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#27 Italo Calvino

#27 Italo Calvino: Der Baron auf den Bäumen

von Konstantin Schönfelder

Die Literatur! Wer nur noch literarisch lebt, lebt, wie er vom Leben liest; der wird bald in ihr verschwinden und schließlich von ihr aufbewahrt. Gian dei Brughi ist die Romanfigur geworden, mit der er gestorben ist.

Das Buch, das am ehesten von sich behaupten kann, zugleich Kinderbuch und Weltliteratur zu sein, ist wahrscheinlich Antoine de Saint-Exupérys Der kleine Prinz. Die magische Erzählung des Planetenbummlers ist so wunderbar leicht, elegant und anregend, dass sie Kinder und sogenannte Erwachsene lesen – nur eben ganz anders. Calvinos Baron, der auf den Bäumen lebt, trägt eine ähnlich ergreifende Idee. Nur ist diese weniger kosmisch, sondern eher komisch.

»Es war der 15. Juni 1767, als Cosimo Piovasco di Rondò, mein Bruder, zum letzten Male in unserer Mitte saß. Wir befanden uns im Speisesaal unserer Villa in Ombrosa; die dichten Zweige der großen Steineiche des Parks umrahmten die Fenster. [...] Der Wind wehte vom Meer her, das weiß ich noch, und die Blätter bewegten sich. Cosimo erklärte: »Ich habe gesagt, daß ich nicht will, und ich will nicht!« (5)

Er will nicht dieses Leben seines Vaters führen, das voller umständlicher, adliger Verpflichtungen ist. Cosimo will nicht gegen die Schnecken, sondern mit ihnen leben. Deshalb treibt es ihn vom Mittagstisch der Villa Ombrosa in die Kronen der Johannisbrotbäume, der Aprikosenbäume, der Kastanienbäume. Und wer glaubt, dass Cosimo bloß pubertiert, wird von seinem Lebenslauf eines Besseren belehrt: So ernst nimmt er diese kindliche Idee, dass er an ihr das Kindliche selbst ausbleicht. Mit 12 Jahren flieht er auf die Bäume, sein Leben lang liest und studiert er dort, jagt, liebt auch und paktiert. Und sein kleiner Bruder, der rückwirkend Cosimos Geschichte erzählt, verleiht der kindlichen Vorstellung noch ihre philosophische Idee.

»Mein Bruder ist der Meinung, [...] daß einer, der die Erde deutlich sehen möchte, den Abstand einhalten muß.« (208)

In diesem Projekt des Annäherns durch ein beständiges Abstoßen sagt er etwas über die Umwelt, in der auch wir leben, nur eben bodenständig. Cosimo lebt und handelt affektiv, springt vom Tisch auf, kehrt nicht wieder zurück und kann auch nicht wieder zurückkehren – um sich selbst seine Wahrhaftigkeit zu beweisen. Später aber handelt er aus Überzeugung: Das Leben auf den Bäumen ist ein besseres Leben, denn nur darin – eine geradezu revolutionäre Vorstellung – kann das menschliche Verständnis von Eigentum und Besitz neu gedacht werden. Der Mensch, zeigt Cosimo, treibt sich ins Unglück, weil er auch noch die Natur selbst beherrschen und, ja, sogar besitzen will:

»Ich weiß nicht, ob es zutrifft, was man in den Büchern lesen kann, daß in alten Zeiten ein Affe, wenn er sich von Rom aus auf den Weg machte und von Baum zu Baum sprang, Spanien erreichen konnte, ohne jemals den Boden zu berühren. [...] Als die Franzosen kamen, hatte man damit begonnen, Wälder abzuholzen, als wären es Wiesen, die man alljährlich abmäht und die dann wieder wachsen. Sie sind nicht wieder gewachsen.« (42–43)

Einmal begegnet er Gian dei Brughi, dem gefürchtetsten Banditen der Region, selbst unter den größten Obstdieben eine Legende. Dieser Verbrecher – der er zweifellos ist, denn er hatte bereits Menschen getötet – leiht sich auf den Bäumen ein Buch von Cosimo aus, dann werden es Bücher und schließlich lebt er nur noch in den Geschichten seiner Romanhelden. Im Gefängnis – er wurde zu einem letzten Überfall gezwungen, und lustlos wie er war, dabei ertappt und festgenommen – liest ihm Cosimo von den Abenteuern Jonathan Wilds vor. Dass dieser ein ganz ähnliches Leben führte, tröstete ihn so sehr, dass er kurz vor seiner Verabredung mit dem Galgen noch in der Erzählung seine Heilung fand. Cosimo las ihm durch die Gitterstäbe der Gefängniszelle hindurch vor, dass auch Jonathan am Galgen starb.
Die Literatur! Wer nur noch literarisch lebt, lebt, wie er vom Leben liest; der wird bald in ihr verschwinden und schließlich von ihr aufbewahrt. Gian dei Brughi ist die Romanfigur geworden, mit der er gestorben ist. Und wir sehen, dass Calvinos Roman nicht ganz ein Kinderbuch sein kann – auch wenn es tatsächlich eine davon verschiedene Kinderbuchfassung gibt – weil es nicht nur andeutet, sondern auszudeuten sucht.

Cosimo hatte etwas im Sinn, »dass alles umspannen sollte«. Etwas Großes, das er nicht mit Worten ausdrücken konnte, das überhaupt mit Worten unausdrückbar war. Allein mit dem Leben, das er lebte, sagt es uns etwas.

Text: Italo Calvino, Der Baron auf den Bäumen (S. Fischer 1957)

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#27 Italo Calvino: Der Baron auf den Bäumen

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