch gefangen: »wer unschuldig ist, weiß von nichts, und wer von nichts weiß, kann nicht wollen«.
Genauso aber löst sich auch die Unschuld der anderen, die verbrecherische Unschuld des (Klein-)Bürgertums, des Establishments nicht ein, das, wie der Protagonist in La sequenza del fiore di carta im Wissen, inmitten aller Ungerechtigkeiten der Welt, fröhlich summend sein Dasein fristet, unempfänglich für den Ruf des Anderen und unfähig, sich darauf zu ver-antworten.

In Ragazzi di vita ist es der Standbesitzer eines Käsewagens, der am deutlichsten daran erinnert, als er, »da er doppelt so kräftig war«, auf einen ausgehungerten Riccetto so »einzudreschen« beginnt, »daß er ihn, wenn die anderen Standbesitzer nicht herbeigelaufen wären, um sie auseinanderzutreiben, krankenhausreif geschlagen hätte«, »denn dazu glaubte er sich berechtigt«, hatte Riccetto doch zuvor aus Hunger eine Scheibe Käse geklaut.

Riccetto zog das Stück Käse schlapp aus der Hosentasche und hielt es dem anderen mit totenblassem Gesicht hin, während er gleichzeitig auf unklaren Rachegedanken herumkaute und seine Haßgefühle mit dem Blut, das aus seinem Zahnfleisch trat, runterschluckte. Dann, während sich die Ansammlung auflöste, zumal man die Angelegenheit wirklich vergessen konnte, verschwand er in der Menge zwischen den roten, grünen und gelben Ständen, zwischen Bergen von Tomaten und Auberginen, wo die Obsthändler ringsum so laut schrien, daß sie sich vornüber beugen mußten, heiter und zufrieden. (166)

Für die Unschuldigen liegt der Skandal des Buches nicht in der elenden Realität der römischen Peripherien, mit der sie nichts zu tun haben wollen, die ihre Sache nicht ist. Die ihre Sache nicht sein kann.
Die Angelegenheit beginnt für sie schon davor. Sie liegt in der Tatsache, dass darüber gesprochen wird. Sie liegt in der Tatsache, wie darüber gesprochen wird. Sie liegt in der Tatsache, die Menschen der borgate, mit all ihren Vorlieben und ihrer Kultur, zu Protagonist:innen eines Buches gemacht zu haben.
Denn solange die Verwendung des Dialekts auf die mimetische Nachahmung der ›unkultivierten‹ Bevölkerungs­schichten beschränkt bliebe, bewegten sich Schreibende auf sicherem Terrain.

In den Grenzen des Akzeptierbaren.

In den Grenzen des Sagbaren.

Auch in den Grenzen des Aussprechbaren:

Der Klang des Römischen führt die Kultivierten nicht nur auf moralische, sondern auch auf tonale Abwege, die sie kaum über die Lippen brächten.
In Ragazzi di vita wird der Dialekt zu einer Kunstsprache mit eigenem Recht, zur eigentlichen, literarischen Sprache.
»Die Würde, die man dem niedrigsten und unehrenhaftesten Teil der Gesellschaft damit verlieh, beleidigte die Rechtschaffenden und ihre Vorstellung von Literatur«, so schreibt es Vincenzo Cerami im Vorwort zur italienischen Ausgabe 2014.

Und auch heute noch erinnert uns Pasolinis Werk schmerzhaft an die Kehrseiten der Vernunft.

An die ungeheure Gewalt zivilisierter Formen von menschlicher Monstrosität, als die er die Bürgerlichkeit erkennt, als die er sie selbst erfahren hat. Ihren totalitären Charakter, der dazu imstande ist, ein ganzes Universum auszusperren, ein »Universum [...], das sich, grenzenlos weit, unterhalb der Ebene der bürgerlichen Kultur erstreckt«.
Dazu imstande, ihm selbst die Nacht, seine dunklen Stunden, die Schatten zu nehmen. Sie auszuleuchten, bis nurmehr der gleißende Schein der Vernunft fortdauert und selbst »ein winzig kleiner, verstaubter Mond« zum Komplizen werden kann, sein gefährliches, »ein unglaublich helles Licht auf die Wiese, die dunklen Büsche, die Steine, den Schotter und den Abfall« wirft, »die einzigen schattigen Stellen« der Welt der ragazzi.

Und Pasolini tut dies mit der ganzen Involviertheit seines körperlichen, emotionalen, widersprüchlichen Seins. Nicht immer spricht sich aus diesem Einsatz ein »wissenschaftlicher Stand der Information« heraus, eine Korrektheit oder Genauigkeit bis auf den letzten Grad. Umso mehr aber eine grundsätzliche Parteilichkeit und eine grenzenlose, »tiefe Anteilnahme«.

Ich liebe das Leben unbändig, verzweifelt, und ich glaube, diese Wildheit, diese Verzweiflung werden mir am Ende zum Verhängnis. Ich verzehre meine Existenz mit einem unersättlichen Appetit. Wie wird das alles enden? Ich weiß es nicht.

Es sind diese Worte Pasolinis, mit denen Wolf Wondratschek seinen bereits erwähnten Beitrag beginnen lässt.
Darf man es wagen, auf diesen Worten zu spielen, sie noch einen Schritt weiterzudenken?

Denn richtet man den Blick auf das Italienische, so lässt sich das bloße Nicht-Wissen-Können zu einem Nicht-Wissen-Wollen überschreiten.
Es trotz allem nicht wissen zu wollen. Darüber hinwegzugehen. In dieser Verschiebung, in dieser feinen Bedeutungsnuance stößt man einmal mehr auf die tragische, die unerhörte Spannung, die sich aus dem verstoßenen Dichter, seinem Leben und seinem Werk, bis heute herausspricht.
Pasolini weiß um die Fragilität seiner Existenz. Um die Gefahren des Außenseitertums. Er weiß um den Übertritt, die Schuld seines grenzenlosen Einsatzes. Und er fürchtet sich. Aber er hält sich darin nicht auf. Er geht hindurch. Er folgt dem Ruf des Wissens und Wollens.

Und was ist es, das du weißt?

Was ist es, das du willst?

Er wagt und verfehlt, macht sich schuldig – und veräußert sich, bis auf den Tod.

Come finirà tutto ciò?

Lo ignoro.

Es ist mir egal.

Pier Paolo Pasolini, Ragazzi di vita, Berlin: Wagenbach Verlag 2021.

Produktion: Kristin Rampelt, Giulia Romani, Holm-Uwe Burgemann, Simon Böhm

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#65 Pier Paolo Pasolini: Ragazzi di vita

Pasolini, Pier Paolo. Ketzererfahrungen. »Empirismo eretico«. Schriften zu Sprache, Literatur und Film. Übers. v. Reimar Klein. München: Hanser 1979, S. 254.

So beschreibt es Wolf Wondratschek in einem Beitrag im WDR.

»Un borghese non immagina nemmeno la chiusura e la sufficienza a se stessa di questa casta.«
Ein:e Bürgerliche:r kann sich die Geschlossenheit und Selbstgenügsamkeit dieser Kaste nicht einmal vorstellen.
Pasolini, Pier Paolo. Appunti per un poema popolare. In: Walter Pedullà (Hg.): La letteratura del benessere. Roma: Bulzoni 1968, S. 550-551.

»A rendere ›prosaica e immorale‹ la vita di questi ragazzi (che la guerra fascista ha fatto crescere come selvaggi: analfabeti e delinquenti) è la società che al loro vitalismo reagisce ancora una volta autoritariamente imponendo la sua ideologia morale

Seeßlen, Georg. Pasolini: Faschismus – Konsumismus – Katholizismus: Und eine Suche nach dem Leben. In: Studia Litteraria et Historica 10 (2021), 2574, S. 1-22.
Der bereits erwähnten Broschüre des Residenztheaters in München lässt sich eine Liste von 33 Anklagen entnehmen (22-23).

»Seit sie mit dem Sohn von Sor‘ Anita, der Obstverkäuferin, die an der Ecke wohnte, ‘n Techtelmechtel hatte, gab es bei Alduccio zu Hause keinen ruhigen Moment mehr. Sie mußte jetzt nämlich heiraten, aber der Sohn der Obstverkäuferin konnte sie inzwischen nicht mehr ausstehen. In der Nacht, als sie von zu Hause weggejagt worden war, hatte er ihr Gesellschaft geleistet und schlief mit ihr im Freien auf den Treppenstufen vor seiner Wohnung im Block III: aber nur, damit die Leute ihn sehen konnten. Nachdem sie dann kapiert hatte, daß sie schwanger war, hatten sie sich verlobt, obgleich seine Eltern genauso wie ihre davon nichts wissen wollten. Sie fühlte sich so gedemütigt, daß sie sich die Pulsadern mit einer Glasscherbe aufgeschnitten hatte, woran sie fast gestorben wäre. Und noch jetzt konnte man an ihren Handgelenken zwei schöne, frische Narben erkennen«. (203)

Seeßlen, Georg. Pasolini: Faschismus – Konsumismus – Katholizismus: Und eine Suche nach dem Leben. In: Studia Litteraria et Historica 10 (2021), 2574, S. 1-22.

Es handelt sich um einen von mir ausschnitthaft übersetzten Teil des Filmbeitrags, der in voller Länge auf YouTube zu finden ist.
Der Text im Italienischen:
»Ed ecco quello che voglio da te. Io voglio da te i tuoi frutti, i tuoi primi frutti. […] I frutti del tuo sapere e del tuo volere.
E cosa sai, Riccetto, e cosa vuoi, Riccetto? […]
È vero, tu sei innocente, e chi è innocente, non sa, e chi non sa, non vuole. Ma io che sono il tuo Dio ti ordino di sapere e di volere.
E contradittorio, lo so. Forse è anche insolubile. Perché, se tu sei un innocente, non poi non esserlo. E se sei innocente, non poi avere coscienza e volontà. […] Innocenza è una colpa, innocenza è una colpa, lo capisci? E gli innocenti saranno condannati, perché non hanno più il diritto di esserlo. Io non posso perdonare chi passa con lo sguardo felice dell’innocente tra le ingiustizie e le guerre, tra gli orrori e il sangue. Come te ci sono milioni di innocenti in tutto il mondo, che vogliono scomparire della storia, piuttosto che perdere la loro innocenza. E io gli devo far morire.«

Braidotti, Rosi. Jenseits des Menschen: Posthumanismus. In: Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung, 66 (2016), 37, S. 33-38.

Oder, wie Pasolini es in den Freibeuterschriften beschreibt: »wunderschöne bürgerliche Herren [...] mit feierlichen Bärten und hochgeehrten weißen Haaren, an Schreibtischen voll von Papieren oder in würdiger Haltung auf vergoldeten Stühlen: also die Väter der Privilegs und der Macht. Es gibt auch nicht den kleinsten Hinweis auf Väter, die Straßenkehrer oder Maurer, Bauer oder Bergarbeiter, Dreher oder Metallarbeiter, oder gar Diebe und Penner sind«. Pasolini, Pier Paolo. Freibeuterschriften. Die Zerstörung des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft. Hrsg. v. Peter Kammerer. Übers. v. Thomas Eisenhardt. Berlin: Wagenbach 2021, S. 37.

»Con il senno di poi si può dire che a far scandalo non fu tanto il lessico forte del libro, ma la dignità letteraria che veniva conferita alla parte più bassa e disonorevole della nostra società, cosa che offendeva i benpensanti e l'idea che essi avevano della letteratura«.

» ... das bäuerliche Universum (zu dem auch das städtische Subproletariat gehört); und auch die Welt der Arbeiter«. Pasolini, Pier Paolo. Freibeuterschriften. Die Zerstörung des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft. Hrsg. v. Peter Kammerer. Übers. v. Thomas Eisenhardt. Berlin: Wagenbach 2021, S. 152.

Pasolini, Pier Paolo. Freibeuterschriften. Die Zerstörung des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft. Hrsg. v. Peter Kammerer. Übers. v. Thomas Eisenhardt. Berlin: Wagenbach 2021, S. 152.

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Nachzulesen in einer Broschüre des Residenztheaters in München anlässlich des dort 2019 aufgeführten Stücks Eine göttliche Komödie. Dante <> Pasolini, die Textmaterial von Pasolini und über Pasolini – seine Ermordung 1975, Dante Alighieri als wichtigem Referenzpunkt seines Schaffens, Stellungnahmen von Zeitgenoss:innen und Gefährt:innen – verdichtet und eindrucksvoll konstelliert.

»Amo ferocemente, disperatamente la vita. E credo che questa ferocia, questa disperazione mi porteranno alla fine. [...] Io divoro la mia esistenza con un appetito insaziabile. Come finirà tutto ciò? Lo ignoro«.
De Giusti, Luciano. Pier Paolo Pasolini. Il cinema in forma di poesia. Pordenone: edizioni cinemazero 1979.