Dieses Buch ist unerträglich. Es ist eine Geschichte unwirklicher Präsenz. Die eine Anwesenheit, eine Liebe, bedeuten kann, die immer möglich ist, die auszuhalten wir aber nicht imstande sein werden. So surren die Parataxen, sie ädern ins Unverständliche, haben die Stimme in ihrer alltäglichen Kenntlichkeit gebrochen.
»Er ging vorwärts, ihr einen Weg zu sich bahnend, und sie, an ihn gepreßt von einer Kraft, die sie beide verschmolz, ging in seinem Schritt mit demselben Schritt, nur hastig, nur ewig.« (59)
»Er griff wieder zu den Blättern und schrieb: Die Stimme nur ist dir anvertraut, und nicht, was sie sagt.« Das ist der Duktus, der stilprägend war für eine ganze Generation und, schaut man genauer hin, es immer noch ist. Maurice Blanchot ist die dunkle Ecke des Literaturbetriebs. Große, auch akademisch gewichtige Werke wie Der literarische Raum erschienen erst spät in deutscher Übersetzung. Denn Blanchot ist nicht Suhrkamp-Kultur. Anders als die, die sich auf ihn zeitlebens berufen haben, sind seine Werke nie Teil der gerühmten Regenbogenreihe gewesen. »Kaum jemand hat den französischen Philosophen und Schriftsteller zu Gesicht bekommen«, schrieb Thomas Assheuer 2003 in Andenken an den da gerade mit 95 Jahren Verstorbenen. Sein jüngstes Bildnis stamme aus dem Jahre 1929. Man sieht ihn mit Emmanuel Lévinas bei der Lektüre von Heideggers Sein und Zeit. Sein Kommen vom Rand des Blattes her hat ihn über die Jahrzehnte zu einem gemacht, der oft nur im nicht einmal kenntlich gemachten Zitat überdauert hat. Was nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass sein Einfluss, wie es bei Assheuers Rückschau später heißt, »ungeheuer« war. Er wurde gesehen als einer dieser Schriftsteller, denen man zutraute, sie allein könnten den Flusslauf mit dem Worte verschieben. Jacques Derridas Ein Zeuge von jeher, im gleichen Jahr bei Merve erschienen, sei jenen empfohlen, die daran Zweifel üben.
Es braucht diese nachdrückliche und notwendig ein wenig übertrieben scheinende Auszeichnung seiner Kraft. Denn die Rekonstruktion seines Einflusses fördert eben auch Topoi zutage, die einigen von uns durch seine besser bekannten Erben schon geläufig sind. So fällt es schwer, ihn nicht als Abdruck derer zu lesen, die nach ihm kamen, aber für uns zuerst. Blanchot ist der, der zuerst vom Ende her schrieb. Der zuerst nicht die Geburt, sondern den Tod als Feder des Schreibens, des Lebens, sah. Diese anderswo vielfach floskelhaft und als bloße Simulation literarischer Abgründigkeit auftauchende Formulierung ist nicht direkt eine Negativität, die jede Anstrengung verschlingt. Sie ist besser verstanden als die Aussicht des Schreibenden, die nicht in der Entdeckung, sondern dem Verlust liegt. Warten Vergessen ist ein gutes Ausstellungsstück von Blanchots schwermütiger, von seiner sentimentalen Sprache. Das heißt aber auch, dass hier ein anderes hätte stehen können. Denn wer dieses Buch liest, und sich auch nur in den Lesepausen (die nötig sind) die Frage stellt, wer Maurice Blanchot war, der stellt die Frage nach einem Werk und nach einer Person.
Derrida nannte sein verdeckt biografisches Schreiben eine »Heterothanatografie«. Ein Beschreiben des Sterbevorgangs eines anderen, der er war. Der möglicherweise, und auch so kann Warten Vergessen gelesen werden, irgendwann den Lockungen erliegt. Der, wie Foucault im Schlusssatz zu Die Ordnung der Dinge schreibt, als »Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« Denn Blanchots Sprache ist immer auch sirenenhaft. Eine Sprache, die verlockt, die verführt und damit den Leser vom Wege abzubringen droht. Anders als Orpheus hat er sich nicht entschlossen, die sehnsüchtigen Stimmen der Sirenen zu übertönen, sondern sie wie Odysseus im 12. Gesang der Odyssee qualvoll auszuhalten, um sie nur einmal und dann immer wieder spüren zu können. Wohl deshalb schrieb Hélène Cixous: »Ich lese ihn mit Ohren in meinen Augen.« Das Aufarbeiten dieses Schmerzes, den die Stimmen verursachen, ist der Inhalt seines Schreibens. Und wir, seine Leser, leiden mit ihm. Wir leiden an ihm. Ich leide an Blanchot.
Im Fall dieses Buchs lesen wir von einer Liebesgeschichte im Angesicht aller Untiefen, die die Liebe als ewige Annäherung zweier Menschen bereithält. Der Umstand, dass wir auf dem Buchrücken nichts davon lesen, ist keine Entschuldigung dafür, die blass gezeichnete Geschichte, den eigentlichen plot, nicht ernstzunehmen. Dass die Klappentexte notgedrungen einen obskuren Charakter nahelegen, hat nichts gegen seine bisweilen liederliche Rezeption als Kalenderspruchproduzent getan. Als einer, der für die schreibe, die dem pathetischen Glauben erlegen sind, ihr Leben sei ganz und gar unverständlich. Dass Hermetik dagegen ebenso ein Wert-an-sich ist wie Lesefreundlichkeit, sei dahingestellt. Am Anfang und Ende des intimen Gesprächs, das die beiden Protagonisten, die nur ihrer Grammatik nach Mann und Frau sind, führen, steht die Leere. »Das Zimmer ist leer, das ist seine Haupteigenschaft«, heißt es zum Auftakt des Buchs, und alle Worte »decken nur Leere zu«. Der erste Schritt aufeinander zu ist wie das Betreten eines Hotelzimmers, dessen Haupteigenschaft, wie jeder Reisende weiß, die Abwesenheit von Identität ist. So lässt sich die Leere, aus der wir kommen, vorstellen als die Abkehr von den Werkseinstellungen (von den Einstellungen, die wir nicht eingestellt haben). Es kann prosaisch und gestenhaft klingen, schrieben wir: die Leere ist unsere grundlegende Bedingung. Denn dieser anfängliche Eindruck ist nur vollständig, wenn wir auch weiter-sagen: und dorthin fallen wir zurück. Für Blanchot bereitet die Leere den Teppich, von dem wir aufstehen und auf den wir uns immer wieder niederlassen. Der Raum der Liebe und der Raum menschlicher Beziehung überhaupt wird so vorstellbar als einer, den wir beständig bevölkern und beheizen. Auf diesem Grund wendet Blanchot Novalis‘ berühmte Zeile, »Wo gehn wir denn hin? Immer nach Hause«, auf die ungewisse Ankunft, die im Warten liegt.
»Warten, worauf galt es zu warten? Sie war erstaunt, wenn er sie danach fragte, denn für sie gab es nichts über dies Wort hinaus. Wartete man auf etwas Bestimmtes, so wartete man schon etwas weniger.« (17)
Wohin geht der Mann, wenn er den Getränkehandel mit Lottostand betritt, um ein Los zu kaufen? Worauf wartet er? Auf die Aussicht auf Gewinn? Auf ein Einlösen der unwahrscheinlichsten und doch unendlich wirklichen Hoffnung? »Warte nur ab, das wird schon«, sagen wir den Freunden, deren Leben kriselt und die in Gedanken schon einen ähnlichen Schein ausfüllen, weil sie vom Leben noch nicht Abschied nehmen wollen. Für Blanchot sind wir nicht anders. Wir alle warten auf diese Weise. In der Literatur- und Geistesgeschichte wurde dieses Warten immer wieder als das aussichtslose Warten auf etwas Prophetisches inszeniert: Kafka über den Messias, der am allerletzten Tag kommt und damit zu spät. Bloch über den Vorschein der Geschichte, dessen wir uns nicht sicher sein können. Beckett über die baldige Ankunft von Godot, dessen Ankunft für die Wartenden baldig bleibt. Und für Blanchot: ein unendliches »Sich-im-Warten-verlieren, immer wieder ausgerichtet auf ein Ende des Wartens, das nahe bevorsteht« und somit die Hoffnung ohne Besserung aktualisiert.
»Der Weg ist lang.« – »Doch er wird uns nicht weit führen.« (86)
Es ist dieses Warten, das das Buch als eine Geschichte unwirklicher Präsenz begründet. Die Protagonisten können sich keine Präsenz zugestehen, weil sie die eigene Anwesenheit für den anderen nicht erlauben können. Eine Antwort auf die Schlüsselfrage der Liebe – Bist du denn ganz bei mir? – wird endlos prolongiert, indem sie nicht ihrer Möglichkeit nach, sondern als reale Verschmelzung für unmöglich gehalten wird. Doch das alles erscheint nicht so geklärt, wie es hier ausgegeben wird. Der Lesende ist gezwungen, immer wieder abzublenden, um die ganze Szenerie in den Blick zu nehmen. Und auch wenn wir uns diese Liebesgeschichte nur in Zeiten des abnehmenden Lichts vorstellen können, ist sie nicht ganz und gar aussichtslos. Sie laufen einander entgegen. Sie suchen die eigene Präsenz als vereinzeltes Ich, die der Ausgang jeder Liebe ist, zu überwinden und den anderen in der Aufgabe dessen, was es bedeutet, »Ich« zu sagen, näherzubringen.
Niemand bleibt gern Auge in Auge mit dem, was verborgen ist. »Auge in Auge, das wäre leicht – nur nicht, wenn man schief zueinander steht.« // »So viele Blicke von Ihnen, die mir nicht galten« – »So viele Worte, die sie gesagt haben, nur nicht zu mir.« – »Und ihre Anwesenheit voll Verspätung und Widerstand.« – »Und Sie schon gar nicht mehr da.« Wo war es? Wo war es nicht? (65)
Der zweite Teil des Buchtitels, der ohne Komma und ohne Konjunktion nebengeordnet ist, schlägt einen ähnlichen Ton an. Das Vergessen ist das Verschwimmen der Person, wie sie einmal für uns war. Liebst du mich oder eine andere, die ich war? Es lässt sich als die Antwort auf das Problem lesen, das uns die absolute Anwesenheit bereitet, die jeden Abstand hinter sich gelassen hat. Im Warten liegt die Ankunft. Im Vergessen kehren wir uns ab, doch, so Blanchot, nur um uns aneinander erinnern zu können. Nur weil ich dich vergessen kann, kann ich mich deiner erinnern.
Für Warten Vergessen lässt sich sagen, dass nur, weil wir die Ferne halten können, Nähe greifbar ist. Diese Auffassung widerspricht vielleicht unserem Gefühl und bestimmt der Konvention. Die Idee der Verschmelzung zweier sehnsüchtig Suchenden war in der Romantik wesentlich. Blanchot macht uns in seiner schemenhaften Liebesgeschichte darauf aufmerksam, dass sich diese Vereinigung jedoch als fatal erweisen könnte. In Senthuran Varatharajahs 2016 erschienenen Debüt Vor der Zunahme der Zeichen ist das Gespräch nach Auskunft der Protagonisten nur möglich, weil sie sich immer wieder verpassen und wissen, dass sie sich nicht begegnen dürfen, wollen sie erhalten, was sie in ihren Worten aufgebaut haben. Diesen endlosen Aufschub halten die Protagonisten von Maurice Blanchot nicht aus: »Begegnet sind wir uns nicht.« – »Nehmen wir an, unsre Wege hätten sich gekreuzt: das ist doch noch besser.« – »Wie schmerzhaft diese Begegnung der sich kreuzenden Wege.« So stehen sie »Auge in Auge in stiller Abkehr«, Rücken an Rücken, einander berührend. Und man meint, es entwickele sich mit jeder Zeile eine Wärme an den Berührungspunkten, eine nicht länger auszuhaltende Entbehrung des anderen, die mehr und mehr einem Satz bahnbricht, »Ich kann nicht mehr warten«, und am Ende des Buchs nichts anderes zulässt als unsere schüchterne Entgegnung: Und konnten sie es?
»Wo geht der Weg?« – »Durch deinen hingegebenen Leib hindurch, den ich noch einmal nehme, zum letzten Mal.« // »Ich habe Angst, an die Angst erinnre ich mich.« – Das tut nichts, vertraue nur deiner Angst.« Und sie schreiten weiter voran. // Wie ist er regungslos, er, dem sie folgt. // Wie sprichst du wenig, du, der als letzter winkt. (120)
Text: Maurica Blanchot, Warten Vergessen (Suhrkamp 1987)
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