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#28 Silvia Bovenschen

#28 Silvia Bovenschen: Über-Empfindlichkeit

von Holm-Uwe Burgemann

Es gibt Frankfurter Ikonen, denen man nicht ent­kommt. Und es gibt solche, von denen man schlim­msten­falls nie hören wird. Zu den ersteren gehört das Männer­quartett des Grand Hotel Abgrund, der so genannten Frank­furter Schule. Zu den letzteren zählt Silvia Bovenschen.

Es gibt Frankfurter Ikonen, denen man nicht entkommt. Und es gibt solche, von denen man schlimmstenfalls nie hören wird. Zu den ersteren gehört das Männerquartett des Grand Hotel Abgrund, der so genannten Frankfurter Schule. Zu den letzteren zählt Silvia Bovenschen. Ihre knappe Biografie auf den Schutzumschlägen ihrer Bücher lässt nicht erahnen, dass sie einer der Menschen war, der die Protestkultur und die Befreiungsabsichten der kulturellen Linken ebenso zuzurechnen ist, wie den bleichen Männergesichtern der Studentenbewegung. Ihr Grundlagenwerk Die imaginierte Weiblichkeit (1979) schiebt sie schnell auf die Seite der deutschen Vorkämpferinnen weiblicher Befreiung, derer wir uns heute, und noch dazu inmitten der geistigen Etappe der sich auflösenden Geschlechtergrenzen, auf ähnliche Weise nicht mehr bewusst sind. Doch mehr als von den dann doch weltlichen Kämpfen, ist der Blick auf diesen starken Menschen begleitet von einer Wehmut ob dessen immer greifbaren, immer wahrscheinlichen Endes. Silvia Bovenschens unübersehbare Stärke rührte wohl nicht allererst, aber letztlich auch von ihrem Kampf mit der Krankheit MS. Die Multiple Sklerose, die ab ihren 20er Jahren ein langanhaltender Riss in ihr Bild einzog. Zwei Buchstaben, die ihre geringere Präsenz ebenso begründen wie sie ahnbar machen, wozu Bovenschens wacher Geist wohl befähigt war. Anders gesprochen: Wäre sie ihrem Leben am existenziellen Abgrund entkommen, könnten wir ihr dann entkommen, wäre nicht auch ihr weiblicher Bann von ähnlichem, wenn nicht größerem Glanz?
Jede Würdigung Bovenschens ist auch ein Abgesang. Jede Ikonisierung dieser bewundernswerten Denkerin, erscheint als posthumer Preis hinter deren Nachdrücklichkeit ihr sowieso schon wenig bekanntes Werk noch bescheidener zurücktritt. Und doch sind dies gute Gründe Bovenschens schmerzliche Geschichte als maßgebliche Anekdote eines kritischen, deutschen und noch dazu weiblichen Bewusstseins zu inthronisieren.Das Erhabene in ihrer Biografie soll indessen nicht schmälern, welche Gewalt sich uns in ihrem akademischen und später schriftstellerischem Werk zeigt. So ist diese Sentimenthek dann immer auch ein Ort des Aufhebens der Anekdote in seinem doppelten Wortsinn.
Ihr Buch Über-Empfindlichkeit. Spielformen der Idiosynkrasie, das im Jahr 2000 erschien, ist heute eine ungeahnte Randgestalt in mancher akademischen Arbeit und bietet deshalb wohl die richtige Ausgangslage für eine Annäherung an Silvia Bovenschen, die im Oktober vergangenen Jahres starb und von jenen, die sie auch nur flüchtig und selbst nicht persönlich kannten, wohl lange liebevoll erinnert werden wird.

»Etwas hat uns für einen kurzen Moment erstarren lassen: ein Geruch, ein Zeichen, eine Bewegung, ein Wort, ein Bild, ein Ton, vielleicht auch die Kombination mehrerer Zeichen, mehrerer Gesten, mehrerer Wörter – ein Detail, nicht der Aufregung wert, und doch hat es uns für einen Augenblick in schrille Aufregung versetzt; ein Detail nicht der Beachtung wert, und doch hat es alle Beachtung auf sich gezogen; eine Äußerlichkeit, die uns ins Mark traf: der Zuckerlöffel, der zunächst dem Transport des Zuckers zur Tasse diente, dann zum Umrühren verwendet und in feuchtem Zustand in die Zuckerdose zurückgesteckt wurde und an dessen Schaufel sich nun gelb-bräunliche Zuckerkristalle gebildet haben; das Buttermesser, mit dem man zuerst die Butter auf dem Brot verteilt hatte und das dann helle Schlieren im Marmeladeglas zurückließ, das Knirschen des verstreuten Zuckers auf dem Küchenboden, das Quietschen der Kreise auf der Schultafel, der Geruch nasser Pelze, der Fettfilm am Weinglas, die Haut auf der Milch, die Art, wie ein Ei geköpft wurde, ein falsches Wort …« (11)

Auch wenn Bovenschein anfänglich bemerkt, dass schon begriffsgeschichtlich wenig semantische Klarheit herrscht, was eine Idiosynkrasie denn eigentlich sei, wissen wir doch schon jetzt, dass sich dieses »Begriffschamäleon« irgendwo zwischen diesen uns aus eigenen Ansichten bestens bekannten Alltagsbeobachtungen vor die Augen läuft. In seinen über Jahrzehnte aufmerksam geführten Cahiers schreibt Paul Valéry, wie er seit seinen Kindestagen das Gurren der Turteltauben wie auch den Geruch des Basilikums verabscheute. Theodor W. Adorno, der erste Geiger des ikonischen Männerquartetts, hatte, erst eine schicksalshafte Abneigung gegen die Worte »keusch« und »sittlich« und dann gegen – wie sollte es auch anders kommen – gegen die »Synthese« als Knotenpunkt der Versöhnung zweier aneinander reibender philosophischer Gegenstände. Diese persönlichen Geständnisse bezeugen, dass im Begriff der Idiosynkrasie jene »Nichtigkeiten« ausgedrückt sind, die eine »panische Macht« über uns ausüben und die wir dann entweder als bloße Marotte des Alters entschärfen oder mit Gründen für diese ihrer Sache nach grundlosen und bisweilen recht kapriziösen Aversionen rationalisieren wollen. Die Idiosynkrasie ist ein Makel, aber auch eine wahrhaft unbändige Kraft. Sie ist, so Bovenschen zu Beginn, das »höchste kritische Organ«, das sich im Positiven wie im Negativen als besondere Eigenschaft seines Besitzers umgehend bemerkbar macht. Walter Benjamin erhebt die Idiosynkrasie mit einem Seitenblick zum österreichischen Skandalschriftsteller und Herausgeber der legendären Zeitschrift Die Fackel Karl Kraus zu einem regelrechten Furor poeticus, der auf die Gesamtheit des Menschen durchdrückt:

»Wenn Stil die Macht ist, in den Längen und Breiten des Sprachdenkens sich zu ergehen, ohne darum ins Banale zu fallen, so erwirbt ihn zumeist die Herzkraft großer Gedanken, welche das Sprachblut durchs Geäder der Syntax in die abgelegensten Glieder treibt. Ohne daß [Karl] Kraus nun solche Gedanken sich einen Augenblick lang verkennen ließen, ist doch die Herzkraft seines Stils das Bild, wie er sich selbst von sich im Inneren trägt, um es auf schonungsloseste zu exponieren. Ja, er ist eitel […] Und wenn er dann seiner Eitelkeit opfert – er müßte nicht der Dämon sein, der er ist, wäre es nicht zuletzt er selber, sein Leben und sein Leiden, die er mit allen Wunden, allen Blößen preisgibt. So kommt der Stil zustande und mit ihm der typische Fackelleser, dem noch im Nebensatz, in der Partikel, ja im Komma stumme Fetzen und Fasern von Nerven zucken, am abgelegensten und trockensten Faktum noch ein Stück des geschundenen Fleisches hängt. Die Idiosynkrasie als höchstes kritisches Organ – das ist die verborgene Zweckmäßigkeit dieser Selbstbespiegelung und der Höllenzustand, den nur ein Schriftsteller kennt, für den jeder Akt der Befriedigung zugleich zu einer Station des Martyriums wird […]« (Walter Benjamin, Karl Kraus. Literarische und ästhetische Essays, 1977)

Solche Idiosynkrasien sind »nicht programmierbar, einklagbar und daher ohnmächtig, das heißt: ohne Macht.« Und doch kann es sich als fatal erweisen, zu glauben, sie ließen sich einfach einseitig kognitiv in ein Vorurteil, affektiv ins Ressentiment oder ästhetisch in eine Regeldoktrin abbauen. Die Idiosynkrasie ist für den unter ihr leidenden Menschen konstitutiv. Und sie ist auch ein mitunter seismographisches Potential. So erkennt Goethes Gretchen den maskierten Mephistopheles, was diesen sichtlich erstaunt.

»Es ist so schwül, so dumpfig hie, […] Es wird mir so, ich weiß nicht wie – […] Mir läuft ein Schauer über’n ganzen Leib« – (Johann Wolfgang Goethe, Faust I)

Für Gretchen ist das »Bauelement Wissen« geradezu abträglich. Sie spürt, wer er ist, auch wenn sie in seinem Angesicht meint, es wären seine Äußerlichkeiten, das »Gewand der Physiognomik«, in welches er gekleidet ist, die ihn ihr offenbaren. Mephisto ist die personifizierte Idiosynkrasie, das unübergehbare Jucken auf der aufgekratzten Haut.

»MEPHISTOPHELES: Und die Physiognomie versteht sie meisterlich. In meiner Gegenwart wird’s ihr sie weiß nicht wie, Mein Mäskchen da weissagt verborgnen Sinn; Sie fühlt, daß ich ganz sicher ein Genie, Vielleicht wohl gar der Teufel bin.« (Ebd.)

Bovenschen gelingt in diesem Kapitel des plateauhaft gebauten Buchs eine Top-Notch-Theoretisierung von Faust, die in ihr nicht nur die Literaturwissenschaftlerin sondern auch die brillante Essayistin zum Vorschein bringt. Überhaupt ist bemerkenswert, wie breit die Auswahl der zwölf Kapitel ausfällt, die sich je einem oder gar mehreren besonderen Merkmalen der Idiosynkrasie widmen und einen kaum vorstellbaren Überblick voraussetzen. Ihr gelingt es, Adornos philosophische Methode ebenso von seinen begrifflichen Abneigungen herzuleiten, wie gegen Ende auf knapp fünf Seiten das Zigarettenholen im Kontext einer verpassten »Souveränität des Scheiterns« zu deuten. Darin schwingen wohl auch die Einsichten ihres eigenen Lebenswegs mit. Manche uns misslingende menschliche Beziehung lässt sich so auffalten – und plötzlich sehen wir schmerzhaft ein, woran es liegen kann, dass wir mit dieser einen, uns eigentlich wichtigen Person nie ganz warm werden. So bekommt dieses Buch immer wieder eine wenn nicht tragische, dann doch schwermütige Note: die Hoffnung gibt es, aber mit einem großen nervlichen Preisschild versehen.
Das durchschlagende Argument des Buchs ist die Idiosynkrasie als ein Schlüsselgefühl der Spätmoderne, das den alltäglichen Konformismus und die Konventionalität jeder Lebenslage zu durchtrennen vermag. Ihre Regungen in uns sprengen unsere Sehgewohnheiten, die sich untereinander in ihrer Immergleichheit nicht unterscheiden. Gerade in der Kunst, wo Picassos Malerei schnell in Nachbarschaft zum vormals ästhetisch minderwertigen Schweinebraten steht, wird über Wert und Unwert des Bildes auf dem Feld der »sensoriellen Plausibilität« entschieden. Im Geschäft der Kunst werden idiosynkratische Animositäten so zum Gegenstand der Kunstpädagogik. Auf der Spielwiese der eigenen mondänen Aussichten stellt sich die Frage, ob es nicht lohnenswert ist, seine Idiosynkrasien als Schlüssel zu verstehen und deshalb auszuhalten. Der aufmerksame Leser wird nun fragen: Ein Schlüssel? Ein Schlüssel zu was?

Ich wage zu behaupten, dass Bovenschens Buch diese Antwort schuldig bleibt. Aber nur um das Wichtigere gleich nachzuschieben: Sprache war auf Seiten des akademisch ausgerichteten Schreibens selten schöner und Einsicht selten anrührender als durch ihre Hand. Und allein das macht die späte Begegnung mit Silvia Bovenschen reizvoll.

Text: Silvia Bovenschein, Über-Empfindlichkeit (Suhrkamp 2000)

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#28 Silvia Bovenschen: Über-Empfindlichkeit

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