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#32 Jörg Fauser

#32 JÖRG FAUSER: ROHSTOFF

von Konstantin Rückert

Rohstoff ist eine Meta-Erzählung über das Schreiben Fausers. Sie erzählt von den Zwängen und Wider­sprüchen der Kultur­industrie, die Fauser so un­roman­tisch und schonungs­los persifliert, wie er selbst gerne sein Hand­werk beschrieb: Schreiben war sein Business.

Die Gleichsetzung von Autor und Erzählfigur ist in den meisten Romanen ein berechtigtes Tabu, in diesem Fall jedoch unumgänglich: In Rohstoff verschwimmen Realität und Fiktion zum unabgeschlossenen Lebensweg von Harry Gelb, dem Alter Ego Jörg Fausers. Dieser scheint mal zu bunt, um wahr zu sein und mal zu gewöhnlich, um ihn sich auszudenken. Gelb, der Protagonist und Erzähler von Rohstoff, ist eine fiktive Figur, die jedoch »transportiert« – so drückte es Fauser 1984 in der Sendung »Autor-Scooter« aus – was er am eigenen Leib erfahren habe. Wer über Rohstoff spricht, der kann zu Fauser nicht schweigen.
Darüber, wieso der Autor nicht selbst in die Hauptrolle seines Romans schlüpfen wollte, lässt sich nur spekulieren. Möglicherweise liegt es an der zeitlichen Distanz zu den beschriebenen Ereignissen und einer gewissen Entfremdung von den Jugendjahren, die den Autor seither ereilt haben mochte, ihn womöglich erst befähigte das Erlebte literarisch zu verarbeiten. Man darf nicht vergessen, dass der Harry Gelb, der die Ereignisse in Rohstoff durch die Feder des älteren Fausers erzählend durchlebt, diese anders wahrnimmt, einordnet und reflektiert als der echte Fauser es so oder so ähnlich Jahre zuvor tat. Vielleicht dient ihm das Pseudonym und die damit verbundene Unklarheit über Tatsachen und Fiktionen als Schutz, vielleicht liegt es aber auch an Fausers Aufrichtigkeit, die aus all seinen Beobachtungen und Urteilen spricht, nicht für sich zu reklamieren, was zu dick aufgetragen, erdacht oder eigentlich eine Amalgamierung selbst erlebter oder nur aufgeschnappter, eigener oder fremder Anekdoten ist.
Fest steht, Rohstoff war der Roman seines Lebens. Nicht nur, weil er schon drei Jahre später unter bis heute nicht gänzlich geklärten Umständen starb; in ihm lässt der nunmehr 40-Jährige Fauser die wichtigsten Stationen und Schauplätze in seinen Zwanzigern von seinem Alter Ego erneut durchleben. Gelb ist ein Getriebener, er weiß bloß nicht wohin. Das einzige, was er weiß, ist, dass er schreiben will, und dass man am besten darüber schreibt, was man selbst gesehen hat. Seine rastlose Suche nach (literarischem) Stoff, dieses Rumtreiben an den Peripherien führt ihn wie zufällig durch die längst ikonisch gewordenen Szenen und Orte der Bundesrepublik der späten sechziger und frühen siebziger Jahre.
Gelb hält sich nach dem abgebrochenen Wehrersatzdienst im Istanbuler Stadtteil Tophane auf und macht auf Rohopium seine ersten Gehversuche als Schriftsteller. Zurück in der Bundesrepublik lebt er für einige Zeit in Göttingen und Westberlin, verkehrt unter anderem in der Kommune I. In Frankfurt am Main, wo er seine Opiumsucht endgültig gegen Alkoholismus eintauscht, nimmt er als Mitglied der anarchistischen Fraktion an einer Hausbesetzung teil und hält sich nebenbei als Aushilfsnachtwächter und Gepäckabfertiger am Flughafen über Wasser. Bekanntschaften, Lebensgefährtinnen, Underground-Magazine, Verlage kommen und gehen. Nur schleppend bekommt Gelb als Autor Boden unter den Füßen, vom Schreiben leben kann er bis zum Ende des Romans nicht. Rohstoff ist somit eine Geschichte der Improvisation, des ständigen Scheiterns und Sich-Wiederaufrappelns, die so offen endet, wie sie begonnen hat und in der viel passiert, ohne dass wirklich etwas passiert. Es gibt keinen Höhepunkt, keine Katastrophe und kein Happy End. Aber auch nicht das Gegenteil.
Der Roman lebt von Feinheiten, inhaltlich wie sprachlich. Ähnlich einem Kaleidoskop entdeckt man mit jeder Lektüre Neues. Präzise und mit wenigen Worten beschreibt Fauser die Lebenswelt seines Protagonisten, schafft Atmosphäre mit sparsam eingestreuten aber bezeichnenden Details, an die die Leserin anknüpfen kann, ohne je in klischeehafte Bilder abzudriften; hier der Name eines Songs, dort eine kleine Parole oder eine Meldung aus den Nachrichten. Dass sich der Inhalt in der Form widerspiegelt, gibt Rohstoff einen unverwechselbaren Drive. Fauser schreibt nicht durchgängig in einem bestimmten ihm eigenen Stil, sondern wechselt virtuos von einem Jargon zum anderen, schreibt mal kurze prägnante Sätze und dann wieder Kaskaden von Nebensätzen, die dazu einladen, mal langsam, mal in rasender Geschwindigkeit gelesen zu werden. Auf diese Weise entsteht eine Collage aus linkem Szenesprech, Milieujargon und subtil eingestreuten stilistischen Selbstzitaten aus den von der Beat-Literatur geprägten Jugendjahren des Autors. Surreale Traumsequenzen folgen auf sachlichen Realismus, ganz so wie Gelb durch die Milieus seiner Zeit driftet.

»Ich hatte es verdrängt. Freunde von Sarah, Studenten. Sie wollten in der freien Natur ein Frühlingsfest feiern, bei dem jeder seine Phantasie walten lassen sollte – Kostüme, Sketche, Musik. »Erfülle deine Träume.« »Du bist auch ich.« […] Das Fest war ein voller Erfolg. Lambrusco, wallende Gewänder und Pferdebremsen. Ich setzte mich ab und ging zu Onkel Just, Kotelett essen, Bier trinken. Ich las auch die Quick dazu. Ich hatte eine fatale Neigung zum Gewöhnlichen, und das verstand Sarah nicht: LSD und Burroughs und Stamboul Blues, und dann aber zwei kleine Helle und die Ergebnisse der Landtagswahl in Baden-Württemberg.« (58)

Rohstoff ist die Geschichte eines geselligen Einzelgängers, der stets in den Peripherien von Cliquen, Szenen, Kollektiven kreist und in dem Maße, in dem er zuvor von diesen angezogen wurde, bald schon wieder abgestoßen wird und das Weite sucht. Er ist nicht »Außenseiter« in dem Sinne, dass er von den Anderen ausgeschlossen oder nicht geschätzt würde. Im Gegenteil. Durch seine schlagfertige Art und sein selbstbewusstes Auftreten findet er schnell Zugang und Anerkennung. Er ist nur ebenso schnell gelangweilt von Strukturen, Konventionen und vor allem dem Jargon, der jeder Szene eigen ist. Gelb hat eine Abneigung gegen Konformität, die umso größer wird, wo Nonkonformität gepredigt wird und schließlich doch in geteilter Sprache, Themen, Verhaltensweisen und Aussehen in ihr Gegenteil umschlägt.

»Vielleicht, dachte ich, wenn du ihre Sprache sprechen würdest, kämst du auch mit ihnen zurecht, schließlich gehörst du doch nicht zu denen, die in den Großmarkthallen die Kisten schleppen und in Tophane am Opium und an der Armut kaputtgehen. Aber deren Sprache hatte ich auch nicht gesprochen und trotzdem hatten sie mich bei sich sitzen und zusehen lassen. Die Holländer mußterten mich mißtrauisch. Ich kaufte nichts, ich sagte nichts, ich fuhr kein Rad, ich schlug keinen Purzelbaum, ich zog keine Flöte hervor und spielte »Strawberry Fields«, ich malte nicht mit Kreide die »Nachtwache« aufs Pflaster, und ich ließ auch keinen Dreiblattjoint mit den Stars & Stripes rumgehen. Ich zahlte mit spitzen Fingern meinen Kaffee und ging.« (53)

Dabei ist Gelb aber kein notorischer Nörgler oder Besserwisser; als eine Art teilnehmender Beobachter macht er gerne mit, solange er Gefallen findet, denkt sich dazu aber seinen Teil. Er hört aufmerksam zu und sammelt Geschichten. Er hat Spaß an den kleinen Widersprüchen und Ironien des Alltags; etwa wenn sich eines Tages die Hälfte seiner anarchistischen Genossen von der Hausbesetzung ausgerechnet bei der Germania Wach & Schutzgesellschaft wiederfindet, um über die Runden zu kommen.
Nur zu einem Milieu zieht es Gelb, so wie den echten Fauser, immer wieder zurück: Das was er ganz einfach »das Milieu« nennt. Er sucht dort nicht die »Blumen auf dem Schrott«, steigt nicht als Intellektueller zu den common people herab, wo er das vermeintlich »echte Leben« finden und verklären will. Nein, inmitten dieser Gestrandeten und Gescheiterten, Lebenskünstlerinnen und Kleinkriminellen, deren Versammlungen keinem höheren Zweck oder Sinn dienen, als dem, gemeinsam gegen den »Durst« anzutrinken, fühlt Gelb sich ganz einfach wohl, ohne selbst wirklich zu wissen, warum.

»Es war auch häuslich, vielleicht ist es das, was du endlich mal haben solltest, dachte ich, wenn ich morgens nach einem letzten langen Kuß Richtung Hauptbahnhof zockelte, Richtung Airport, vorbei an gähnenden Nutten und ratlosen Säufern, vorbei an Wahlplakaten, die verkündeten, daß wir endlich mal stolz sein konnten auf unser Land, vielleicht solltest du wirklich mit Anita zusammenziehen, drei Zimmer, Küche, Bad, oben im Nordend, gemütlich, Gepäckabfertigung und Kaufhof, vielleicht ein Kind, zur Ruhe kommen, die Narben verheilen lassen, nehmen was kommt, die ÖTV, Palma de Mallorca, warum denn nicht, schreiben kannst du immer noch, und wenn nicht, wen juckt’s, was versäumst du denn, wer versäumt dich denn, eine gute Frau ist im kleinen Zeh noch besser als ein guter Roman, Literatur, was soll das denn noch, die guten Bücher gibt es ja schon, die kannst du ja lesen, wenn es abends nichts in der Glotze gibt und die Frau im Theater ist. Ich wußte aber, daß es diese Häuslichkeit nicht war, die ich suchte oder vermißte, sondern ein neues Milieu, denn wo Milieu war, war Heimat, und die fand ich, als ich das Schmale Handtuch entdeckte.« (228)

»Das Milieu« scheint Gelbs Rückzugsgebiet zu sein. Hier wird nichts gefordert, hier gibt es nichts zu verlieren, nichts anzuecken, man wird nicht abgewiesen mit den Worten »das passt leider nicht in unser Programm«, ein Satz den Gelb in der Verlagsbranche immer wieder hören muss. Rohstoff, das ist eine weitere Facette des Romans, ist eine Art Meta-Erzählung über das Schreiben Fausers. Er erzählt von den Zwängen und Widersprüchen der Kulturindustrie, die Fauser so unromantisch und schonungslos persifliert, wie er selbst gerne sein Handwerk beschrieb (»Schreiben ist mein Business«). Dazu nimmt Fauser tatsächliche Kritik an seinem Stil als Kritik an Gelb in die Erzählung auf, oft mit einem ironischen Augenzwinkern, darunter die häufig geäußerte Kritik an seinem Frauenbild, mit der er zeitlebens nicht viel anfangen konnte.

»Das ist Entertainment, dachte ich, das ist Literatur, für 50 Mark mußt du auch noch auf die Knie fallen und sagen, ich bin ein Vollidiot, ein Nichtsnutz, ein asozialer Weiberfeind, eine Gefahr für die öffentliche Ordnung. Selbst dran schuld, dachte ich, wenn du auf jede erotische Stimme am Telefon reinfällst.« (284)

In Rohstoff, wie in anderen seiner Werke, werden die Partnerinnen des Protagonisten meist recht oberflächlich gezeichnet, sind mehr Beiwerk, Zierrat oder gar Bedrohung. Auch stolpern nicht erst heutige Leserinnen und Leser über die so direkte Vermittlung einer männlichen Lust, die die weiblichen Körper gleichsam zerschneidet, objektiviert, benutzen und vereinnahmen will. Fausers Protagonisten sind streitbare Figuren und Gelb ist ein Macho, mal so plump, dass es schmerzt, mal selbstironisch. Wer sich an die Lektüre von Rohstoff macht, sei vorgewarnt.
Fast nebenbei hat Fauser als Beobachter seiner Zeit nicht nur einen autobiografischen Roman geschrieben, sondern das Portrait einer Generation. Doch es verwundert nicht, dass Rohstoff nie Eingang in den Kanon der Generationenromane gefunden hat; weder hatte Fauser je einen solchen, doch immer auch anmaßenden Anspruch erhoben, noch eignet sich seine Erzählung zur Mythenbildung. Von vielen wurde der Roman gar als »Abgesang auf die 68er« aufgenommen, was von Fauser jedoch nachdrücklich zurückgewiesen wurde.

Als bereits 1984 mit Rohstoff Fausers mal liebevoller, mal beißend polemischer Blick auf die Studentenbewegung veröffentlich wurde, waren wohl die wenigsten bereit für eine solche selbstironische Rückschau auf ihre Jugend. Umso mehr ist zu hoffen, dass Rohstoff heute, fünfzig Jahre nach 1968, zum ersten, zum zweiten oder zum zehnten Mal gelesen wird.

Text: Jörg Fauser, Rohstoff (Diogenes 2009)

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#32 Jörg Fauser: Rohstoff

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