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#35 Senthuran Varatharajah

#35 Senthuran Varatharajah: Vor der Zunahme der Zeichen

von Holm-Uwe Burgemann und Konstantin Schönfelder

Dieses Buch ist das lyrische Phantasma trockener und hoch-komplizierter Theorie, ein Anerzählen der rätselhaften Verquickung von Sinn und Bedeutung. Senthil Vasuthevan (SV) und Valmira Surroi (VS) spiegeln einander in ihren Initialen. Sie spiegeln einander und heben einander auf, sehen sich selbst in dem anderen und den anderen als sich selbst, geflüchtet ins Reich der Zeichen.

»Eines der ersten Kanji, das ich am Sprachenzentrum lernte, war das, das »Baum« bedeutet. Der Dozent erklärte uns die Linienführung, und er schrieb es an die Tafel [...]. Früher, als ich noch ein Kind war, dachte ich, dass in mir ein Baum wachsen würde, immer, wenn ich einen Apfel und versehentlich seine Kerne aß, und abends im Bett stellte ich mir vor, wie er über Nacht in mir wachsen und ich aufwachen würde und Äste wären aus meinem Körper gekommen und sie hätten meinen Brustkorb zerrissen und meine Haut wäre Rinde. Neben jeden Strich schrieb er eine kleine Zahl, und er sagte, wir sollten uns immer an die vorgeschriebene Reihenfolge halten, und ich hielt mich daran, um kein Zeichen zu verschmieren.« (Valmira Surroi, Dienstag 14:08 /// S. 62–63)

Dieser Kindheitssplitter, wie er aus Peter Handkes »Lied vom Kindsein« stammen könnte, steht inmitten eines Gesprächs zwischen zweien, die sich einander anzunähern beschlossen haben und damit nicht mehr aufhören werden, bis ihre Geschichten einander berühren. Ein Entschluss, der wie die Kerne des Apfels ungewollt und mit nicht absehbaren Konsequenzen geschluckt wird und der etwas in Senthil, aus Sri Lanka, und Valmira, aus dem Kosovo, wachsen lässt. Ein unbenanntes Etwas, das im Laufe des Buchs in verschiedenem Licht seine Schatten werfen wird, doch namenlos bleibt. Alles nur, weil der allgegenwärtige Algorithmus eines sozialen Netzwerks die beiden aufeinanderstieß als Personen, die sich kennen könnten, die das dann auch glauben, aber sich nicht werden erinnern können. Doch das ändert sich allmählich und lässt die Frage in uns wachsen, welchen Samen wir mit dem Lesen dieses Buchs schlucken.

Vor der Zunahme der Zeichen dokumentiert ein virtuelles siebentägiges Gespräch, das sich auf Facebook ereignet. Neben dem, was die beiden Protagonisten inhaltlich erzählen, erfahren wir nur über vier kleinere formale Hinweise, die jeder Nachricht vorangestellt sind, mehr über ihre Geschichte: Der Name des Schreibenden (Senthil oder Valmira), der Wochentag, die Uhrzeit und gelegentlich das Symbol eines Handys neben der Uhrzeit, das anzeigen soll, dass diese Nachricht unterwegs versendet wurde. Diese Geschichte, von der der Roman Vor der Zunahme der Zeichen Senthuran Varatharajahs erzählt, konnte sich nur in und über Facebook ergeben. Valmira studiert in Marburg und Senthil studierte dort. Das Gespräch nimmt Anlauf mit der Suche nach der Verbindung zu Valmira. Kennen wir uns? Woher? Wir könnten uns dort gesehen haben, oder dort. Nein. Und diese Suche erstreckt sich über das gesamte Buch und dauert aller Wahrscheinlichkeit nach noch länger an, als die Seiten reichen. Kein Erzähler stört ihr Gespräch. Die Geschwindigkeit der Protagonisten und die klinischen Bedingungen des Facebook-Chats genügen, um die Zunahme der Zeichen zu verfolgen, sie zunehmen zu lassen.

die gegenstände, die wir berühren, berühren uns zurück, an stellen, an denen wir taub für sie sind. die dinge, die wir sehen, sehen zurück, an stellen, an denen wir blind für sie sind. // wir fassen sie ins auge. sie stechen uns ins auge. // aber wir merken nichts. (Senthil Vasuthevan, Montag, 18:45 /// S. 49–50)

Die Geschichte arbeitet mit großer Gegenständlichkeit, die sich leicht als popkulturelles Phänomen missverstehen lässt. Anders als in der Popliteratur dienen die Gegenstände, die Gerüche und Farben der geteilten Emigrationsgeschichten, jedoch nicht dazu, einen singulären, westlichen lifestyle auszuweisen, der wahlweise das Prestige der Protagonisten oder die materielle Weltgewandtheit des Autors belegen soll. Wenn Christian Kracht jüngst in seiner Frankfurter Poetikvorlesung mit großer Künstlergeste angibt, warum er die Farbe des Porsche-Sportwagens am Anfang von Faserland für dessen zweite Auflage in »maulbeerfarben« habe ändern müssen, so bleibt dieser Änderung unbenommen, dass sie zwar nicht völlig willkürlich ist, aber keinen Unterschied macht. Das Inventar der Emigration, auf das sich Senthil wie Valmira in ihren persönlichen Geschichten berufen, soll nicht der Inszenierung oder Ästhetisierung von Gegenwart dienen. Die Tatsache, dass Langenscheidt damals wie heute ohne Tamilisch-Deutsches-Wörterbuch den Geflüchteten und Ausgewanderten wie Senthil nur sprachliche Ödnis anbietet, ist Zeugnis einer spezifischen Emigrationserfahrung, die nicht einfach nachträglich anders sein kann. Die Gegenstände kodifizieren eine geteilte Innenwelt, die sich entlang ihrer jeweiligen Funktion für Flucht und Integration aufbaut. Sie sind keine kommerziellen Werte, sondern Marker, die die Wege des Abweichens von der alten und des Aneignens der neuen Kultur säumen, ihnen Glaubwürdigkeit und Kontur geben. Denn auch wenn die Protagonisten immer wieder den Eindruck machen, sie hätten diese Phase als Studentin und Promovend nun überwunden, stellen sie sich weiterhin über ihre Identität als deplatzierte Menschen vor. Ihre Geschichten lassen sich nicht wenden.
Bei aller Gemeinsamkeit sind die Protagonisten in der Sprache ein ungleiches Paar. Senthil ist ein Poet. Er schreibt in dunkler Kadenz. Als ehemaliger Zeuge Jehovas surren seine Sätze, sind bisweilen predigend und immer wieder prophetisch. Das Wort Gottes ist für ihn kein unantastbares, sondern gegenwärtig manifest. Senthil hat Philosophie studiert und ist auch Stipendiat der Studienstiftung und nicht nur deshalb ist es verlockend, sich den Autor (Senthuran) als Senthil vorzustellen. Und auch wenn Senthils Worte eine größere Strahlkraft haben, schreiben beide so poliert, dass ihre Sätze als Aphorismen alleinstehen könnten und die Frage sich aufdrängt, wer so makellos und ohne Absprache in den Wirren des Alltags auf Facebook die eigenen Leiden sagbar machen kann. Nicht wenige werden sich eine solche Korrespondenz als Basiston ihrer eigenen Leben wünschen und deshalb nicht nur mit großer Anerkennung, sondern auch schwermütig und mit ein wenig Sehnsucht ihre Geschichten verfolgen.

als mein älterer Bruder mir erklärte, wonach t-shirts benannt wurden, und ich begriff, dass sie dem großen t nur entfernt ähnelten, von dem sie ihren namen erhalten haben sollen, glaubte ich, ohne es damals, mit sechs oder sieben jahren, wissen und verstehen zu können, auf einmal schon gewusst und verstanden zu haben, dass sinn und stoff, dass bezeichnendes und bezeichnetes nicht übereinstimmen, dass, wie ich später zu sagen lernte, signifikant und signifikat nicht kongruent sind, und einmal begonnen, konnte ich nur noch aufhören zu sprechen. (Senthil Vasuthevan, Mittwoch, 06:12 /// S. 90)

Vor der Zunahme der Zeichen ist ein selten gewordenes Paradestück dafür, wie sich mit Hilfe der Zeichentheorie von Ferdinand de Saussure und den späteren Roland Barthes und Jacques Derrida eine polysemische Geschichte stricken lässt. Es ist das lyrische Phantasma trockener und hochkomplizierter Theorie, ein Anerzählen der rätselhaften Verquickung von Sinn und Bedeutung. Senthil Vasuthevan (SV) und Valmira Surroi (VS) spiegeln einander in ihren Initialen. Sie spiegeln einander und heben einander auf, sehen sich selbst in dem anderen und den anderen als sich selbst, geflüchtet ins Reich der Zeichen. Wir lesen persönliche Abrisse des Bürgerkriegs in Sri Lanka oder der schleichenden Segregation von Albanern und Serben im Kosovo. Das klingt mal wie ein Gedicht und mal wie eine philosophische Behauptung und ist von Anfang an semiologische Literatur. SV und VS lernen sich schriftlich kennen, existieren gemeinsam nur in der geschriebenen Sprache. »Wir können nur aus dieser Entfernung zueinander sprechen. \\\ ich weiß.« (120–21). Nach nur wenigen Tagen schon sind sie ineinander aufgegangen, schreiben sich wie gute Freunde, Leidensgenossen aus früheren Tagen: »du weißt, was das heißt, du warst auch dort, länger als ich« (151). Ihre Geschichte lebt in der Konversation und nur dort ist sie wirklich präsent.
Abseits der Daten und semiologischen Wendungen, mit denen ihre Geschichte gesättigt ist, ist sie doch fragwürdig. Varatharajah simuliert einen Facebook-Realismus, den es so nicht nur in der sprachlichen Gewandtheit nicht gibt. Er gebraucht das Bild des Unverfälschten, das wir mit linearer Kommunikation über soziale Netzwerke assoziieren und wickelt es kunstvoll in die weiche Form einer poetischen Prosa, die mit dem gattungsgeschichtlich konservativen Briefroman kokettiert, um sich von ihm abzustoßen. Es stimmt zwar, dass sich diese Geschichte nur über Facebook ereignen kann, aber so kontinuierlich und kantenlos kann sie sich nicht ereignet haben. Doch in diesem Einwand steckt auch ein Zuspruch. Denn nur im chat ist Gleichzeitigkeit möglich. Nur dort lässt sich eine Synchronisierung der Geschichtsstränge darstellen, weil nur dort Geschichten parallel geschrieben und durch das plötzliche Abschicken ineinandergeschoben werden können. Nur so ist es möglich, dass SV und VS am Donnerstag, 18:43 Uhr, exakt die gleiche Frage aneinander richten: »was bedeutet valmira? /// Was bedeutet Senthil?« (170). Wer ist damit gemeint?
Verstehen heißt Schreiben; und Schreiben heißt Verstehen. Dieser Roman ist ein Lehrstück dafür. Dieser Gedanke, dass Identitäten einander erst in der Schrift vollends ihre verschiedenfarbigen Gesichter zeigen, enthält den nur angedeuteten politischen Anspruch dieses Buchs. Denn das große Verdienst von Senthuran Varatharajah ist, dass diese beiden Geschichten so unprätentiös und ohne vordergründigen Aufklärungsgedanken erzählt werden, dass sie wohl niemand, wie es heute in den Kommentarspalten des besagten Mediums beliebt ist, mit unwissender Anlehnung an Nietzsche als moralinsauer oder auf ähnliche Weise mit einem politisch aufgeladenen Vokabular kontaminiert beschreiben würde.

Vor der Zunahme der Zeichen ist wie das Peace-Zeichen, das sich einfach so ausschlagen, ohne Rechenschaft über die eigenen Gründe übersehen lässt. Es ist eine Einladung im besten Sinne.

Text: Senthuran Varatharajah, Vor der Zunahme der Zeichen (S. Fischer 2016)

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#35 Senthuran Varatharajah: Vor der Zunahme der Zeichen

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