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#47 Chris Kraus

#47 Chris Kraus: I Love Dick

von Konstantin Schönfelder

Dieser Titel ist irreführend, aber nicht so, wie Sie glauben. Es handelt sich bei I Love Dick um eine »Phänomenologie des einsamen Mädchens«. Der Titel ist zunächst einmal nicht pornografisch gemeint. Das garantiert der ausbleibende Artikel: Das einsame Mädchen liebt nicht etwa a oder gar the dick. Es liebt auch nicht seinen Plural: dicks. Dieses »Mädchen« liebt diesen Dick, den Mann, dessen Nachnamen sie verschweigt, der immer nur einfach Dick heißt.

Und dann ist dieses Buch doch pornografisch: Chris Kraus – Autorin und Hauptfigur – schreibt unverhüllt, schamlos, emphatisch von dem, was sie von Dick auch will: an den Höhepunkt gelangen. Sie gelangt an ihn, mit Dick, in diesem Satz: »Wir haben Sex, bis sich Atmen wie Ficken anfühlt.« Und schließlich geht es in diesem Buch nicht um Dick, nicht so jedenfalls, wie Sie das glauben könnten. Es geht um eine Idee von Dick, die Chris entfaltet und die schwach an seinen lebensweltlichen Bezug erinnert. Das mag für jede Beziehung gelten. Aber es sollte in dieser besonders beherzigt werden: Chris und Dick sind einander unbekannt, Chris steigert sich, kann sich nur in eine Vorstellung von Dick hineinsteigern, hineinlieben. Die Hyperbolik ist keine falsche Übertreibung, es ist die Sache selbst. I Love Dick ist schließlich eine Geschichte. Es ist ein Buch. Und es ist kein Buch: Es ist die »dokumentarische Fiktion« ihres Lebens, wie es Kraus einmal nannte. Die Briefe wurden so (oder so ähnlich) geschrieben. Sie handeln von Dick, dicks, und handeln von nichts dergleichen. Ein Erklärungsversuch.

»›Wer ist Chris Kraus?‹, schrie sie. ›Sie ist niemand! Sie ist Sylvère Lotringers Frau! Sie ist seine Partybegleitung!‹ Ganz egal, wie viele Filme sie drehte oder wie viele Bücher sie herausgab – solange sie mit Sylvère zusammenlebte, würde sie immer ein Niemand sein, und zwar für alle, auf die es ankam. ›Es ist nicht mein Fehler!‹, schrie Sylvère zurück.« (124)

»Chris Kraus (1955 in New York City) ist eine US-amerikanische Schriftstellerin und Filmemacherin.« Chris Kraus hat eine einsätzige Wikipedia-Identität. Unter der Rubrik »Leben« kommen ganze sechs weitere Sätze hinzu. Ihr Mann hingegen, Sylvère Lotringer, hat ein langes Wikipedia-Leben; wir erfahren en détail, wo er wann bei wem studiert hat, von seinen Forschungsschwerpunkten, seinen Einflüssen, seiner Bedeutung für die Avantgarde-Bewegung. Darin besteht ein Problem für Chris. Wer ist Chris Kraus? »Sie ist Sylvère Lotringers Frau!« Sie empfindet sich als der uninteressante Anhang ihres weitaus interessanteren Mannes, der an der Columbia-Universität in New York eine Professur für Literaturwissenschaft innehat. Sie kann sich nur auf engem Raum künstlerisch entfalten, das heißt: sie kann sich nicht* künstlerisch entfalten. »Es ist nicht mein Fehler!«, sagt Sylvère zwar richtig; aber es ist auch nicht, schon gar nicht, ihrer. Die Beziehung ist unmöglich (geworden). Sie stehen vor dem Abgrund der Aporie. »Weil die Beiden nicht mehr miteinander schlafen, halten sie ihre Intimität via Dekonstruktion aufrecht, das heißt, sie erzählen einander alles.« Das gelingt den ersten Teil des Buches recht gut: Sie lernen Dick kennen, ein Kulturwissenschaftler, Kollege Sylvères, der im kalifornischen Antelope Valley lebt. Sie schlafen dort, weil für die Nacht Schneestürme angesagt sind. Als sie fahren, am nächsten Morgen, ist Chris Kraus in Dick verliebt und Sylvère erwärmt sich an dem Gedanken, dass wieder ein Feuer zu lodern beginnt. Ein waghalsiges Spiel, es gerät aus den Fugen. Chris, aber auch Sylvère schreiben Briefe an Dick, die sie nie abschicken. Sie rufen an, er nimmt nicht ab. Die Kommunikation mit Dick ist gering, die Kommunikation über Dick enorm. Der Kulturwissenschaftler Dick ist zu einer Projektionsfläche geworden, in der das Paar zunächst zueinander findet, zum ersten Mal seit Jahren wieder miteinander schläft – und schließlich, als Paar, scheitert.

»Du [Dick] bist geschrumpft und in ein Glasgefäß abgefüllt worden, du bist ein tragbarer Heiliger. Dich zu kennen, ist so, als würde ich Jesus kennen. Es gibt Milliarden von uns und nur einen von dir, deshalb erwarte ich von dir persönlich nicht allzu viel. Es gibt keine Antworten auf mein Leben. Doch von dir fühle ich mich berührt und erfüllt, einfach nur, indem ich glaube.
In Liebe, Chris« (110)

»Bücher sind dickere Briefe an Freunde«, bemerkte Jean Paul. Peter Sloterdijk hat aus diesem Satz heraus ein philosophisches Programm des Humanismus angedeutet. Die Bedeutung der Philosophie verdanke sich »ihrer Fähigkeit, sich durch den Text Freunde zu machen. Sie ließ sich weiterschreiben wie ein Kettenbrief durch die Generationen, und allen Kopierfehlern zum Trotz, ja vielleicht dank solcher Fehler, zog sie Kopisten und Interpreten in ihren befreundenden Bann.« Damit beginnt Sloterdijk seine Regeln für den Menschenpark. So verstanden, sind die dickeren Briefe von Anfang an ohne konkreten Adressaten oder zumindest offen für ein Publikum, auf das die Autorin, die Briefeschreiberin, Chris Kraus, kaum Einfluss hat. Deswegen heißt es auch in der Anrede in einem ihrer Briefe richtig: »Lieber Dick, Sylvère, Irgendwer«. Es könnten alle, es ist irgendwer gemeint. Kraus‘ intime Briefe wurden zunächst missverstanden als das Zeugnis eines Ehedramas. Später ist der Text tiefer verstanden worden. Er ist zu einem maßgeblichen Titel des feministischen Denkens geworden und es verwundert nicht, denn das alles war von Anfang an mitgesagt worden. Nicht unbedingt von der Autorin selbst; eher von dem Text, den sie veröffentlichte. Er zog seine Leserinnen in seinen »befreundenden Bann«. Der Text hat sich Freunde gemacht. Damit ist eine weitere Untiefe von Jean Pauls so eingänglich und abgrundlos anmutendendem Satz sichtbar: Bücher sind dickere Briefe an Freunde, die wir (noch) nicht kennen, die sich erst noch finden müssen, die aber ihrerseits ihre Verfasser schlecht kennen, sich von ihren Verfassern lösen, sobald sie, die Briefe, aufgegeben werden. Ein Text begibt sich aus der Hand, die ihn herstellt. I Love Dick ist immer in Bewegung.

»Drei Wochen lang war ich so oft in Tränen ausgebrochen, dass es zu einer phänomenologischen Frage wurde: Bis wann sollten wir noch von ›Weinen‹ sprechen, bevor wir dazu übergehen, die wenigen Momente des ›Nicht-Weinens‹ als Satzzeichen eines andauernden Tränenzustands festzuhalten?« (152)

Chris weint, weil sie allein ist. Sie hat Sylvère verloren, sich gegen ihn entschieden. Im zweiten Teil des Buches, nach der Trennung, fällt sie auf Nichts zurück. Sie hat das Abenteuer mit Dick verbrieft, sie schreibt es fort, sie treffen sich. Aber es macht einen bedrohlichen Unterschied, ob sie gemeinsam mit der sichernden Hand ihres Mannes verbotene Briefe schreibt, oder ob sie sich allein gegen die verzweifelnde Liebe zu Dick stellt. Sylvère Lotringer erzählte kürzlich in einem Interview, wie schwer für ihn die ersten Jahre gewesen seien, ohne Chris. Und Chris ist in einem »andauernden Tränenzustand«.
Es ist in diesem Moment, als sich die theoretische Stimme von Chris Kraus erhebt. Wie ein großer, ermüdender, bewundernswerter Solitär in diesem Buch steht ein immerhin 42-seitiges Essay, das weiterhin in loser Briefform gehalten ist. Chris Kraus erzählt, argumentiert, bricht auf der Folie der Schizophrenie ihre Wirklichkeit einer Weiblichkeit. Es sind dies die Stellen, die sie heute wie selbstverständlich als Feministin ausweisen.

»Weil eine so vollkommene Identifikation mit jemand anderem nur dann möglich ist, wenn man sich selbst aufgibt, verfallen Schizophrene in Panik und ziehen sich aus diesen Verbindungen abrupt zurück. Sich ankoppeln und abkoppeln, connect und cut, Connecticut.« (259)

»Sowohl Katherine Mansfield als auch die Philosophin Simone Weil lebten Leben voller leidenschaftlicher Intensität. Beide starben vereinsamt einen tuberkulösen Entkräftungstod […], und träumten in ihren Notizbüchern noch mit 34 von Kindheitsglück und Trost.« (274)

»Lieber Dick, keine Frau ist eine Insel-in. Wir verlieben uns in der Hoffnung, uns an jemandem festhalten zu können, um nicht zu fallen.« (287)

Es hilft, einen Seitenblick auf das gerade erschienene Buch Warum Liebe endet von Eva Illouz zu werfen. In ihrem Einleitungskapitel charakterisiert sie die westliche Tradition des Liebens als eine platonische. »Verliebt sein heißt, zur Platonikerin zu werden: durch eine Person hindurchzusehen auf eine Idee, auf etwas im umfassenden Sinne Makelloses. Unzählige Romane, Gedichte und Filme lehren uns, in dieser Hinsicht Platons Schülerinnen und Schüler zu werden, unterweisen uns also in der Kunst, die Vollkommenheit zu lieben, die sich in der geliebten Person manifestiert.« Es hat seine Gültigkeit auch für dieses Buch, von dem wir anfangs behauptet haben, dass die Titelfigur vor allem figürlich und nicht menschlich ist. Dick ist eine Idee, keine Anschauung. Und doch bricht das Buch mit dieser Körperlosigkeit, die die Tradition kennt und behauptet, denn es geht bei Dick auch um Sex, aber vor allem um Liebe und: um das Begehren.

»Sowohl Liebe als auch Sex führen zu Mutationen, und ebenso bin ich überzeugt davon, dass das Begehren kein Mangel ist, sondern überschüssige Energie – eine Klaustrophobie im Inneren deiner Haut.« (266)

Wenig später schreibt Illouz davon, dass es in der Liebe in Zeiten des Kapitalismus (aufgrund des Überangebots? Der Unverbindlichkeit? Der sexuellen Freiheit als Konsumfreiheit?) häufig keine Brüche braucht, um das Ende einer Beziehung einzuleiten. Vielmehr ist ein Knacks das Signum eines Endens, sich wiederholende, schwache Schwingungen, »von denen aber keine einzelne die Bruchgrenze erreicht«, wie es Roger Willemsen beschreibt. Der Ermüdungsbruch. Wieder Eva Illouz: »Manche Beziehungen schlafen ein oder lösen sich auf, noch bevor oder bald nachdem sie richtig angefangen haben, während andere einen langsamen und rätselhaften Tod sterben.«

»In Félix‘ [gemeint ist Félix Guattari] Buch Chaosophy [ein Sammelband, der von Sylvère Lotringer herausgegeben wurde] gibt es eine großartige Auseinandersetzung mit der Schizophrenie, zwischen ihm, Deleuze und acht führenden Intellektuellen Frankreichs. Alles Männer. Wenn wir tatsächlich die Wirklichkeit verändern wollen, warum verändern wir sie dann nicht?« (251)

Das Buch I Love Dick ist 1997 im englischen Orginal erschienen, im Verlag Semiotext(e), den Sylvère Lotringer gegründet hat. Es wurde 2017 ins Deutsche übersetzt. Wir übersetzen noch immer.

Text: Chris Kraus, I Love Dick (Matthes & Seitz 2017)

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#47 Chris Kraus: I Love Dick

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