Den beiden Schriftstellern beim anfänglichen Spazieren lesend zuzusehen, bleibt die beruhigteste Sequenz des gesamten Buchs. Was danach kommt, was über uns hinwegfegt, ist ein wüster wilder Ritt durch alle Möglich- und Unmöglichkeiten hindurch, die das Lebensleiden des liebenden Menschen – nicht nur in der russischen Gesellschafts- und Lebenswelt der 1930er Jahre, in der die Handlung verortet ist – bestimmt.
Abend in Moskau. Zwei Schriftsteller schlendern die Patriarchenteiche entlang. Sie sind ins Gespräch versunken und lassen sich schließlich auf einer Bank nieder. Nichts deutet darauf hin, dass etwas – oder jemand – über die Beiden und die Stadt hereinbricht. Doch schon bald wird ein in dunkelgrauen Stoff gehüllter Unbekannter zu ihnen treten. Der Augenblick, in dem der Unbekannte die Bühne besteigt, ist zugleich derjenige, in dem die große allegorische Erzählung Der Meister und Margarita anhebt. Den beiden Schriftstellern beim anfänglichen Spazieren lesend zuzusehen, bleibt die beruhigteste Sequenz des gesamten Buchs. Was danach kommt, was über uns hinwegfegt, ist ein wüster wilder Ritt durch alle Möglich- und Unmöglichkeiten hindurch, die das Lebensleiden des liebenden Menschen – nicht nur in der russischen Gesellschafts- und Lebenswelt der 1930er Jahre, in der die Handlung verortet ist – bestimmt.
Zwei Hauptstränge geben der Erzählung ihr Gerüst: die gewaltsam-beunruhigenden, teils skurrilen und komischen Geschehnisse in Moskau nach dem Eintreffen des dunkel bemantelten Unbekannten; und die auf historische Korrektheit hin stilisierte Schilderung des von Schlaflosigkeit und schlechtem Gewissen geplagten Pontius Pilatus am Tage der Kreuzigung Jesu Christi. Verbunden sind beide Hauptstränge in der Figur des Titelhelden, des Meisters, der, im Moskau der erzählten Gegenwart lebend, einen Roman über Pontius Pilatus verfasst, oder besser: ihn fieberhaft bebend niederschreibt.
Der Meister und Margarita ist ein gnadenloses Kunststück, ein Lesetrip ohne Atempause, gedrängt und dahingepeitscht von einer namenlosen Erzählstimme, die – sich immer wieder direkt an die Lesenden wendend – selbst nur ein spaßig-amüsiertes Spiel mit uns im Sinn zu haben scheint, bis schlussendlich alle Handlungsstränge gleich reißenden Sturmfluten am felsenbrechenden Abhang ineinanderstürzen, sich klatschend verdrängen, wummend aufpeitschend und jeden Widerstand ersticken. Die drängende Frage, die sich uns stellt, sich allen stellen wird: War der Unbekannte nun Fluch oder Segen, hat er die Menschenwelt ins Verderben verjagt oder gandenvoll aus der Tiefe emporgehievt an einen Ort lichter Klarheit, seliger Einheit, wirklichen Wissens?
Wozu das alles, verrät der Roman uns nicht. Offensichtlich dagegen ist der Etikettenschwindel: Der Unbekannte ist ja nicht wirklich unbekannt. Ihm eilt im Motto des Buchs demaskierend voraus: Nun gut, wer bist du denn? – Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.
Text: Michail Bulgakow, Der Meister und Margarita (Hermann Luchterhand 1968)
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