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#30 Volker Weidermann

#30 Volker Weidermann: Lichtjahre

von Moritz Junge

Die Leserinnen verbleiben am Ende von Lichtjahre somit nicht orientierungslos. Sie sind nun aufgefordert, sich selbst noch einmal oder zum ersten Mal auf die Reise durch die deutsche Literatur nach 1945 zu begeben, denn zur Orientierung reicht niemals nur eine Karte, ein Navi­gationsgerät – und auch nicht ein Buch.

Im Museum Frieder Burda in Baden-Baden wurde vor einer Woche (am 9. Juni 2018) die Ausstellung »The Substance of Light« von James Turell eröffnet. Seit fünf Jahrzehnten widmet sich Turell nun schon dem Licht und der menschlichen Wahrnehmung von diesem. Dabei ist ihm nicht daran gelegen, dem Menschen Orientierung zu verschaffen. Ganz im Gegenteil: Turells teils diffuse Lichtinstallationen, Farbnebel und geometrische Figurationen führen ihre Rezipientin nicht selten an die Grenzen der eigenen Wahrnehmung und entfachen so ein Gefühl von Unendlichkeit.
Ganz ähnlich mag es den Lesern von Volker Weidermanns Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute ergehen, wenn auf 300 Seiten 134 Schriftstellerinnen und Schriftsteller in atemberaubendem Tempo an ihnen vorüberhuschen. Manch einer mag dies als einen Mangel empfinden, erhoffte er sich doch von einer Literaturgeschichte Orientierung in der unüberschaubaren Mannigfaltigkeit der Galaxis deutscher Literatur nach 1945. Doch gerade hierin besteht die unheimliche Stärke von Weidermanns Buch. Mit Tempo und Verve reisen die Leserinnen mit Weidermann von einem Sternensystem der Literatur zum anderen. Neben Großaufnahmen und Überblickswissen der relevanten Autorinnen und ihrer Werke werden Proben genommen, die dem Leser – wenn auch nur kurz – tiefe Einblicke in die Werke ermöglichen. So bei Gottfried Benn:

»Wer allein ist, ist auch im Geheimnis, /immer steht er in der Bilder Flut, /ihrer Zeugung, ihrer Keimnis, /selbst die Schatten tragen ihre Glut.« (48)

Oder bei Irmgard Keun aus Für Joseph Roth:

»Die Trauer, Freund, macht meine Hände dumm, /Wie soll ich aus dem schwarzen Blut der Grachten Kränze winden? /Das Leid, mein Freund, macht meine Kehle stumm, /Wo bist du, Freund, ich muss dich wieder finden.« (99)

Zudem wird der Leser von Weidermann auch in den Kontext eingeführt. Einflüsse und Wirkungen der Werke einzelner Schriftsteller werden genauso benannt wie die Verflechtungen der Literatur mit dem Kulturleben und der Politik. Weidermann nimmt die spezifische Rolle der Literatur in der DDR in den Blick und macht zugleich das Lebendige der Literatur zu allen Zeiten sinnlich erfahrbar:

»Und Plenzdorfs zweiter Hit, Die Legende von Paul und Paula (1973), wurde erst im Kino zu einem Massenereignis, als das es noch heute berühmt ist. Paul liebt Paula, beide brechen aus einem Ehekäfig aus, lassen sich von keiner sozialistischen Wirklichkeit aus der Liebe bringen, lieben sich, reden, träumen, leben, bekommen Kinder, bis bei der Geburt des dritten Paula stirbt. Am Ende stehen die Sätze: »Ideal und Wirklichkeit gehen nie übereinander. Ein Rest bleibt immer.« Banal und wahr, und alle, alle weinten. Ein Buch, ein Film, die beinahe jeder in den siebziger, achtziger Jahren Aufgewachsene kennt, mit denen jeder groß geworden ist, im Westen und im Osten – welcher Schriftsteller kann das sonst von sich sagen?« (116)

Ab und an tauchen in Weidermanns Lichtjahre dann auch fast vergessene oder uns heute noch gänzlich unbekannte Autorinnen und Autoren auf, wie Gert Ledig, der jene von Winfried Georg Sebald konstatierte Lücke der schriftstellerischen Vernachlässigung des Leids der deutschen Bevölkerung im Luftkrieg der 1940er Jahre schon unmittelbar nach Kriegsende mit seinen Romanen gefüllt hatte.
Fraglos ist Weidermanns Literatur­geschichte nach 1945 auch eine persönliche. So werden manche Autorinnen wie Christa Wolf en passant kritisiert. Doch jederzeit macht Weidermann deutlich, dass es sich hierbei um persönliche Geschmacksurteile und nicht um ästhetische Verurteilungen per se handelt.

Die Leserinnen verbleiben am Ende von Lichtjahre nicht orientierungslos. Sie sind aufgefordert, sich selbst noch einmal oder zum ersten Mal auf die Reise durch die deutsche Literatur nach 1945 zu begeben, denn zur Orientierung reicht niemals nur eine Karte, ein Navigationsgerät – auch nicht ein Buch. Nicht einmal eines, das verspricht, literarische Lichtjahre auszumessen.

Text: Volker Weidermann, Lichtjahre (Kiepenheuer & Witch 2006)

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#30 Volker Weidermann: Lichtjahre

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