Wasser ist die einzige chemische Verbindung, die auf natürliche Weise in allen drei Aggregatzuständen vorkommt. Als Wasser flüssig, als Eis fest, als Wasserdampf gasförmig. Wollten wir das Werk Alexander Kluges als Äquivalent zur Verbindung H2O verstehen, wäre die Dichteanomalie des Wassers die maßgebliche Eigenschaft, mit der sich sein Werk in einzelne Felder trennen ließe. Aufgrund dieser Anomalie verliert das Wasser von knapp vier Grad Celsius an kontinuierlich an Dichte und gewinnt an Volumen, sodass das Wasser seine gefrorene Identität auf sich tragen kann. In Alexander Kluges Werk sind die Bücher der Ausgangs- und Fluchtpunkt seines Denkens – Wasser –, auf denen die Filme lagern – Eis – und die sich schließlich in seinen unzähligen Gesprächen lösen – Wasserdampf. Kluge beherrscht die unterschiedlichen Aggregatzustände und dehnt meisterlich die Vorzüge jeder Form aus. Schnee über Venedig. Der Kluge-Lerner-Container, sein jüngstes Buch, ist nicht mehr als ein Beispiel par excellence.
Dieses Buch beginnt mit seinem Einband: weiß-glänzende Leinen, die Schrift in anderem matten Weiß auf den Buchdeckel geprägt. Nur der Titel hebt sich in einem stolzen Dunkelblau ab. Der »Schnee« im Titel ist die einzige Sache auf dem Buch, die nicht weiß ist, sondern eben blau. Die Haptik des Buches wechselt in seinem Verlauf: von mattem kräftigen Papier zu Hochglanzpapier, auf dem wir vier Inseln im Anschluss an den Haupttext begehen können. So sehen wir Fotografien Gerhard Richters (9. Februar 1932), den Kluge (14. Februar 1932) auf den ersten Buchpräsentationen seinen Freund und seinen Zeitgenossen nennt. Dann, auf Seite 16, also nicht am Anfang, beginnt das Buch, und damit das Programm, mit einer Anekdote Kluges: Das Buch verzeichnet einen Dialog zwischen ihm und dem amerikanischen Poeten Ben Lerner, der mal direkt sichtbar wird, im Gespräch, mal indirekt und im Austausch, mal über Umwege, über ins Buch importierte, mitunter gemeinsame Künstlerfreunde.
Lerner, ein 39-Jähriger, der von Kluge geprägt ist, ohne dass dieser davon weiß, veröffentlicht 2004 mit Die Lichtenbergfiguren seinen ersten Lyrikband. Der Adept überlegt, dieses Buch nach Deutschland zu senden, zu seinem verborgenen Lehrer. Er verwirft den Plan. Mehr als ein Jahrzehnt später entdeckt Lerner zufällig einen elektronischen Brief in seinem Spam-Ordner. Er kam von Alexander Kluge. Der hatte seine Gedichte in der deutschen Übersetzung gelesen und ihm daraufhin eine Sammlung von Geschichten gesandt, die von einzelnen Zeilen Lerners inspiriert waren. Der Gruß eines Schriftstellers an einen Schriftsteller. Es ist »eine Menge Zufall erforderlich für eine Kooperation«, kommentiert Kluge das bei seiner Buchvorstellung in Frankfurt.
»– Jede adäquate Theorie der Arbeit muss mit der Gegen-Arbeit paradoxen Schlafes rechnen. (B.L.)Sie schlief wie ein Bär. Paradox, dass Nerven, Leber, Zellen, Herz – alles das, was am Tiefschlaf teilnimmt – die sogenannte Realität so rasch abwirft. Wie die Schlangen ihre Haut in Fetzen reißen und so-gleich abstreifen. Ich bin die WAHRE REALITÄT, spricht der Schlaf. Von Kindheit begleite ich meine Sklavin, die sich für meine Herrin hält. Ich jubele in der Person – als Morgengabe – meiner Lebensträgerin, meinem Fahrzeug, meinem Ross. Herzlichst: Dein Bruder Schlaf. (A.K.)« (231-233)
Dieses Buch lässt sich keiner begrifflichen Generalität beugen. Diese Tatsache, wenig überraschend im Lichte des Kluge-Werks, ist ein Hinweis darauf, in wie vielen verschiedenen Schichten Kluge, mit Lerner, nach den richtigen Ausdrücken gräbt. Deshalb können wir nicht sagen, worum es in diesem Buch geht. Aber wir können freizulegen versuchen, was dieses Buch zum Thema nimmt.
Gedichte (von Lerner) und die Kommentare dazu (von Kluge) sind sein Gerüst. »Ein Gedicht hat kein Dach«, ist einer der Versuche Lerners, die Lyrik zu bestimmen, und sie von der Prosa zu trennen. Ein Gedicht, also, ist unabgeschlossen, unfertig, nicht zu Ende gebaut; wie die Athener Betonklötze, die Häuser sind, aber doch keine Dächer haben. Nicht um Steuern zu sparen – wie im Athener Fall – und auch nicht willentlich, bleibt das Gedicht ein Haus ohne Dach. Das Gedicht muss sich seine Offenheit nach oben hin bewahren, um authentisch bleiben zu können. Die Poesie kann einen Platz bieten für das Authentische, es kann »einen Raum freimachen für etwas, das niemals kommt. […] Man muss misstrauisch sein bei jedem Gedicht, das behauptet, authentisch zu sein im Gegensatz zu Texten, die nur einen Raum dafür bereithalten.«
Der Lyriker trifft auf den Prosaisten, der sich als unfähig beschreibt, selbst zu dichten, weil er die Worte nicht »konzentrieren« kann auf einen Vers. Das aber verlangt die äußere Form des Gedichts von seinem Schöpfer. Kluge will erzählen – aber dichten? Es entstehen schon in dieser Ausgangslage Angebote, die Lyrik und die Prosa besser zu verstehen, weil sich ihre Eigentümlichkeiten aus den (auch) unterschiedlichen Ausdrucksformen der Gesprächspartner ergeben. Ein Gedicht, setzt Lerner fort, ist über einen Abgrund gespannt: Dass es einmal höchst individuell ist, eine innere Erfahrung ausdrückt, die nur die Dichterin in dieser Intensität zu fühlen vermochte und die diesem Gedicht injiziert wurde. Und dass es zugleich verallgemeinerbar ist, sich nicht nur für sie, sondern für die Lesenden zur Lektüre eignet. Eine Lektüre, die eine Wirkung haben kann – also infiziert. Es ist ein unmöglicher Anspruch an eine Hand voll Worte. Jeder Vers droht zu zerreißen.
Halberstadt brennt, oder die langsamste Musik der Welt
***Als Kind hielt ich Nacht und Tag als Gegensätze /
Während ich sie jetzt für Abstufungen halte /
Die äußere häufig essbare Schicht des Schattens […] /
Die Vögel brechen die Schatten mit hochspezialisierten Schnäbeln auf /
Wie jedes Kind ging ich endlos träumend über ein sphärisches Feld, während ich heute anwaltlich tätig bin /
Doch das Gesetz bleibt stumm oder ist dehnbar an diesem Punkt (126)
Dass »Halberstadt brennt« ist die Kindheitserfahrung Kluges, die auch in Schnee über Venedig nachflackert. Die Luftangriffe am Ende des Zweiten Weltkrieges, die Halberstadt zerstörten, sind eine Erzählstätte, zu der Kluge immer wieder zurückkehrt. Auch in diesem Buch. Nicht zufällig finden sich im zweiten Teil des Buches Gedichte von Ben Lerner, die »Für Alexander Kluge« geschrieben sind und die an vielen Stellen Halberstadt betreffen, man könnte sagen, die Halberstadt ver-dichten. Und es braucht nicht viel Vorstellungskraft, um in dem Kind, »endlos träumend über ein sphärisches Feld«, den Halberstädter Jungen Alexander zu sehen. Der Jurist, der Kluge nach seiner Ausbildung auch noch ist (neben seinen Rollen als Schriftsteller, Filmemacher, Journalist, Kurator und überhaupt Chronist), findet in seiner Heimatstadt ein Symbol, das Lerner im Titel als »die langsamste Musik der Welt« aufnimmt. Dieses ist ein Stück von John Cage, betitelt mit »As Slow as Possible«. Wie langsam das Langsamstmögliche ist, bleibt unbenennbar. Doch Halberstadt stellt sich dieser Unbestimmbarkeit: 2001 wurde in der St. Buchardi Kirche eine Orgel installiert, aus der über Jahre jeweils nur ein Akkord des Stücks von Cage erklingt. Der letzte Akkord-Wechsel fand 2013 statt, der nächste wird 2020 stattfinden. Das Ende des Konzerts ist für den 5. September 2640 vorgesehen. Das Stück würde dann 639 Jahre angedauert haben.
Man kann nicht überschätzen, wie heftig sich dieses Projekt gegen die Grenzpfeiler des menschlichen Lebens wehrt. Gegen die Kürze: Wie viele Generationen haben an diesem Stück Anteil und natürlich auch anders herum, wie marginal ist der Anteil nur einer einzigen Generation daran? Gegen die Hast als Lebensform: Alles schnell, sofort, unmittelbar verfügbar haben zu wollen. Sich aber in Geduld einzuüben, sich gedulden, duldend, es erdulden. Diese Stille, die in den ewigen Akkorden angeschlagen wird. Schließlich auch das Unfertige des menschlichen Lebens: Es ist unerträglich wie dieser siebenjährige Akkord. Und doch ist es alles, was wir haben.
An dieser Idee der Geduldigkeit hängt etwas, das Alexander Kluge nicht nur fasziniert, sondern das er selbst repräsentiert in seiner Person. Seine Anekdoten, die in keinem »größeren Sinn« aufgehen, den er benennen wollte. Die Hypothesen, die er lieber erzählt, als dass er sie analysiert; auch weil er der Trennung zwischen diesen beiden Tätigkeiten misstraut. »Musik berührt ein Gebiet, keinen Punkt«, schreibt Lerner. Kluge denkt flächig, nicht positionsbezogen. Kluge ist wie Wasser: fließend, spiegelnd, die Aggregatzustände wechselnd.
Text: Alexander Kluge und Ben Lerner, Schnee über Venedig (Specter Books 2018)
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