Wandelbar war schon ihr Name. Mascha Kaléko hieß nicht immer so. Geboren wurde sie als Golda Malka Aufen im heutigen Polen. 1922, fünfzehn Jahre nach ihrer Geburt, erhielt sie infolge der standesamtlichen Heirat ihrer Eltern den Namen des jüdischen Vaters, Engel, sowie den Vornamen Mascha. So, wie sie uns heute im Gedächtnis ist, heißt sie schließlich seit 1928, seit dem Jahr ihrer Heirat mit dem Hebräischlehrer Saul Aaron Kaléko.
2007 erschien zum 100. Geburtstag von Mascha Kaléko die Gedichtesammlung Mein Lied geht weiter, herausgegeben von ihrer Nachlassverwalterin und Freundin am Lebensabend Gisela Zoch-Westphal. Gedichte aus allen Lebensabschnitten Kalékos finden sich dort, eine vielseitige Auswahl ihres dichterischen Schaffens bannt die Leserin und lässt den Lebenslauf Kalékos Gedicht für Gedicht erspürbar werden.
Wandelbar wie ihr Name ist der Stil, ihr lyrischer Ton. Lustig-erheiternde, alltäglich-amüsante Passagen finden sich in ihrem Werk ebenso wie ironische bis hin zu bitterernsten und tieftraurigen Versen. In Enfant terrible (14) beschreibt das lyrische Ich, wie es einmal eine Puppe gestohlen hat. Die Beichte der Tat wird über vier Verse aufgebaut und liest sich schließlich mit einem Schmunzeln: »Ich / Habe eine / Ich habe eine Puppe / Gestohlen.« Wie ein echtes Kind steht unmittelbar vor dem Schuldeingeständnis eine eher gegenläufige Aussage. Die Puppe zu haben impliziert, sie rechtens zu besitzen. Allein und enttarnt steht das Wort »Gestohlen« isoliert, als hätte es mit der Puppe nicht wirklich etwas zu tun.
Diese aus dem Alltag mit Kindern vertraute Komik, der wir in Kalékos Gedicht begegnen, steht jedoch auf wackligen Füßen und ist von kurzer Dauer. Denn die Puppe, so konkret sie und ihr äußeres Erscheinungsbild auch der Inhalt des Gedichts sein mögen, ist nicht das, worauf das Gedicht abzielt. Im vorvorletzten Vers findet sich die Schlüsselsequenz. Das lyrische Ich hat soeben erzählt, wie es sich vergebens eine bestimmte Puppe gewünscht habe, dann aber eine andere, ungewünschte, erhielt. Niederschmetternd und mit mehr als nur oder erschütternder kindlicher Weisheit, bricht ein Satz durch die Alltagsbeschreibung hindurch: »Beinah ist oft schlimmer als Nein.«
Den Anfang nahm Kalékos lyrisches Schaffen in Berlin, nicht lange vor dem endgültigen Aufstieg der NSDAP im damaligen Deutschland. 1929 erschienen erste Gedichte in einer Zeitschrift, 1933 folgte das Lyrische Stenogrammheft. Ein Jahr später – mittlerweile wusste das Regime, dass Kaléko Jüdin war – wurde die Veröffentlichung von Das kleine Lesebuch für Große noch in der Druckphase unterbunden. 1938 emigrierte Mascha Kaléko in die USA, nach New York, allerdings in Begleitung eines anderen Mannes – und eines gemeinsamen Sohnes. Die Ehe mit Saul Aaron Kaléko wurde Anfang 1938 geschieden, wenige Tage später heiratete Mascha Kaléko den Vater ihres Kindes, den polnischen Musiker Chemjo Vinaver. Oft ist in ihren Gedichten vom »Liebsten« die Rede, meist wird dieser direkt vom lyrischen Ich angesprochen. Die Dankbarkeit von Kaléko richtet sich nach den turbulenten Umwälzungen im privaten Familienleben nach oben, in Stilles Gebet (17). Der Dank ist aufrichtig und intim in jedem Vers:
Ich dank dir Herr
In jeder stillen Stund
Ist auch mein Mund
Scheu und verschwiegen.
Ich stehe hier
An meines Kindes Wiegen
Und ohne Wort
Dankt es in mir.
Berlin, Februar 1938
Gott spielt in ihrem Dichten eine wiederkehrende Rolle. Ihr Verhältnis zu ihm mutet mancherorts kindlich-naiv an – weshalb die Verse der letzten Strophe in Wie sag ich’s meinem Kinde? (21–22) ähnlich vehement und zielstrebig auf die Leserin einprasseln wie kraftvolle Dirigierstabschwünge auf das Orchester:
Die Bücherweisheit ist bankrott, Der Blinde führt den Blinden. – Und wahrlich, gäb es keinen Gott, Man müßte ihn erfinden.
Als ein Schlüsselmoment in Kalékos Leben darf die Geburt ihres einzigen Sohnes Evjatar im Jahre 1936 gelten. Später wird sein Name im Exil zu Steven geändert werden. Noch um einiges später, 1968, wird sich die Quelle von Freude und Glück in tiefste Not verwandelt haben. Denn Steven stirbt mit gerade 31 Jahren völlig unerwartet an kurzer schwerer Krankheit. Seiner Mutter bricht dieser ungewollte Abschied das Herz. In Elegie für Steven (27) beweint sie Stevens Ableben in Versen, die nur Mascha Kaléko so schreiben konnte: einfach in ihren Worten, nahbar in ihren Gefühlen, entleerend und entrückend im Finale, mit bitterer Pointe und dem Zeichen an alle Lesenden: Es ist vorbei. Ich habe nun zu leben mit etwas, womit ich nicht leben kann. Gott, dem sie ihr Mutterglück einst innig dankte, ist zwar noch da, wird aber nicht mehr angeredet, von einem anonymen »man« ist die Rede. Die persönliche Kommunikation steht still.
Daß man doch lernte, sich vor ihm zu neigen,
Der grausam nimmt, was er so zögernd gab.
Solang mein Herz schlägt, ist darin dein Grab.
Ich setze dir ein Mal aus purem Schweigen.
Kein Wort. Kein Wort, Gefährte meiner Trauer!
Verwehte Blätter, treiben wir dahin.
Nicht, daß ich weine, Liebster, darf dich wundern,
Nur, daß ich manchmal ohne Träne bin.
Es zeigen sich hier exemplarisch die Leiden Kalékos als Mutter, einer Rolle, die bis zum Lebensende auszufüllen ihr verwehrt geblieben ist – wie auch vieles andere von dem, was sie an Rollen einzunehmen vermochte. Eine sehr gute Schülerin gewesen, war ihr dennoch vom Vater der Besuch einer Hochschule verwehrt worden mit dem patriarchalen Einwand, Frauen müssten nicht studieren. Sie tat es nicht – und tat es doch, war gebildet und belesen. Selbst dieses Selbststudium aber brachte ihr bei manchen Kritikern ihrer Zeit nicht zwingend Anerkennung als Schriftstellerin ein. So findet sich in einem Zusatztext der deutschen Neuauflage ihres Lyrischen Stenogrammhefts nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Charakterisierung als »weiblicher Ringelnatz« – als taugte nur ein Mann zum Prototyp und die Frau, talentiert zwar, aber am Ende doch defizitär, lediglich zu seinem leuchtend-schönen Abbild. Als Lob getarnte Degradierung – eine perfide Form gesellschaftlicher Missachtung.
In diesen Nachkriegszeiten sorgte Kaléko nicht nur in gesellschaftlichen, sondern auch in literarischen Kreisen für Aufsehen. Als ihr 1960 der Fontane-Preis der Akademie der Künste in West-Berlin zuerkannt wurde, lehnt sie denselben ab, weil in der Jury ein rehabilitierter SS-Mann sitzt. Kaléko leidet unter den Ereignissen, fühlt sich fern ihrem einstigen Zuhause; bekennt aber dichterisch in Heimweh, wonach? (81), auch gar nicht mehr zu wissen, wo ihre Heimat liegt – und ob es sie noch gibt:
Wenn ich »Heimweh« sage, sag ich »Traum«.
Denn die alte Heimat gibt es kaum.
Wenn ich Heimweh sage, mein ich viel:
Was uns lange drückte im Exil.
Fremde sind wir nun im Heimatort.
Nur das »Weh«, es blieb.
Das »Heim« ist fort.
Die Heimkehr nach Deutschland aus dem amerikanischen Exil entpuppt sich schließlich nur als Durchreise. Wenige Wochen nach ihrer Preisabsage wandert sie gemeinsam mit ihrem Mann nach Jerusalem aus. Dort wird sie ebenso wenig heimisch wie in New York oder Berlin, das Fremde in der Kultur und Sprache erschweren ihr in Israel wie in Amerika das Leben.
Was so beeindruckt, ist Kalékos Gabe, im Alltäglichsten, im Kleinsten, das literarisch Anmutige und Große zu entdecken. Es lyrisch aufzudecken für den Leser, der sich zugleich darin, im Kleinen, wiederfindet und von sich selbst, im Großen, entfremdet sieht. Ist das alles nur aufgebauscht?, könnte man fragen, womöglich ein Hineindichten von großen Lebensthemen in alltägliche Ereignisse, die damit wenig zu tun haben? Nicht, was es scheint also, ein Zaubertrick? Gaston Bachelard setzt diesem Vorwurf an die Dichtung ein Plädoyer für »literarische Zauberei« entgegen:
»Ein vernünftiger Philosoph – die Gattung ist nicht selten – wird uns vielleicht entgegenhalten, daß diese Dokumente übertrieben sind, daß sie allzu willkürlich mit Hilfe der Worte das Große, das Unermeßliche aus dem Kleinen entspringen lassen. Das wäre nur Zauberei mit Worten, sehr dürftig gegenüber der Leistung des Zauberers, der einen Wecker aus einem Fingerhut herauskommen läßt. Dennoch verteidigen wir die »literarische« Zauberei. Die Handlung des Dichters macht träumen. Die Handlung des ersten kann ich nicht selbst erleben oder nacherleben. Aber die Bilder des Dichters gehören mir, unter der einzigen Bedingung, daß ich die Träumerei liebe.« (Die Poetik des Raumes: 164)
Alle von Kaléko beschworenen Traumbilder werden nichtig, als 1968 mit dem Tod ihres Sohnes das labile Gleichgewicht in ihrem Lebenslauf zerbricht. Fünf Jahre später geht auch ihr »Liebster«, ihr Ehemann. Ein Szenario des Hinterbliebenseins, vor dem Kaléko bereits 1945 graute, wie es in einem ihrer dunkelsten Gedichte, Memento, warnend heißt: »Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur, / Doch mit dem Tod der andern muss man leben.«
Inmitten all ihrer Leidensleere schöpft Kaléko neuen Lebensmut, spielt bei einer Vortragsreise nach Berlin sogar mit dem Gedanken, dort eine zweite Bleibe zu erwerben, um am Ende doch noch irgendwie heimzukehren, dahin, wo sie als junge Frau glücklich gewesen ist. Auch dafür, für die Rückkehr an einen Ort, den man als Heimat längst verloren hat, und dennoch als Heimat zu bewahren versucht, für dieses paradoxe Gefühl der Sehnsucht also, gibt es in Kalékos Verswerk ein Bild:
Am Kreuzweg fragte er die Sphinx:
Geh ich nach rechts, geh ich nach links?
Sie lächelte: »Du wählst die Bahn,
Die dir bestimmt ward in dem Plan.
Links braust der Sturm, rechts heult der Wind:
Du findest heim ins Labyrinth.« (114)
Die Heimkehr ins Berliner Gefühls-Labyrinth bleibt ihr schließlich versagt. Wenige Wochen nach ihrem Berlin-Besuch stirbt Kaléko am Ende einer längeren Behandlung in einem Zürcher Krankenhaus an einem Krebsleiden. Ihr Lied geht weiter.
Text: Mascha Kaléko, Mein Lied geht weiter (dtv 2007)
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