Nehmen wir an, es ist möglich, über das eigene Leben zu schreiben. Nehmen wir an, wir hätten über das eigene Leben geschrieben. Worüber schreiben wir danach? Auch wenn es in diesem Buch um die Kunst Edvard Munchs geht, kommt man an dieser Frage nicht vorbei, wenn man Karl Ove Knausgårds Werk kennt und sein So viel Sehnsucht auf so kleiner Fläche: Edvard Munch und seine Bilder liest. Jahre nach seinem autobiographischen Zyklus wendet er sich Munchs Leben zu und findet einen neuen Kontext für Reflexionen über künstlerisches Schaffen und Leben.
Was will dieses Bild von uns?
Es will nichts von uns. (30)
Karl Ove Knausgård schreibt über sein Leben. Er hat sein Leben festgehalten. Es handelt sich um sechs Bände mit dem übergreifenden Namen Min Kamp, von denen der letzte vor mittlerweile fast zehn Jahren auf Norwegisch erschien.
Dieser Umfang mag dazu verleiten, den Autor einer Trägheit bezüglich der Raffinesse des literarischen Motivs zu verdächtigen. Oder dazu, eine große Karte an Bedeutungsverbindungen, die ihn zu so einem Unterfangen geführt haben, zu vermuten. Vielleicht möchte man Knausgård auch als einen weiteren Auswuchs einer zeitgenössischen autofiktionalen Welle klassifizieren.
Man mag sogar so weit gehen, zu sagen, wer kann das denn nicht, nur über das eigene Leben schreiben, minutiös das abendliche Kochen und das Abholen der Kinder vom Kindergarten nacherzählen. Denn diese Tätigkeiten nehmen in vielen Abschnitten seines Lebens, die er beschreibt, ihre Zeit und Bedeutung ein.
Ich meine, warum schreibt man dann überhaupt?
Solch ein Projekt entfaltet eine retroaktive Wirkung, und das nicht nur im Leben des Autors. Wenn vorher genau diese Frage nach dem Grund des Schreibens mit einem Verweis auf den Kontrast zwischen gelebtem Leben der schreibenden Person und Literatur beiseite geschoben werden konnte, erhält sie, nun, erst nachdem jemand diesem Kontrast auf die Spur gehen wollte – oder musste –, eine wirkliche, weil subjektive, Relevanz.
Der nach Min Kamp schreibende Knausgård kann fragen: Warum schreibe ich?
Eine Antwort, die Knausgård in So viel Sehnsucht auf so kleiner Fläche eher beiläufig gibt, durch die sich das Buch aber durchaus lesen lässt, ist, dass da etwas Leeres ist in der Welt. Wir begegnen dieser Leere in der Kunst, versuchen, sie auszufüllen. In diesem Buch ist Munch der Vertreter solcher Kunst. Knausgård begegnet ihm im Versuch, die Leere zu füllen. Natürlich decken sich die verwendeten ästhetischen Formen nicht, denn Munchs »Sprache« ensteht aus Farbpigmenten, Leinwand, Pinselstrich. Aber es gibt in keinem Fall ein absolutes Adressieren der Leere.
Knausgård ist sich dieser Gratwanderung bewusst, wenn er Kunst als etwas beschreibt, dass keine Scham kennt und an der Grenze des gesellschaftlich Akzeptablen nicht halt macht. Gleichzeitig muss sie ihre eigenen Maßstäbe setzen. In Min Kamp hangelt sich Knausgård an der These entlang, dass es möglich ist, ehrlich über das Leben zu schreiben, obwohl Schreiben nicht Leben ist. Das ist erst einmal eine Projektion in die Zukunft: Es wird möglich gewesen sein, über das Leben zu schreiben.
Die Wahrheit dieses Satzes setzt aber voraus, dass verändert wird, was wir darunter verstehen, über das Leben zu schreiben. Es geht darum, dass sich das Leben selbst für diese Leere öffnet.
Denn Kunst befindet sich selbst in der Welt. Kein Beschreiben entkommt also der Leere der Welt: Es enthält die Leere der Welt, als sei die Leere transitiv. Es generiert die Leere aber auch erst.
Knausgård beschreibt die einzigartige Gefühlskraft, die Munchs Bilder der 1890er (die Bilder, die geläufig mit ihm assoziiert werden) ausüben, trotz oder gerade wegen ihrer ikonischen Elemente. Er bemüht sich aber, dies von einem bloßen Symbolismus abzugrenzen. In Bezug auf die Leere ist das hilfreich: logisch betrachtet setzt ein Symbolismus voraus, dass es da schon etwas gibt, das wir durch Symbole erreichen oder kommunizieren wollen. Aber was, wenn es erst rückwirkend durch etwas Erschaffenes möglich wird, von diesen Signifikaten zu sprechen? Wenn das Kunstwerk da ist, muss die Leere zuerst gekommen sein. Wenn wir sie adressieren, heißt das nicht, dass sie verschwindet. Selbst im Schreiben steht unser geschriebenes Leben nie ganz fest.
Übertragen auf Munch gab es erst durch seine Bilder, sein Zeigen, eine wirkliche Reaktion auf einschneidene Momente in seinem Leben, wie etwa den frühen Tod seiner Schwester, oder einen Hintergrund, vor dem er seine Einsamkeit ausdrücken konnte. Munch scheint die Bilder, die er zum Teil in mehreren Gemälden verwirklicht hat, über Jahre geradezu in sich getragen zu haben, schreibt Knausgård. Weit entfernt von einer symbolischen Bedeutung dieser Bilder zeigt das ihren sehr direkten Stellenwert im Lebens Munchs.
Eine Leere vor der Kunst gibt es also, streng genommen, nicht. Deswegen können wir die Leere, wenn wir sie in der Kunst erfahren, aber auch neu auf unser Leben beziehen. Die Unvollständigkeit des Schaffens lässt uns die Leere des Lebens erfahren. Etwas Erschaffenes konfrontiert uns erst mit der Leere, und dieser Impuls muss irgendwie beantwortet werden. Wenn ein Kunstwerk uns auf die Leere aufmerksam machen kann, ist die Vergangenheit nicht mehr festgelegt. Die Leere des Schreibens greift in die Leere des geschriebenen Lebens ein und öffnet sie für neue Bedeutungen.
Obwohl dieses Buch von Munch handelt, sind die Begegnungen mit seiner Kunst wie verzerrt durch den Fokus Knausgårds auf sein eigenes Leben: Es geht weniger um Munch, als darum, wie sich das Schreiben über Munch in Knausgårds Leben niederschlägt.
Damit bleibt er dem radikalen Potenzial seines Schreibens treu. Und muss deswegen auch die Leere, die Munchs Bilder bei ihm hinterlassen, mitadressieren. Munchs Errungenschaften, wie der Entwicklung einer eigenen visuellen Form, die über den Krohg’schen Naturalismus, einem Realismus, mit dem er aufgewachsen ist, hinausgeht, müssen noch einmal im Schreiben gelöst werden, denn:
[Die] Literatur [muss] erforschen, was spezifisch für die Literatur ist. (119)
Es wird aber auch klar, dass es eine eigene Kunst ist, jemanden wie Munch etwas in dem eigenen Leben gelten zu lassen. Wie, wenn Knausgård mit den zwei norwegischen Regisseuren Emil und Joachim Trier Munchs Haus in Åsgårdstrand besucht und die Steine im Garten als Bildmotive Munchs erkennt. Ein subjektiver Moment, in dem er versteht, dass Munch diese Straße, diese Umgebung oft gemalt hat. Es ist eine Sache, diesem Moment eine persönliche Bedeutung beizumessen, und eine andere, darüber zu schreiben.
Auch an anderen Stellen ist Knausgård ganz nah dran an einem solchen subjektiven Moment, und das ist sein Schlüssel zu einer Rekonstruktion von Munchs Leere. Ein Sich-in-die-Haut-versetzen, das eine eigenartige Unterstützung durch die Realität selbst erhält:
Unabhängig davon ist [Das kranke Kind] ein Schlüsselbild in Munchs Werk und ziemlich einmalig, weil der Bruch mit dem Paradigma so sichtbar ist, einen so großen Anteil am Charakter des Bildes hat, man kann den Kampf zwischen den beiden Räumen ja geradezu sehen, zwischen dem inneren, subjektiven und dem äußeren, objektiven. Man kommt ganz nah an den Arbeitsprozess heran, daran, was es heißt zu malen, was ein Gemälde ist, denn der Konflikt ist nicht gelöst, er bleibt offen: Das Fundament in der Kunst, zwischen Ausdruckswillen und Ausdrucksmittel, ist sichtbar. In Phasen, in denen ein einzelnes Paradigma herrscht, ist diese Grundlage nicht erkennbar, der Zusammenhang zwischen dem, was ausgedrückt wird, und dem Ausdruck an sich ist selbstverständlich, die Form wirkt ganz natürlich, wie bei der Form einer Hand oder eines Fußes besteht kein Grund, sie zu problematisieren. Hier, wo die Divergenz so groß ist, wird die Form zum Problem, und wir begreifen, dass sie es immer ist und niemals natürlich, niemals willkürlich ist.
Dennoch liegt die Größe des Bildes nicht hier, jedenfalls in meinen Augen nicht. Die Größe liegt in den beiden Gestalten und ihrer Beziehung zueinander, im zärtlichen Blick des Mädchens, wie sie, die sterben wird, tröstend oder aufmunternd die Mutter ansieht, die zurückbleiben wird und mit gesenktem Kopf und der Hand auf dem Arm der Tochter dasitzt. Das Fehlen eines einheitlichen Raums lässt die Gestalten an einem Ort zwischen dem Realistischen, mit der Wirklichkeit Verknüpften, und dem Ikonischen zurück, und macht sie beweglich, als gehörten sie im einen Augenblick dem Spezifischen, Persönlichen - es geht um dieses Kind und diese Mutter genau jetzt - und im nächsten Augenblick dem Generellen an, also dass es das Gefühl von Trauer, Verlust, Mut, von Versöhnung mit dem Tod und Leugnung des Todes ist, was hier eine ikonische Form hat. (100-102)
Auch wenn Knausgård uns die Bilder Munchs in unzähligen Details erfahren lässt, ist die Menge der Details sorgfältig abgewogen, sodass die Beschreibung nie überschwappt. Er muss nur beschreiben, was später wichtig gewesen sein wird. Wenn Min Kamp nacherzählend ist, ist sein Blick auf Munch vorerzählend. Die Farben eines Bilds mit ihren Nuancen werden beschrieben, die Texturen, die Munch mit dem Pinsel kreiert, dabei die Sprache selbst wie geschwungen.
Das hat zur Folge, dass unserer letztlich unvermeidlichen Wahrnehmung des Kunstwerks etwas vorweggenommen wird. Die beschriebenen Kunstwerke finden sich passenderweise erst am Ende eines jeden Abschnitts im Buch, nie den Text unterbrechend: das Ziel ist offensichtlich nicht, das Bild Stück für Stück zu analysieren, damit jeder, der liest, dieselben Schritte wie Knausgård macht, das Bild vor Augen. Wir folgen Knausgårds Nacherzählung, sein Munch konstruiert sich vor unserem inneren Auge, bevor wir mit dem wirklichen Bild konfrontiert werden, und sich dadurch nicht nur die Diskrepanz zwischen der Nacherzählung und dem Bild zeigt, sondern auch, dass Knausgårds Beschreibungen inhärent offen sind.
Das erste Bild […] Munchs, das für sich genommen bestehen kann, ist meines Erachtens ein anderes, das er als Zwanzigjähriger malt, Inger Munch in schwarz. Es ist ein schlichtes Portrait seiner Schwester Inger, in Halbfigur stehend, bekleidet mit einem schwarzen Kleid vor schwarzem Hintergrund, die Hände an den Seiten herabhängend, den Blick leicht nach links gerichtet. Sie ist sechzehn Jahre alt und hat sich in ihrem Konfirmationskleid fein gemacht, schon das verleiht dem Bild eine gewisse Atmosphäre, diese Kombination aus Jugendlichem und Feierlichem. (51-52)
Die Haut neben ihrem linken Auge, dort, wo sie auf den Wangenknochen trifft, ist von Tageslicht markiert, unsere Aufmerksamkeit wird unwillkürlich dorthin gezogen, zu diesem Feld, das sich nach innen zu einem Schatten unter dem Auge verdunkelt. (55)
Die Beschreibungen machen Munchs Bilder für kurze Zeit redundant, denn alle weitere Interpretation stützt sich nicht auf die Bilder selbst, sondern auf ihre Beschreibung. Durch Beschreibung versucht Knausgård, dem Medium Sprache gerecht zu werden. Das ist indirekt, aber erstmal genug. Denn schreibt man, dass die dunklen Farben und die Texturen Traurigkeit bedeuten, schaut man die Farben an und verbindet sie dann mit einem Bedeutungssplitter, findet keine Auseinandersetzung mit der konstitutiven Leere dieser Analyse statt. Eine wirkliche Bedeutung, wenn man davon hier sprechen möchte, trifft einen erst, wenn die Worte für die Bedeutung zunächst unklar sind.
Nicht, weil die Striche und Farben im Gemälde einen Bedeutungszusammenhang bilden, zu dem noch nicht durchgedrungen wurde: man muss diesen Zusammenhang vielmehr erst im Schreiben schaffen. Dieser Zusammenhang steht der Leere entgegen. Bezogen auf Min Kamp könnte man fast sagen, Knausgård macht, indem er sein Leben beschreibt, sein Leben zeitweise redundant. Das aber ist eine Art zu leben. Vielleicht schreibt er deswegen; vielleicht hat er deswegen nun über Munch geschrieben.
Text: Karl Ove Knausgård, So viel Sehnsucht auf so kleiner Fläche: Edvard Munch und seine Bilder, München: Luchterhand 2019
Produktion: Helena Lang
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