Eine kurze Frage, bevor Sie beginnen, diesen Text zu lesen: Haben Sie sich schon einmal im Wald verlaufen? Womöglich ja sogar in der Abenddämmerung, nach einem ausgedehnten und entdeckungsfreudigen Spaziergang querfeldein, bei dem man jeder noch so kleinen und unscheinbaren Weggabelung Beachtung schenkt, um sich neue Räume zu erschließen. Was als Akt der freien Erkundungslust beginnt, kann schnell umschlagen in Argwohn und Furcht. Bin ich hier links abgebogen? War ich nicht schon einmal hier gewesen? Täuscht das oder kommt mir dieser Baum bekannt vor?
Sich in einem Wald zu verirren, das gibt es. Was es auch gibt, obwohl es unwahrscheinlicher klingen mag, ist das Verirren in einem Text, in einem Dickicht aus Zeichen. Das Geflecht aus Buchstaben wirkt, sofern es die eigene Sprache ist, einfach zu vertraut. Wir haben nicht das Gefühl, als läsen wir da etwas Unbekanntes, das uns täuschen könnte. Und doch: Einen simplen Text zu lesen, das ist manchmal nicht weniger anspruchsvoll, als eine verwinkelte Biographie zu verstehen.
An Aleida Assmanns 2015 erschienener Aufsatzsammlung Im Dickicht der Zeichen lässt sich die Geltung dieser Behauptung prüfen. Die 1947 geborene Kultur- und Literaturwissenschaftlerin, Anglistin und Ägyptologin wurde kürzlich auf der Frankfurter Buchmesse mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, gemeinsam mit ihrem Ehemann Jan Assmann. In ihrer im Wechsel gehaltenen Dankesrede entfalteten die Assmanns ein Plädoyer für weltumspannende Solidarität als Antwort auf den um sich greifenden Nationalismus. Wolle man ein Weiterleben für nachfolgende Generationen ermöglichen, müsse man sozial und global solidarisch sein, das heißt im Umgang mit seinen Nächsten, mit Menschen auf der Flucht, und im Verbrauch ökonomischer wie natürlicher Ressourcen.
Assmanns Plädoyer für Solidarität ist dann am stärksten, wenn es nicht im politischen Raum stattfindet. Aleida Assmanns Heimatraum ist nicht der politische, sondern ein viele Jahrtausende umspannender Kulturkosmos, den sie sich im Laufe ihrer Studien- und Forschungsjahre als Professorin erarbeitet hat. Äußert sich Assmann also außerhalb des politischen Kontextes, verweigert sie nicht etwa die Debatte, sondern bereichert sie. Assmann tut dies mit der vorliegenden Sammlung von Aufsätzen und Arbeiten aus ihrem Forscherleben, die auf Anregung des Suhrkamp-Verlags entstanden ist. Ihre Texte geben uns geistiges Werkzeug an die Hand – Metaphern, Analogien, Methoden –, die wir einsetzen können bei unserem Versuch, das (natürlich auch politische) Weltgeschehen zu lesen. Und dieses richtig zu lesen, sodass man es versteht, das heißt im Kontext von Im Dickicht der Zeichen immer auch: die Unverständlichkeit mancher Kapitel des Weltgeschehens anerkennen. Richtiges Verstehen als Nicht-Verstehen? Willkommen in der Irritation, in der Paradoxie – willkommen im Dickicht.
Im letzten Aufsatz der Sammlung gibt Assmann auf diese Irritation eine versöhnliche Antwort. Sogleich ist der Gegenpol auf dem Plan, im ersten Satz: »Literaturwissenschaftler sind zum Lesen geboren, zum Deuten bestellt« (305). Doch wie wird deutbar, was unverständlich ist? Die Formen, die die Deutungspraxis im Laufe der Historie angenommen hat, stellt Assmann in diesem Aufsatz vor: Hodegetik, Hermeneutik und Dekonstruktion. Es ist eine historische Chronologie der Deutungsrahmen, die gipfelt in der Deutung des Unverständlichen. Diese verzweifelte Art, zu deuten, was sich doch gerade entzieht, gibt dem Bild des Dickichts seine waldbekannte Düsternis. Die Chronologie beginnt mit einer Schilderung eines Textes aus der Apostelgeschichte, dem Kämmerer aus dem Morgenland. Der Kämmerer, also ein Schatzmeister, befindet sich auf der Rückreise von einem Wallfahrtsfest in Jerusalem und liest den Propheten Jesaia, als ihm der Apostel Philippus begegnet. Dieser will wissen, ob der Kämmerer denn versteht, was er da liest. Der Kämmerer entgegnet: »Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet?« Philippus wird sogleich zum Hodegeten, zu demjenigen, »der den Weg durch das Dickicht der Zeichen weist und dem Leser zur ›verstehenden Lektüre‹ verhilft« (309). Hodegetik ist der dreiteilige Deutungsrahmen, der aus Text, Lesendem und Deutungsgehilfem besteht:
»Lesen, so können wir die hermeneutische Moral dieser Geschichte verallgemeinern, reduziert sich in der zweistelligen Relation von Text und Leser auf ein Artikulieren der geschriebenen Worte, Verstehen dagegen ist nur in der dreistelligen Relation von Text – Leser – Wegweiser möglich.« (309)
Ohne Deutungsgehilfe ist maschinelles Lesen als ein Entziffern der Buchstabenfolgen möglich. Nicht aber öffnet sich der Be-Deutungsraum, in dem wir verstehen. Kann darum ein jeder Mensch nicht einmal sein eigenes Leben begreifen ohne fremde Hilfe, ohne Deutungsassistenz? Sehen wir das eigene Leben als Text und uns selbst als Lesende, bleiben wir in dieser Zweierkonstellation bloße maschinelle Leserinnen.
Abhilfe von dieser misslichen Deutungsinkompetenz verheißt folgendes Gedankenexperiment: Stellen wir uns eine Komponistin vor, die ein Klavierwerk gestaltet. Sie steht allein mit den unendlichen Tonfolgenvarianten, zwischen denen sie sich zu entscheiden hat. Vor der Komposition kann sie aus allen Tönen wählen, es ist, als wäre jede Sekunde des Werks am Anfang mit allen möglichen Tönen, gleichzeitig gespielt, ausgefüllt. Und als bestünde die Kompositionstechnik darin, an den richtigen Stellen die richtigen Töne wegzustreichen – im Falle einer Pause eben einfach alle. Braucht auch die Komponistin, die das Entstehen ihres Werks überhaupt erst bewirkt, einen Deutungsgehilfen, um recht zu verstehen? Natürlich nicht. Die Komponistin hat sich die Anleitung des Deutungsgehilfen im Komponieren angeeignet, sie entdeckt die Hermeneutik.
»Wer [solche] Regeln anwendet, hat den Hodegeten verinnerlicht und sich so als Leser gleichsam verdoppelt. Ohne direkte persönliche Intervention bleibt damit die triadische Konstellation der Lektüre erhalten.« (312)
Abschluss der Chronologie der Deutungsrahmen bildet derjenige der Dekonstruktion. Diesen kann man als Paradigmenwechsel erachten, weil er von verschiedenen Weisen abrückt, zu verstehen versuchen. Das Projekt des Deutens droht in Selbstauflösung, als Deutung des Undeutbaren, zu verschwinden:
»Im Deutungsrahmen der Dekonstruktion werden Fremdheit und Intransparenz als unhintergehbare Qualitäten des Textes verabsolutiert. Damit ist aus der Kunstlehre des Textverstehens eine Kunstlehre der Unlesbarkeit geworden, deren erstes Gebot lautet: ›Widerstehe der Wut des Verstehens!‹« (323)
Der Text ist durch diesen Schritt der Dekonstruktion verabsolutiert, es gibt, nach einem Worte Derridas, kein außerhalb des Textes mehr. Das Buchstabengeflecht ist das verbleibende Subjekt. Niemand sonst ist an der Auslegung beteiligt. Wir selbst werden als Deutende Teil des Textes. Dekonstruktion ist eine Kunst der Hermeneutik nur noch in dem Sinne, dass immer noch gedeutet werden soll, indem dem Verstehenszwang widerstanden wird. Doch dies wirkt inkonsequent. Als käme durch die Hintertür das Vermögen des Deutens wieder auf den Plan. Assmann aber hält die Spannung aus und weist den Weg:
»Eine Interpretation kann sich nicht an einer textexternen Wahrheit messen lassen, sondern einzig an der Frage, ob sie die im Text angelegten Kohärenzen zur Erscheinung bringt.« (326)
Die Paradoxie zu deuten, heißt eben nicht, sie zu verstehen. Es gibt Unverständliches, das sich unserem Blick entzieht, das, im Sinne Lévinas’ radikal anders bleibt und darin beschützenswert ist. Eine jede Person, mit ihrer Biographie und ihrem je eigenen Lebenstext, bleibt in letzter Instanz unverfügbar. Aus dieser Unverfügbarkeit speist sich schließlich bei Lévinas der ethische Widerstand, den wir als Anruf des Sollens erfahren und der für ihn die Ethik stiftet. Sich angesichts dieser Anders- und Fremdheit zurechtzufinden ist genau die Herausforderung, mit der wir uns das Dickicht des Irrwaldes konfrontiert:
»So finden wir uns am Ende im Dickicht der Zeichen wieder, in dem uns die unterschiedlichen Deutungsrahmen der Hodegetik, der Hermeneutik und der Dekonstruktion verschiedene Orientierungen anbieten, aus dem sie uns aber nicht herausführen. Wir können ein Buch beenden und es zuschlagen, aber es gibt keinen roten Faden, der aus dem Dickicht der Zeichen herausführt. Dieses Labyrinth hat keinen Ausgang. Wir bleiben in Texte verstrickt, von Schrift umgeben und mit Spurenlesen beschäftigt.« (328)
Wir können von Assmanns Lageplan für das Dickicht der Zeichen und ihrem Bekenntnis zur Ausweglosigkeit dieser Lage schließlich mehr lernen als im politischen Diskurs, im Kontext dessen sie sich kürzlich mit ihrem Ehemann positioniert hat. Nicht, weil dieser Diskurs weniger wichtig ist. Vielmehr, weil wir mit Assmanns wissenschaftlichem Text nicht im, sondern über den Diskurs lernen.
Was geschieht in der Welt, muss, um für uns veränderbar zu sein, vor Augen liegen. Es liegt aber nie einfach da. Wir sind angerufen, es aufzudecken. Assmann gibt uns das Werkzeug hierzu an die Hand, damit wir im Dickicht der Zeichen nicht verzweifelt zusammensacken und uns verlieren. Es gilt, nach dem Ausweg aus dem Dickicht zu suchen. Wir sollen immer wieder neu erlernen, was es heißt, einen Text nicht nur zu registrieren, sondern deutend auf ihn zuzugehen. Das heißt: wirklich zu lesen.
Text: Aleida Assmann, Im Dickicht der Zeichen (Suhrkamp 2015)
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