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#22 Hartmut Böhme

#22 Hartmut Böhme: Aussichten der Natur

von Moritz Junge

In Aussichten der Natur geht es Böhme um nichts weniger als den Versuch zu zeigen, dass die Natur auch in der west­lichen Tradition nicht not­wendiger­weise im Gegen­satz zur Kultur gedeutet werden muss.

»Natur! wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend aus ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie hineinzukommen.«

So beginnt ein lange Goethe zugeschriebenes Fragment mit dem Titel »Natur«, das in Wirklichkeit von Christoph Tobler stammt. Etwas mehr als 200 Jahre später, also gemessen an der Erdgeschichte einen Wimpernschlag darauf, erscheinen uns solche Gedanken fremd, ist die Natur für uns doch eigentlich nur noch jenes von den Naturwissenschaften entzauberte Etwas, das uns in der Freizeit als Sehnsuchtsort oder als willkommene Umgebung beim Sport dient. Hartmut Böhmes Essay Aussichten der Natur führt uns auf den ersten Seiten vor Augen, was es heißt, im »Zeitalter nach der Natur« zu leben
In acht pointierten Thesen wird deutlich, dass die »Natur« nur noch in der Rückschau erkennbar ist. Natur erscheint so wahlweise als Konstrukt westlicher Gesellschaften, die sich von dieser gänzlich entfremdet haben – oder aber als männliche Imagination einer weiblich verfügbaren Ressource für Wissenschaft, Technik und Ökonomie. Und auch der in der Beschäftigung mit dem Klimawandel geschaffene Begriff des Anthropozäns betont, dass die von der menschlichen Kultur unabhängige Natur endgültig abgedankt hat. Welche Brille man also auch aufsetzt, um noch einmal zurück auf die Natur zu schauen. Sie verschwindet wie ein am Straßenrand stehender Tramper im Rückspiegel.
Aber Halt! Am Horizont sehen wir, erst noch undeutlich, nach kurzer Weiterfahrt aber klarer, jenen Tramper, den wir eben noch hinter uns glaubten. Wie kann das sein? In Aussichten der Natur geht es Böhme um nichts weniger als den Versuch, zu zeigen, dass die Natur auch in der westlichen Tradition nicht notwendigerweise im Gegensatz zur Kultur gedeutet werden muss:

»Es geht mithin um die Selbstbehauptung naturästhetischer Positionen, die umzingelt sind von mächtigen Theorien, die auf deren Liquidierung zählen.«

Für seine Argumentation lädt Böhme uns auf einen kurzen Gang entlang ausgewählter Bilder der Kunstgeschichte ein, durch deren Darstellung und Beschreibung er jene Evidenz bei seinen Leserinnen hervorrufen will, die nur in der Begegnung mit der Natur und der Kunst erscheint. Wenn wir diese Ästhetik der Natur nur wieder zuließen, wenn wir uns wieder von der Natur und ihren Atmosphären verzaubern ließen, dann, so schreibt er, wäre jene Versöhnung mit der Natur, von der noch Karl Marx träumte, kein fernes Ziel einer Zukunft, in der wir und unsere Autos längst verschwunden sind. Vor mehr als 200 Jahren, etwas mehr, hatte man das gewusst:

»Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arm entfallen.«

Text: Hartmut Böhme, Aussichten der Natur (Matthes & Seitz 2017)

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#22 Hartmut Böhme: Aussichten der Natur

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