Im postmodernen Denken ist Bartleby zu einer Heldenfigur geworden. Er weigert sich, den bestehenden Normen zu folgen. Er handelt widerständig, indem er nicht handelt. Für Gilles Deleuze ist Bartleby ein Prophet, der genau damit eine Botschaft verkündet: »Ich möchte lieber nicht«.
»Ach, Bartleby! Ach, Menschheit!« In diesem Seufzer endet die kurze Geschichte Melvilles und es ist sinnvoll, diese von ihrem Ende her zu lesen. Das Seufzen bedeutet: Der Eine, Bartleby, ist nicht Teil der Anderen, der Menschheit. Bartleby ist zwar ein Mensch, er ist sogar zutiefst menschlich, aber er ist so merkwürdig, dass die Menschheit ihn nicht in sich aufzunehmen vermag. Man könnte sagen, Bartleby ist ein krasser Außenseiter. Und er reflektiert ausgezeichnet die Außenseite des menschlichen Lebens. Und es zeigt sich, wie gegenwendig die Vorstellung von der Außenseite des Inneren eigentlich ist. Denn der Außenseiter ist ja auch derjenige, der an sich zeigt, wie merkwürdig die Innenseiter eigentlich sind.
Bartleby möchte lieber nicht. Das ist die ikonische Formulierung, die jedem im Gedächtnis bleibt, der Melvilles Erzählung liest. Er möchte lieber nicht mehr tun, als in seiner Stellenbeschreibung steht. Er ist Kopist in einer Anwaltskanzlei an der Wall Street zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Seinem Vorgesetzten helfen, die Kopien mit seinen Kollegen zu vergleichen? Das möchte er lieber nicht. Bartleby möchte auch nicht zur Post gehen und er möchte auch nicht das Büro verlassen, als ihm gekündigt wird. Er möchte nicht einmal »den Finger auf das Ende eines roten Buches […] drücken, mit dem ich gerade einige Dokumente zusammenbinden wollte.« (37) Was Bartleby möchte, das erfahren wir nicht.
Im postmodernen Denken ist Bartleby zu einer Heldenfigur geworden. Er weigert sich, den bestehenden Normen zu folgen. Er handelt widerständig, indem er nicht handelt. Für Gilles Deleuze ist Bartleby ein Prophet, der genau damit eine Botschaft verkündet: »Ich möchte lieber nicht«. In seinem Essay über Bartleby schreibt dieser den schönen Satz: »Selbst die Propheten sind schließlich nur die Schiffbrüchigen der Vernunft.« Irgendetwas ist also mit Bartleby, etwas ist angeknackst oder gar gebrochen. Dieses Etwas expliziert Bartleby nicht, aber er zeigt es an und jeder, der mit ihm in Berührung kommt, merkt davon.
Sogar seine Sprache schleicht sich in seine Gegenüber ein. Sein Vorgesetzter, der Rechtsanwalt, kann sich dem sich Entziehenden nicht entziehen. Was dieser zuvor noch in barschem Ton befahl, möchte er nun von Bartleby. Plötzlich möchte er lieber, dass sein Angestellter den Raum verlässt, was ihm zuvor nie in solch bittendem Ton in den Sinn gekommen wäre. So kultiviert Bartleby einen neuen Umgangston in seinem Leben. Und seine Mitmenschen, wie der zuweilen schroffe Anwalt, können ihm nicht einmal böse dafür sein:
»Aber irgendetwas entwaffnete mich nicht nur auf sonderbare Weise, sondern rührte und verwirrte mich auch zu meinem großen Erstaunen.« (28)
Das Irgendetwas bewahrt seinen Geheimnischarakter bis zum Schluss und erinnert damit an die Titelfigur von Melvilles bekanntestem Werk, Moby Dick. So weiß wie der Wal, so blass ist der Schreiber. So wie der Wal lässt Bartleby uns zweifeln, wer der Jäger und wer der Gejagte sei. Die Gegensätze sind schließlich ununterscheidbar geworden.
Indem er sich verweigert, pausiert für einen Augenblick das Geschäft, das auf ein Immerfort und Immerweiter ausgerichtet ist. Der Geist Bartlebys bricht in die kurzen Pausen ein, wenn der Anwalt des Kapitalismus denkt:
»So wahr es ist, so furchtbar ist es auch, dass der Anblick des Elends oder der Gedanken daran zwar bis zu einem gewissen Grade unsere besten Gefühle wachruft, in bestimmten Fällen aber über diesen Punkt hinaus nicht mehr.« (43)
Text: Herman Melville, Bartleby der Schreiber (C. H. Beck 2015)
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