Truman Capote war nicht irgendein Mann. Er war nicht irgendein Schriftsteller, einer von vielen, einer unter anderen. Er war der andere Erzähler, weil er über so viel Gewöhnliches so ungewöhnlich schrieb. Truman Capotes einzigartiges literarisches Können zeigt sich an seinen stilistischen Experimenten, von Gedichten, Kurzgeschichten, Reiseberichten, Reportagen, Romanen bis hin zur Kulmination in seinem weltbekannten Tatsachenroman In Cold Blood, mit welchem er die Gattung des nonfiction novel schuf. Zahlreiche Zeitgenossen wehrten sich gegen diese selbst vorgenommen Einordnung, indem sie Capotes Roman als hervorragendes Beispiel der journalistischen Gattung des New Journalism feierten, die sich durch eine stark subjektiv geprägte Darstellungsweise realer Ereignisse kennzeichnet. Capotes Reaktion hierauf charakterisiert ihn bestmöglich: Er meinte schlicht, er sei immer ein genuin literarischer Künstler gewesen – kein journalistischer. Capote wusste, was er tat, und er wusste das sehr früh.
1924 in New Orleans geboren, gelangte Capote beizeiten in Berührung mit der New Yorker High Society, nachdem seine Mutter mit ihrem neuen Mann 1934 an die Ostküste übergesiedelt war. Bereits mit 23 Jahren sorgte er länderübergreifend für Aufsehen: Sein erster Roman Other Voices, Other Rooms wurde von der amerikanischen und europäischen Kritik meist gefeiert, teils gescholten, in jedem Falle ausufernd diskutiert. Ähnlich Diskutables – wenn auch keinesfalls würdig der Schelte – ereignete sich 2014. Der 1984 in Vereinsamung verstorbene Capote hatte zuhauf Archivmaterial hinterlassen, in welchem sich der deutschsprachige Verleger Peter Haag vom Kein & Aber-Verlag gemeinsam mit seiner Ehefrau Anuschka Roshani auf die Suche nach Romanfragmenten gemacht hatte. Zwar wurden die beiden diesbezüglich nicht fündig. Sie stießen dafür aber auf eine unverhoffte Sensation: Truman Capotes frühe unveröffentlichte Kurzgeschichten, die er im Alter zwischen elf und 19 Jahren verfasst hatte. Eine von ihnen trägt den Titel »Wo die Welt anfängt« und hat auch dem 2015 im Kein & Aber-Verlag publizierten Band seinen Namen geliehen. Es hätte dabei auch gleich heißen können: »Wo die Welt schon fertig ist«, denn alles, was Capote später ausmachen und ihm zu internationalem literarischen Ruhm verholfen haben sollte, ist bereits ausgebreitet in den so reif erzählten Geschichten über Highschool-Schülerinnen, Träumer, Verbrecher und Vorstadtversager.
Capote zeigt sich im gesamten Band als stilistisch frühreifer Erzähler, der empfänglich ist für feinste Nuancen menschlicher Regung, für Details im Auftreten, im Sprechen, im zwischenmenschlichen Umgang. Die Schilderungen seiner Figuren wirken derart echt, als hätte sie ihm jemand mit vierzig oder fünfzig Jahren Lebenserfahrung diktiert: Nahezu jede Zeile offenbart doppelten Boden und weist über sich hinaus. Was erzählt wird, will mehr sein als nur reales Abbild. Dabei ist dieser doppelte Boden nicht plump und offensichtlich wie eine ungetarnte Falltür. Was man vernimmt, ist ein kaum hörbares Knarzen der Bodenbretter, worunter unentdeckter Freiraum lockt.
Einen Versuch, diesem freien Raum im Leben und Erzählen von Capote nachzuspüren, unternahm der amerikanische Schauspieler Philip Seymour Hoffman 2005, als er Capote im gleichnamigen Film derart brillant verkörperte, dass – vergleicht man sein Schauspiel mit den erhaltenen Videomitschnitten von Capotes zahlreichen Talkshowauftritten – jegliche Unterschiede im Sprechen, Gehen oder hinsichtlich mimischer Regung verwischend zu verschwinden beginnen. Mit markant hoher, beinahe beiläufig fließender Fieselstimme, zarten Handwendungen, die Zigarette elegant zwischen zwei entspannte Finger geklemmt, bietet Hoffman einen betörenden Blick auf einen hochsensiblen Exzentriker, dessen Feinfühligkeit sich bereits in seinen allerfrühesten Jugenderzählungen eindrucksvoll niedergeschlagen hatte.
In der titelgebenden Erzählung des Kurzgeschichtenbands wird eine Unterrichtsstunde aus Sicht der jungen Schülerin Sally Lamb beschrieben, die, freiwillig Sklavin ihrer Fantasie, immer wieder mit den Gedanken woanders ist und für die akademische Eifrigkeit ihrer Klassenkameraden nur Verachtung übrig hat. Am Schluss wähnt Sally sich als Kriegsreporterin auf einem sinkenden Schiff:
»Der Torpedo war vor einer halben Stunde eingeschlagen, und das Schiff sank schnell. Das war ihre große Chance! Sally Lamb, Amerikas Kriegsberichterstatterin an vorderster Front, war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Sie hatte die Kamera aus ihrer gefluteten Kabine retten können. Und jetzt knipste sie die Besatzung, die in den Rettungsbooten Zuflucht suchte, und ihre Leidensgenossen in der tosenden See. ›Hey Miss‹, rief ihr ein Seemann zu, ›Sie kommen besser ins Rettungsboot. Ich glaube, das ist das letzte.‹›Nein, danke‹, überbrüllte sie den heulenden Wind und die wütenden Wellen. ›Ich bleibe hier, bis ich die ganze Geschichte im Kasten habe.‹« (73)
Bei einem Talkshowbesuch 1968, erzählte Capote noch amüsiert einige Anekdoten zur Entstehung seines so kräftezehrenden Romans In Cold Blood. Knapp 6.000 Notizbuchseiten hatte er während der sechs Jahre währenden Recherche- und Schreibarbeit angehäuft, um sie in sein Buch einfließen zu lassen – obwohl er stets darauf verzichtet hatte, Gesprächsnotizen oder zumindest Tonbandmitschnitte anzufertigen. Dem verdutzten Talkmaster erklärte Capote daraufhin, von Geburt an im Besitz der »auditiven Version eines photographischen Gedächtnisses« zu sein. Diese außerordentliche Merkfähigkeit habe er darüber hinaus perfektioniert, indem er einem Kollegen seitenweise hatte vorlesen lassen, während ein Tonband alles aufzeichnete, um dann den Raum zu verlassen und eine halbe Stunde später aus der Erinnerung heraus alles Gesagte selbst in ein anderes Tonband einzusprechen. Schließlich wurden beide Aufnahmen miteinander abgeglichen. Nach knapp zwei Jahren mit dieser Art von Training konnte Capote nahezu überhaupt nichts mehr entgehen.
Capote hat sich dagegen zur Wehr gesetzt, sein kreatives Handwerkszeug vorzeitig niederzulegen und konsequent daran gearbeitet – wie er es nannte –, stilistische Experimente zu wagen. Nach den intensiven Arbeitsjahren an In Cold Blood verfiel er zunehmend Alkohol und Drogen und starb, gesellschaftlich geächtet, 59-jährig und einsam in Los Angeles. Umso wichtiger ist es nun, in Capotes frühe Erzählungen hineinzulesen.
Die teilweise nur fünfseitigen Episoden beeindrucken mit Witz, poetischem Ausdruckswillen und herrlichen Schlusswendungen, die manchmal überraschendste Enthüllungen bedeuten. Capotes frühe stilistische Brillanz ist eine Überraschung freilich nicht. Eher die Bestätigung einer Vermutung, die jeder einmal zu hegen beginnt, sobald er Truman Capote liest.
Text: Truman Capote, Wo die Welt anfängt (Kein & Aber 2015)
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