Es ist sein eigenwilliger Stil, der Martin Amis auszeichnet. Es ist sein Stil, der eine derartige Laudatio des literarischen Schwergewichts Daniel Kehlmann rechtfertigt, dem Autor von Die Vermessung der Welt und Tyll. Sie ist dem Essayband Im Vulkan in einem Vorwort vorangestellt. Für Kehlmann sind die Essays eine »Schule des Denkens, Schauens und Zuhörens, eine Impfung gegen Fanatismus und alle Arten geistiger Kurzschlüsse.« Er erinnert sich an seine erste Begegnung mit der Arbeit des englischen Romanciers, den er in den 1980er Jahren als »blendend helle Ausnahmeintelligenz« des politischen und literarischen Journalismus kennenlernte. Amis’ Essays waren für ihn schon damals »keine gängigen Gebrauchstexte, sondern […] deren Versionen aus einem Paralleluniversum der Brillanz und Perfektion«. Seit dieser ersten Begegnung prägen Amis’ Texte sein Denken. Es ist die unvergleichliche Klarheit von Amis, die er bewundert. Amis schreibe in »Blitzschlägen des Erkennens.«
Es handelt sich dabei weniger um eine analytische Klarheit. Sein Stil zeichnet sich nicht durch diese für gestandene Fachjournalisten typische, kühle Distanz zum beschriebenen Gegenstand aus. Im Gegenteil: Viele der ausgewählten Reportagen, Erlebnisberichte und Rezensionen Im Vulkan zeugen von der tiefen, hitzigen Betroffenheit und Anteilnahme des Autors. Amis schreibt durchweg anekdotisch und oft spekulativ. Damit schafft er eine Klarheit, mit welcher Charakter und Psyche der porträtierten Personen oder Gesellschaften erfasst zu werden scheinen. Ob längst tote Schriftsteller (Franz Kafka, Miguel de Cervantes), Politiker (Tony Blair, Angela Merkel, Donald Trump), Regisseure (Steven Spielberg, Brian de Palma), oder etwa die Windsors – mit jedem Essay bekommt der Leser für einen Moment das Gefühl, einen Einblick in die motivierenden Ängste, Hoffnungen und Bedürfnisse der vorgestellten Personen zu erhaschen und damit nicht Oberflächen, sondern Untiefen zu erkennen. Mehr noch, er wird unweigerlich die Verehrung (Nabokov, Updike), die Sympathie (Blair), die liebevolle Sorge (Rushdie, in geringerem Maße auch Capote) und die Verachtung (Trump, Bannon) für Amis‘ literarische Subjekte teilen. Denn Amis sucht sie nicht zu verstecken.
Amis macht seine Leser:innen mit seinen literarischen Subjekten vertraut, indem er diese wie die Figuren seiner Romane behandelt. Zwar beschreibt er Journalisten als »Draufgänger des Augenblicks« und ihre Tätigkeit als »immediate response«, was er auch für sich in Anspruch zu nehmen scheint. Doch hat man bei vielen seiner Porträts den Eindruck, sie seien (nur) erste Schritte im Prozess einer größer angelegten literarischen Recherchearbeit. Als würde Amis am Material der politischen Wirklichkeit prosaische Helden und Antihelden entwickeln wollen. Sein Augenmerk liegt auf den Konflikten und Widersprüchen der Charaktere. Dort, wo ihm das angestrebt vollständige Bild verwehrt wird, schließt er die Lücken mit Spekulation.
Ein Beispiel. In einem ZDF-Interview über Kreatives Schreiben meint Amis, der Schlüssel zu seinen Figuren sei stets deren Sexualität. Das ist für Amis-Leser keine Überraschung; tatsächlich dienen sexuelle Bedürfnisse, Vorlieben und Pathologien häufig als roter Faden bei der Entfaltung seiner Charaktere. So wundert es nicht, dass er auch bei diversen journalistischen Forschungsgegenständen das Liebesleben erforscht und das oft als Grundlage für Vermutungen über allgemeine Charaktereigenschaften dient. Die Sexualität Donald Trumps, schreibt Amis beispielsweise, sei von tiefer Unsicherheit geprägt. Trump sei »ein Glubscher, ein Grapscher, aber kein Zoter.« Über die Beziehung des 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika zu seiner Ehegattin schreibt er:
»Also bringt der POTUS die FLOTUS vielleicht hierher [zu einer Kundgebung, die Amis als Reporter für Esquire besuchte] mit, um von ihr ein Küsschen zu bekommen, eine Umarmung und einen Händedruck, was mittlerweile wohl das ganze Ausmaß seiner Bedürfnisse darstellt. Manche Leute (ich gehöre dazu) glauben, dass die Libido von Donald Trump lächerlich übertrieben dargestellt worden ist – nicht zuletzt von dem Bakterienhasser persönlich, als Eigenwerber und Duschraumaufschneider. Alles, was wir mit einer gewissen Sicherheit wissen, ist, dass er’s fünfmal gebracht hat.« (248)
Die Figur Donald Trump ist ein gutes Beispiel für das Eigenwillige des Amis’schen Porträtierens. Nicht, weil er Trump besser getroffen hätte als die anderen Personen in seinem Essayband. Sondern weil jeder regelmäßige Zeitungsleser auf beiden Seiten des Atlantiks seit nunmehr drei Jahren mit Erklärungsversuchen der Person und des Phänomens Trump bombardiert wird, und so reichlich Vergleichsmaterial im Hinterkopf hat. Im Vulkan enthält zwei Essays über Donald Trump. Eines, das Amis unmittelbar vor der Präsidentschaftswahl über ihn schrieb, und eines in der Retrospektive, als die Wahl Trumps bereits »peinlicherweise Geschichte« war. Im ersten Essay (über Trump als Präsidentschaftskandidaten) liefert Amis eine »psychologische Untersuchung«, welcher die Bücher »von« Trump (seine Autorenschaft in ihrer Entstehung ist umstritten) als Beweismaterial zugrunde legt. Die Untersuchung dreht sich um Trumps kennzeichnenden Eigenschaften als Geschäftsmann, die »offene Frage […] nach seiner geistigen Gesundheit«, seine bereits angedeutete Beziehung zu Frauen – kurz, um die Charaktereigenschaften, auf deren Grundlage Prognosen über eine mögliche (nach Amis allerdings sehr unwahrscheinliche, man bedenke die bloße Tatsache, dass auch Frauen wählen) Trump-Präsidentschaft getroffen werden könnten.
Trump als Geschäftsmann, so resümiert Amis die Selbstdarstellung des Moguls in dessen The Art of the Deal, zeichnete sich aus durch »Dreistigkeit, Hartnäckigkeit, Geduld, eine keinerlei Peinlichkeit empfindende Vordrängelei, […] eine kluge Abneigung gegen die Investition von eigenem Geld« und ein ausgeprägtes »Sensorium für Schwäche«. Er habe eine »Krokodilnase für hilflose, möglichst schon todgeweihte Beutel.« Mit Blick auf die geistige Gesundheit fragt sich Amis, ob Trumps »Lügerei lediglich zwanghaft, oder er schlicht ein Mythomane [ist], seiner Anlage nach unfähig, zwischen Unwahrheit und Wahrheit zu unterscheiden«. Amis unterstreicht die häufig geäußerte Vermutung, Trump leide an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Trumps Selbstwahrnehmung gehe »weit über alltägliche Egozentrik und Selbstbezogenheit hinaus«.
Zu diesen Eigenschaften geselle sich laut Amis ein mit der Erfahrung wirklicher Macht »vor kurzer Zeit eingetretener moralischer Verfall«, welcher einen Hang zur Brutalität und Gewalt hervorgebracht habe. Dieser äußere sich bei seinen »an Nürnberg erinnernden Wahlkampfveranstaltungen« und seinem Wahlkampfbuch Great Again. »In seiner emotionalen Primitivität und intellektueller Barbarei wäre das Trump-Manifest ein recht gelungener schlechter Scherz«, in der Androhung von Massendeportationen, Folter und mörderischen Kollektivstrafen. Auf der Grundlage des entschlüsselten Potpourris toxischer Eigenschaften prophezeit Amis schließlich warnend, „dass nach ein paar Tagen des pomp and circumstance im Weißen Haus Trumps Hirn nichts anderes mehr wäre als ein einziger Testosteronsumpf.«
Nach der Wahl Trumps widmet sich Amis wie Geisteswissenschaftler, Journalisten und viele weitere angekratzte Gruppen professioneller Glaskugelgucker der Erklärung der »Trump-Infusion«, also des »seltsame[n] Prozess[es], bei dem der ganz und gar gefühlskalte Plutokrat dem abgewrackten Proletariat Mut injiziert.« Seine Erklärung liefert er in einem zweiten Porträt, einer weiteren psychologischen Untersuchung. Dieses Mal interessiert ihn die Basis Trumps, welche er auf einer Kundgebung des neugewählten Präsidenten studiert. Über die Unterstützer schreibt Amis:
»Sie sind weiß, heterosexuell und männlich, und sie haben festgestellt, dass das Prestige des Weißen, Heterosexuellen, Männlichen auf unerklärliche Weise abgenommen hat.« (222) /// »Die Welt beschleunigt sich, und die Trump-Getreuen stehen mit laufendem Motor still, kurz davor, unversehens den Rückwärtsgang einzulegen.« (257) /// »[d]er Sturz der Republikaner in die Psychose begann in der Wahlnacht 2008 […]. Horrible dictu, doch etwa jeder dritte Amerikaner erträgt einfach nicht, dass ein schwarzer Mann im Weißen Haus sitzt.« (254)
So schreibt Amis: beißend, witzig, ironisch, gezielt übertrieben. Die Porträts Trumps und seiner Unterstützer zeigen exemplarisch (obwohl sie mit ihrem vor Verachtung triefenden Ton in der Essay-Sammlung ansonsten eine Ausnahme darstellen), worin die Eigenwilligkeit der Amis’schen non-fiction liegt. Amis traut sich selbst Einblicke in und Behauptungen über das Innenleben seiner Gegenstände zu, vor denen andere Reporter zurückschrecken. Er bewahrt sich auch bei Reportagen, Rezensionen, Reiseberichten und anderen Sachtexten eine großzügig ausgelegte Freiheit, die er aus seiner Haupttätigkeit als Romancier gewohnt ist. Auf die Spitze treibt er es bei seinem Reisebericht über die sogenannte Flüchtlingskrise in Deutschland. Er entschied sich in »Oktober« dazu, keinen Essay zu schreiben, sondern seine Geschichte über die Krise als Story zu veröffentlichen. Aus der Erzählperspektive eines fiktiven Autors schildert er die von der Flüchtlingskrise direkt oder indirekt berührten (und ebenso fiktiven) Schicksale, mit denen er auf seiner Buchtour konfrontiert wurde. Die Figuren und ihre Einstellungen zur Politik und den Neuankömmlingen erschuf Amis also mit seinen eigenen Erfahrungen und Interaktionen, verbleibt aber nicht bei ihnen. Sie dienen als Archetypen für die (Extrem-)Positionen auf dem Spektrum der öffentlichen Meinung. Auf die Frage, warum er sich für diese fiktionalisierte Form der Verarbeitung seiner Erlebnisse entschied, newyorker.com/books/page-turner/this-week-in-fiction-martin-amis-on-europes-crises text: antwortete Amis):
»Even the dullest journey resembles a short story: beginning, middle, end, with the traveller displaced and, we hope, alerted. And this particular journey was unusually interesting and unusually disturbing. I briefly considered writing a think piece of some kind, but I wanted the singular freedom offered by fiction. As the story evolved, it seemed to demand that I give some impression of my own life—my life not as a writer but as a son, a husband, and a father.«
In »Oktober« greift Amis auf eine literarische Form und Methode zurück, die er in seinem Essay über Truman Capote und dessen Roman Kaltblütig als »non-fiction fiction« ausweist. Hier dienen dem Schriftsteller reale Ereignisse als Grundlage seiner Erzählung. Sie zu fiktionialisieren, befreit den scribbler von den technischen Grenzen der journalistischen Arbeit, erlaubt einen weitaus fantasievolleren und kunstreicheren Einsatz der Fakten. Für Amis kommt bei der Entscheidung für diese Form wohl hinzu, dass sie ihm im Kontrast zur klassischen Reportage die Möglichkeit eröffnet, seine Position zur Flüchtlingskrise mit der »moralische[n] Fantasie, [der] moralische[n] Kunstfertigkeit« auszustatten, welche er bei Capotes Kaltblütig vermisst.
»Oktober« ist die einzige story, der einzige entschieden literarische Text in der Essaysammlung. Als »non-fiction fiction« ist sie in gewisser Weise aber auch nur die Steigerung und Umkehrung der Methode Amis’. Viele der weiteren Essays und Reportagen (etwa das über Trump) könnten als »fictive non-fiction« oder zumindest als »creative non-fiction« bezeichnet werden. In beiden Fällen bricht Amis mit den etablierten Praxen von Journalisten und Schriftsteller, und die Grenzziehung zwischen journalistischer und literarischer Arbeit verschiebt oder gar aufweicht.
Amis’ Schreiben hat zwei Konsequenzen. Entweder trifft er mit seinen Porträts voll ins Schwarze oder voll daneben. Die Bewertung seiner Treffsicherheit bleibt dem Leser überlassen und zwingt ihn auch dazu – und hierin zeigt sich das Romaneske seines Schreibens. Und, zweitens, sind die Texte dank seines anekdotischen, narrativen und oft waghalsig-spekulativen Stils unvergleichbar lebendig und bewusstseinsklar. Warum Amis’ Essays gerade auf Romanciers wie Kehlmann (deren Leser eingeschlossen) eine derartige Anziehungskraft ausüben, ist deshalb überraschend naheliegend. Denn wer beobachtet so anregend das britische Parlament wie Martin Amis?
Ich sah der Vereidigung im Parlament über den Fernsehmonitor zu, und man bekam da in der Tat etwas zu sehen. Die Gesichter dieser grießigen Politstrategen, schiefwinklig und von uralter Sturheit – aber jetzt mit unsicherem Lächeln. Der alte Zelot Paisley, etwas mitgenommen, aber in seinem einundachtzigsten Jahr immer noch gutaussehend. Der fühllose Martin McGuinnis von Sinn Féin, ein Bruder im Geiste von Joseph Conrads »Professor«, dem hageren Größenwahnsinnigen in Der Geheimagent, dessen »Gedanken die Bilder von Ruin und Zerstörung liebkosten«. Aber da hatten wir’s nun, das Zusammentreten der beiden Parteien, in einer Atmosphäre von lang verdrängter Erregung, nahezu von Fröhlichkeit, der Fröhlichkeit des Unwirklichen. (134)
Text: Martin Amis, Im Vulkan (Kein & Aber 2018)
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