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#50 Martin Amis

#50 Martin Amis: Im Vulkan

von Justus K. Jost

Es ist sein eigenwilliger Stil, der Martin Amis aus­zeichnet. Es ist sein Stil, der eine derartige Laudatio des literarischen Schwer­gewichts Daniel Kehlmann recht­fertigt, dem Autor von Die Vermessung der Welt und Tyll. Sie ist dem Essayband Im Vulkan in einem Vorwort voran­gestellt. Für Kehlmann sind die Essays eine »Schule des Denkens, Schauens und Zuhörens, eine Impfung gegen Fanatismus und alle Arten geistiger Kurz­schlüsse.« Er erinnert sich an seine erste Begeg­nung mit der Arbeit des englischen Romanciers, den er in den 1980er Jahren als »blendend helle Aus­nah­me­intelligenz« des politischen und literarischen Journalis­mus kennen­lernte. Amis’ Essays waren für ihn schon damals »keine gängigen Ge­brauchs­texte, sondern […] deren Versionen aus einem Parallel­uni­versum der Brillanz und Per­fek­tion«. Seit dieser ersten Begeg­nung prägen Amis’ Texte sein Denken. Es ist die unvergleich­liche Klarheit von Amis, die er bewundert. Amis schreibe in »Blitz­schlägen des Erkennens.«

Es handelt sich dabei weniger um eine analytische Klarheit. Sein Stil zeichnet sich nicht durch diese für gestandene Fach­journalisten typische, kühle Distanz zum beschrie­benen Gegen­stand aus. Im Gegen­teil: Viele der ausgewählten Repor­tagen, Erlebnis­berichte und Rezen­sionen Im Vulkan zeugen von der tiefen, hitzigen Betroffen­heit und Anteil­nahme des Autors. Amis schreibt durch­weg anek­dotisch und oft spekulativ. Damit schafft er eine Klar­heit, mit welcher Charakter und Psyche der porträtierten Personen oder Gesell­schaften erfasst zu werden scheinen. Ob längst tote Schrift­steller (Franz Kafka, Miguel de Cervantes), Politiker (Tony Blair, Angela Merkel, Donald Trump), Regisseure (Steven Spielberg, Brian de Palma), oder etwa die Windsors – mit jedem Essay bekommt der Leser für einen Moment das Gefühl, einen Ein­blick in die motivierenden Ängste, Hoff­nungen und Bedürf­nisse der vor­gestellten Personen zu erhaschen und damit nicht Ober­flächen, sondern Un­tiefen zu erkennen. Mehr noch, er wird unweiger­lich die Verehrung (Nabokov, Updike), die Sympathie (Blair), die liebe­volle Sorge (Rushdie, in geringerem Maße auch Capote) und die Verach­tung (Trump, Bannon) für Amis‘ literarische Subjekte teilen. Denn Amis sucht sie nicht zu verstecken.
Amis macht seine Leser:innen mit sei­nen literarischen Subjekten vertraut, indem er diese wie die Figuren seiner Romane behandelt. Zwar beschreibt er Journalisten als »Drauf­gänger des Augen­blicks« und ihre Tätigkeit als »immediate response«, was er auch für sich in Anspruch zu nehmen scheint. Doch hat man bei vielen seiner Porträts den Eindruck, sie seien (nur) erste Schritte im Prozess einer größer angelegten literari­schen Recherche­arbeit. Als würde Amis am Material der politischen Wirk­lich­keit prosaische Helden und Anti­helden entwickeln wollen. Sein Augen­merk liegt auf den Konflikten und Widersprüchen der Charaktere. Dort, wo ihm das ange­strebt voll­ständige Bild verwehrt wird, schließt er die Lücken mit Spekulation.
Ein Beispiel. In einem ZDF-Interview über Kreatives Schreiben meint Amis, der Schlüssel zu seinen Figuren sei stets deren Sexualität. Das ist für Amis-Leser keine Über­raschung; tatsächlich dienen sexuelle Bedürf­nisse, Vor­lieben und Pathologien häufig als roter Faden bei der Ent­faltung seiner Charaktere. So wundert es nicht, dass er auch bei diversen journalis­tischen For­schungs­gegenständen das Liebes­leben erforscht und das oft als Grund­lage für Vermutungen über allgemeine Charakter­eigen­schaften dient. Die Sexualität Donald Trumps, schreibt Amis beispiels­weise, sei von tiefer Unsicher­heit geprägt. Trump sei »ein Glubscher, ein Grapscher, aber kein Zoter.« Über die Beziehung des 45. Präsi­denten der Vereinigten Staaten von Amerika zu seiner Ehegattin schreibt er:

»Also bringt der POTUS die FLOTUS vielleicht hierher [zu einer Kund­gebung, die Amis als Reporter für Esquire besuchte] mit, um von ihr ein Küsschen zu bekommen, eine Um­armung und einen Hände­druck, was mittler­weile wohl das ganze Aus­maß seiner Bedürf­nisse darstellt. Manche Leute (ich gehöre dazu) glauben, dass die Libido von Donald Trump lächer­lich über­trieben dar­gestellt worden ist – nicht zuletzt von dem Bakterien­hasser persön­lich, als Eigen­werber und Dusch­raum­auf­schnei­der. Alles, was wir mit einer gewissen Sicher­heit wissen, ist, dass er’s fünfmal gebracht hat.« (248)

Die Figur Donald Trump ist ein gutes Bei­spiel für das Eigen­willige des Amis’schen Porträtierens. Nicht, weil er Trump besser getroffen hätte als die anderen Personen in seinem Essay­band. Sondern weil jeder regel­mäßige Zeitungs­leser auf beiden Seiten des Atlantiks seit nun­mehr drei Jahren mit Erklärungs­versuchen der Person und des Phänomens Trump bombardiert wird, und so reichlich Vergleichs­material im Hinter­kopf hat. Im Vulkan enthält zwei Essays über Donald Trump. Eines, das Amis un­mittel­bar vor der Präsident­schafts­wahl über ihn schrieb, und eines in der Retro­spektive, als die Wahl Trumps bereits »pein­licher­weise Geschichte« war. Im ersten Essay (über Trump als Präsident­schafts­kandidaten) liefert Amis eine »psycholo­gische Unter­suchung«, welcher die Bücher »von« Trump (seine Autoren­schaft in ihrer Ent­stehung ist umstritten) als Beweis­material zugrunde legt. Die Unter­suchung dreht sich um Trumps kenn­zeichnenden Eigen­schaften als Geschäfts­mann, die »offene Frage […] nach seiner geistigen Gesund­heit«, seine bereits angedeutete Beziehung zu Frauen – kurz, um die Charakter­eigenschaften, auf deren Grund­lage Prognosen über eine mögliche (nach Amis allerdings sehr unwahr­schein­liche, man bedenke die bloße Tatsache, dass auch Frauen wählen) Trump-Präsident­schaft getroffen werden könnten.
Trump als Geschäfts­mann, so resümiert Amis die Selbst­darstellung des Moguls in dessen The Art of the Deal, zeichnete sich aus durch »Dreistig­keit, Hart­näckig­keit, Geduld, eine keiner­lei Peinlich­keit empfin­dende Vor­drängelei, […] eine kluge Ab­neigung gegen die Investition von eigenem Geld« und ein ausgeprägtes »Sensorium für Schwäche«. Er habe eine »Krokodil­nase für hilflose, möglichst schon tod­geweihte Beutel.« Mit Blick auf die geistige Gesund­heit fragt sich Amis, ob Trumps »Lügerei lediglich zwang­haft, oder er schlicht ein Mythomane [ist], seiner Anlage nach un­fähig, zwischen Unwahr­heit und Wahrheit zu unter­scheiden«. Amis unter­streicht die häufig geäußerte Vermutung, Trump leide an einer narzisstischen Persönlichkeits­störung. Trumps Selbst­wahrnehmung gehe »weit über alltägliche Ego­zentrik und Selbst­bezogenheit hinaus«.
Zu diesen Eigen­schaften geselle sich laut Amis ein mit der Erfahrung wirklicher Macht »vor kurzer Zeit einge­tretener moralischer Verfall«, welcher einen Hang zur Brutalität und Gewalt hervor­gebracht habe. Dieser äußere sich bei seinen »an Nürn­berg erinnernden Wahl­kampf­veranstaltungen« und seinem Wahl­kampf­buch Great Again. »In seiner emotionalen Primitivität und intellek­tueller Barbarei wäre das Trump-Manifest ein recht gelungener schlechter Scherz«, in der Androhung von Massen­deportationen, Folter und mörderischen Kollektiv­strafen. Auf der Grund­lage des entschlüsselten Potpourris toxischer Eigen­schaften prophe­zeit Amis schließlich warnend, „dass nach ein paar Tagen des pomp and circumstance im Weißen Haus Trumps Hirn nichts anderes mehr wäre als ein einziger Testosteron­sumpf.«
Nach der Wahl Trumps widmet sich Amis wie Geistes­wissenschaftler, Journalisten und viele weitere angekratzte Gruppen pro­fessioneller Glas­kugel­gucker der Er­klärung der »Trump-Infusion«, also des »seltsame[n] Prozess[es], bei dem der ganz und gar gefühlskalte Pluto­krat dem abge­wrackten Proletariat Mut injiziert.« Seine Erklärung liefert er in einem zweiten Porträt, einer weiteren psycho­logischen Unter­suchung. Dieses Mal interes­siert ihn die Basis Trumps, welche er auf einer Kund­gebung des neu­gewählten Präsidenten studiert. Über die Unter­stützer schreibt Amis:

»Sie sind weiß, hetero­sexuell und männlich, und sie haben fest­gestellt, dass das Prestige des Weißen, Hetero­sexuellen, Männlichen auf unerklär­liche Weise abgenommen hat.« (222) /// »Die Welt beschleunigt sich, und die Trump-Getreuen stehen mit laufendem Motor still, kurz davor, unversehens den Rück­wärts­gang einzulegen.« (257) /// »[d]er Sturz der Republikaner in die Psychose begann in der Wahlnacht 2008 […]. Horrible dictu, doch etwa jeder dritte Amerikaner erträgt einfach nicht, dass ein schwarzer Mann im Weißen Haus sitzt.« (254)

So schreibt Amis: beißend, witzig, ironisch, gezielt über­trieben. Die Porträts Trumps und seiner Unter­stützer zeigen exemplarisch (obwohl sie mit ihrem vor Verachtung triefenden Ton in der Essay-Sammlung ansonsten eine Aus­nahme darstellen), worin die Eigen­willig­keit der Amis’schen non-fiction liegt. Amis traut sich selbst Einblicke in und Behaup­tungen über das Innen­leben seiner Gegen­stände zu, vor denen andere Reporter zurück­schrecken. Er bewahrt sich auch bei Repor­tagen, Rezen­sionen, Reise­berichten und anderen Sach­texten eine groß­zügig aus­gelegte Freiheit, die er aus seiner Haupt­tätigkeit als Romancier gewohnt ist. Auf die Spitze treibt er es bei seinem Reise­bericht über die sogenannte Flüchtlings­krise in Deutschland. Er entschied sich in »Oktober« dazu, keinen Essay zu schreiben, sondern seine Ge­schichte über die Krise als Story zu ver­öffent­lichen. Aus der Erzähl­perspektive eines fiktiven Autors schildert er die von der Flüchtlings­krise direkt oder indirekt berühr­ten (und ebenso fiktiven) Schicksale, mit denen er auf seiner Buch­tour konfrontiert wurde. Die Figuren und ihre Einstellungen zur Politik und den Neu­an­kömmlingen er­schuf Amis also mit seinen eigenen Erfah­rungen und Inter­aktionen, verbleibt aber nicht bei ihnen. Sie dienen als Arche­typen für die (Extrem-)Positionen auf dem Spek­trum der öffentlichen Meinung. Auf die Frage, warum er sich für diese fiktionalisierte Form der Verarbeitung seiner Erleb­nisse entschied, newyorker.com/books/page-turner/this-week-in-fiction-martin-amis-on-europes-crises text: antwortete Amis):

»Even the dullest journey resembles a short story: beginning, middle, end, with the traveller displaced and, we hope, alerted. And this particular journey was unusually interesting and unusually disturbing. I briefly considered writing a think piece of some kind, but I wanted the singular freedom offered by fiction. As the story evolved, it seemed to demand that I give some impression of my own life—my life not as a writer but as a son, a husband, and a father.«

In »Oktober« greift Amis auf eine litera­rische Form und Methode zurück, die er in seinem Essay über Truman Capote und dessen Roman Kaltblütig als »non-fiction fiction« ausweist. Hier dienen dem Schrift­steller reale Ereignisse als Grundlage seiner Erzählung. Sie zu fiktionialisieren, befreit den scribbler von den techni­schen Grenzen der journalis­tischen Arbeit, erlaubt einen weitaus fantasie­volleren und kunst­reicheren Einsatz der Fakten. Für Amis kommt bei der Ent­scheidung für diese Form wohl hinzu, dass sie ihm im Kontrast zur klas­sischen Repor­tage die Möglichkeit eröffnet, seine Position zur Flüchtlings­krise mit der »moralische[n] Fantasie, [der] moralische[n] Kunst­fertig­keit« auszu­statten, welche er bei Capotes Kaltblütig vermisst.
»Oktober« ist die einzige story, der ein­zige entschieden literarische Text in der Essay­sammlung. Als »non-fiction fiction« ist sie in gewisser Weise aber auch nur die Steigerung und Umkehrung der Methode Amis’. Viele der weiteren Essays und Repor­tagen (etwa das über Trump) könnten als »fictive non-fiction« oder zumindest als »creative non-fiction« bezeichnet werden. In beiden Fällen bricht Amis mit den etablierten Praxen von Journalisten und Schrift­steller, und die Grenz­ziehung zwischen journalis­tischer und literarischer Arbeit ver­schiebt oder gar aufweicht.
Amis’ Schreiben hat zwei Kon­sequenzen. Entweder trifft er mit seinen Porträts voll ins Schwarze oder voll daneben. Die Bewertung seiner Treffsicherheit bleibt dem Leser über­lassen und zwingt ihn auch dazu – und hierin zeigt sich das Romaneske seines Schrei­bens. Und, zweitens, sind die Texte dank seines anek­dotischen, narrativen und oft waghalsig-spekulativen Stils unver­gleichbar lebendig und bewusstseins­klar. Warum Amis’ Essays gerade auf Romanciers wie Kehlmann (deren Leser einge­schlossen) eine derartige Anziehungs­kraft ausüben, ist deshalb über­raschend naheliegend. Denn wer beobachtet so anregend das britische Parlament wie Martin Amis?

Ich sah der Vereidigung im Parlament über den Fernsehmonitor zu, und man bekam da in der Tat etwas zu sehen. Die Gesichter dieser grießigen Polit­strategen, schiefwinklig und von uralter Sturheit – aber jetzt mit unsicherem Lächeln. Der alte Zelot Paisley, etwas mit­genommen, aber in seinem einund­achtzigsten Jahr immer noch gut­aussehend. Der fühllose Martin McGuinnis von Sinn Féin, ein Bruder im Geiste von Joseph Conrads »Professor«, dem hageren Größen­wahnsinnigen in Der Geheimagent, dessen »Gedanken die Bilder von Ruin und Zerstörung liebkosten«. Aber da hatten wir’s nun, das Zusammentreten der beiden Par­teien, in einer Atmosphäre von lang verdrängter Erregung, nahezu von Fröh­lich­keit, der Fröh­lichkeit des Unwirk­lichen. (134)

Text: Martin Amis, Im Vulkan (Kein & Aber 2018)

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