Frau: Das ist dein Monolog.
A: Dann fang ich mal an.
Frau: Ein Monolog garantiert, dass die, die spricht, nicht unterbrochen wird.
A: Das will ich hoffen!
Mann: Monologe erzählen ihre Geschichte, ohne von anderen unterbrochen zu sein.
A: Schön. Soll ich anfangen?
Frau: Wir partizipieren natürlich daran.
A: Ich wollte unbedingt Stewardess werden.
Mann: Jeder Text ist für uns ein Topos, an dem sich entscheiden lässt, ob er gegenwärtig ist oder nicht.
A: Sagt man das heute so?
Mann: Die Gegenwart ist für uns ein Anspruch, der nicht mit Aktualität zu tun hat, sondern mit einer kritischen Teilnahme an dieser Zeit.
A: In der DDR-Zeit war ich ja überwiegend still.
Frau: Unser Mitschnitt deines Monologs ist eine Inszenierung des Ostens durch seine Nachkommen.
A: Jedenfalls wollte ich Stewardess werden. Als Stewardess bist du viel unterwegs, siehst was von der Welt. Immer ist was los.
Mann: Eine Stewardess ist nur eine Kellnerin der Luft.
A: Ich wollte schon Stewardess werden, als ich noch auf die Pestalozzischule in Meerane ging. Die lag über‘n Bahndamm. Eine halbe Stunde zu Fuß eine Tour. Ich bin immer gelaufen. Damals wurde alles gelaufen. Wir sind viel gelaufen. Zur großen Hofpause mussten wir unteren Klassen immer im Kreis laufen, zu dritt oder viert nebeneinander, immer in Bewegung bleiben, im Kreis. Und die größeren, die Fünftklässlerjungs, die durften schon frei laufen und sind nebenher gerannt und haben mit der Hand bei den Mädels den Rock hochgeschlagen und gerufen »Deckel hoch, der Kaffee kocht!« Meine Mutter hatte mir warme Wollschlüpfer gestrickt, in Rot. Klar, konntest du sagen, das juckt, aber das haben wir nicht gemacht, rumgejammert, das hatte meine Mutti gestrickt und das hat man angezogen.
Mann: Deckel hoch, der Kaffee kocht!
A: Tja, und bei Deckel hoch, der Kaffee kocht, waren bei mir die roten Strickschlüpfer zu sehen, und die haben sich natürlich totgelacht.
Mutter: Ihr habt alle vier Kinder selbstgenähte Sachen getragen. Oft nach Schnitten aus Frauenillustrierten. Es gab ja nichts.
A: Meerane war ein Zentrum der Textilindustrie. Da kam man an Stoffe besser ran, und meine Mutter nähte nach Schnitten aus dem Westen, die wurden ausgeschnitten und untereinander weitergegeben.
Mutter: Da wurde Transparentpapier auf die Illustrierten gelegt und mit dem Rädelmesser am Muster entlang ausgeschnitten, dann auf dem Stoff nachgezeichnet. Das Papier haben wir reihum weitergereicht.
A: Meine Mutter hatte uns Dreiviertelhosen genäht, mit rot-grün kariertem Stoff aus unserer Weberei, die ich stolz in der Schule anhatte. Und wir hatten diese über alle Ohren rote, bösartige Schildplatt, die hieß nur Schildkröte, und die hat mich vor die Klasse gestellt und mich fertig gemacht wegen der Hosen.
Frau: Guckt euch das Bourgeoisie-Kind an!
A: Meine Mutter hatte sich die Finger wund genäht und das ganze Theater mit den Schnitten, und diese rote Bonzin erdreistet sich, so ein Kind rauszuholen und vor die Klasse zu stellen und fertig zu machen, weil es angeblich Westhosen anhat. Ich habe die Knickerbocker dann nur noch zum Wandern getragen. Wir sind viel gewandert, viel gelaufen, wir haben Ausflüge gemacht, waren immer viel unterwegs. In der siebten oder achten Klasse sind wir hundert Friedenskilometer gelaufen, dafür gab‘s ein Abzeichen. Man hatte einen Pass, auf dem die Kilometer eingetragen wurden. Aber unser Klassenlehrer, der Herrn Beuchthold, der hatte gar keine Lust, so viel zu laufen, also sind wir ein Stück mit dem Schiff durchs Elbsandsteingebirge gefahren und mit der Standseilbahn hoch zur Ostrauer Scheibe, und in der Jugendherberge auf der Burg Königsstein mit Selbstverpflegung haben wir den ganzen Tag Pilze fürs Abendbrot gesammelt, und die Kilometer vom Pilzesammeln hat uns der Herr Beuchthold gleich auch noch angerechnet. Aber besonders sportlich war ich nicht. Ich habe lieber gelesen. Ich habe immer gelesen, viel gelesen, auch Bücher, die man nur heimlich lesen durfte, aus dem Westen, und wenn meine Mutter gerufen hat, weil ich in der Küche helfen sollte, dann habe ich es eben nicht gehört, es war ja ein großes Haus.
Vater: Lass sie, Anneliese. Wenn das Kind lernen will -
Mutter: Das ist doch wie beim Hitler, wie sie die Jugend verdummen. Ihr lernt, was es für Flüsse in Russland gibt, aber mit den deutschen Flüssen kennt ihr euch nicht aus.
A: In der Schule gab es die Ranzenkontrolle. Da kam der stellvertretende Direktor reingeschossen in den Unterricht und hat gesagt: Ranzen auf den Tisch! Ranzenkontrolle! Damit die Schulkinder nicht von der Schundliteratur aus dem Westen verseucht werden, sie könnten ja die Mickey Mouse-Hefte untereinander tauschen. Da muss auch mal eine Bravo dabei gewesen sein, weil der Lehrer vor Wut auf den Fensterstock gesprungen ist. Das war ein harter Hund. Der ist knallrot angelaufen und sprang aufs Fensterbrett und hat vom Fensterbrett aus gewettert. Und hinterher haben wir gesagt, warum war das Fenster nicht offen? Der war dann ruckizucki im Westen.
Vater: Lass gut sein, Anneliese. Sei still. Die Kinder müssen das erzählen, was sie in der Schule lernen.
A: Ich hatte auch ein schickes weißes Organdikleid. Das trug ich 1955 zur Silberhochzeitsreise meiner Eltern, als wir mit dem IFA-F 9 ins Kleinwalsertal fuhren, das ging damals noch, in eine kleine Pension, heute ein Landhotel. Mein einziger Ausflug in den Westen, bevor die Mauer kam. Wir machten einen Abstecher nach Bregenz zu einem Geschäftspartner von meinem Vater. Mein Vater fein im Nadelstreifenanzug und ich im weißen Organdikleidchen, damit man uns den Osten bloß nicht ansieht. Der wohnte in einer Riesenvilla und führte uns zu einem Hangar. Dort stand ein Flugzeug. Er hatte sein eigenes Propellerflugzeug. Das war ganz unglaublich. Erst recht für mich: Ich wollte ja Stewardess werden. Ich wollte unbedingt Stewardess werden. Aber die Interflug hat nur Berliner genommen. Wenn ich mich so in Schönefeld beworben hätte, als no-name aus Sachsen, für die Lehrlingsausbildung zum Verkehrskaufmann, hätten die mich nie genommen. Das hat der Hans-Georg gemanagt, mein ältester Bruder. Er war fünfzehn Jahre älter als ich und wohnte damals schon in Berlin, hatte einen Posten in der Autobranche. Ich wusste nie, was er genau machte, aber er hatte Beziehungen.
Mann: Also, Genosse Weber, dann soll sie ihren Lebenslauf mal an die Kaderleitung schicken.
A: Ich weiß nicht, mit wem er da geredet hatte. Zu mir hat der Hans-Georg nur gesagt: Schick einen Lebenslauf an den Kaderleiter der Interflug. Heute sagste Personalchef. Personal war im Osten der Kader. Personal hatte wahrscheinlich einen schlechten Touch, weil die Adligen und die Bürgerlichen Personal hatten. Da haben sie das nach russischer Sitte Kader genannt. Und dieser Kaderleiter war ein übler Bonze. Von meiner Warte her ungebildet. Proletisch, hätte meine Mutter gesagt, aber ich bekam die Zusage, ein praktisches Jahr zu machen, und danach als Lehrling anzufangen. Auszubildende, sagste heute.
Vater: Wenn du weiterkommen willst, musst du mit den Wölfen heulen.
A: Später hatte ich mal mit einem Kaderleiter im Bereich Flughäfen zu tun, der gesoffen hat. Als ich gesagt habe, ich möchte halbtags arbeiten, weil ich zwei Kinder habe, eines mit Bronchialasthma, hat der mich runtergeputzt. Was mir einfällt! Der Staat hat für mich so viel Geld ausgegeben, ich habe die höchste Ausbildung, das hat der Staat bezahlt, jetzt ist es an mir, das zurückzuzahlen, der Partei und Staatsführung zu danken, auch für die Haushaltstage und dass ich zu Hause bleiben darf, wenn das Kind hustet.
Frau: Haste denn nicht gemerkt, dass der ein bestimmtes Level hat?
A: Ich bin klein wie Socke abgezogen.
Frau: Der hatte seine Flasche im Schreibtisch!
A: Der Hans-Georg hat mir auch ein Zimmer in Mahlow bei einer Röntgenschwester besorgt mit Waschschüssel und Wasserkrug und Toilette auf dem Gang. Das war eine liebe, verhutzelte Dame mit Brille, und als sie gesehen hat, wie ich die Betten beziehe – Kindchen! Was machen Sie denn da? So hat sie mich genannt. Sie hat jeden Kindchen genannt. Wegen der Röntgenstrahlen hatte sie schon mit 36 keine Periode mehr, konnte keine Kinder kriegen. Meinen Vati hat sie auch Kindchen genannt. Wenn er zu Besuch kam, hat sie ihm erstmal zwei Spiegeleier gebraten, weil er so käbsch aussah.
Frau: Kindchen, Sie kriegen wohl nichts zu essen, Sie sind ja ganz blass!
A: Mein Vater war damals in Mahlow zu Kneippkuren. Er wurde mit kalten Güssen behandelt, weil er Gehirnbluten hatte und zu Kräften kommen sollte. Er hatte öfter Gedächtnisausfälle, die keiner erklären konnte. Wir waren oft zusammen spazieren, da zog er schon ein Bein nach. Oder hat ewig nach einem Wort gesucht und sich dann dreimal entschuldigt. Aber er hat nie geklagt, hat immer die anderen vorne an gestellt.
Vater: Drei Wochen Urlaub, unter dem geht nichts, Anneliese, darauf hast du immer bestanden.
Mutter: Wenn der Mann nicht freimachen kann, dann muss er raus, unter welchen Bedingungen auch immer!
A: Er war von Haus aus Apotheker, kannte jedes Kraut im Wald, ehe er die Weberei seiner Frau übernommen hat.
Vater: Du hast gemacht und getan, Anneliese, gekocht und gepackt für Ausflüge oder für unsere langen Urlaubsfahrten an die Ostsee, wenn wir ein Zimmer bei irgendwelchen Leuten im Hinterland ergattert hatten, mit Selbstverpflegung.
Mutter: Noch das Geschirr haben wir mitgeschleppt.
Vater: Und du hast auf irgendwelchen Töppeln das Büchsenessen im Freien abgekocht.
Mutter: Und was hat der Mann gemacht? Hat sich die Geschäftspost einfach nachschicken lassen. Dann saß er im Strandkorb oder im Liegestuhl und hat die Post erledigt!
A: Im Krankenhaus in Berlin-Buch haben sie den Tumor entdeckt. Den Krankenhausplatz hat ihm auch der Hans-Georg besorgt, dort hatten sie schon irgendwelche westlichen Methoden. Da konnte mein Vater schon nicht mehr formulieren.
Kolleginnen: Das tut uns schrecklich leid. Komm, Kleene, geh. Geh nach Hause. Was machste denn noch auf Arbeit? Mach, dass du nach Hause kommst!
A: Die haben mich fertig gemacht, die Frauen in der Buchung, so richtige Berliner. Als ich da mit meinem sächsischen Einschlag ankam, haben die mich nachgeäfft; Stulle war für mich eben Schnitte.
Kolleginnen: Was will denn die Sachsenjungsche hier?!
A: Das waren alles Frauen. Deshalb bin ich ja so gegen Frauenkollektive, weil die sind wie …, die sind sowas von bösartig. Der Chef war ein Mann. Von meinem behüteten Sachsendasein bin ich da in so ein Weiber-Bösartigkeitssyndikat gefallen. Die haben das Pre gehabt, das war ja die Buchung, wo die Reisebüros und auch Passagiere anriefen und Flüge direkt bei den Fluggesellschaften buchten. Je nachdem, welche Strecken du hattest, warst du gefragt, da konntest du schon ein bisschen jonglieren, wen du noch mitnimmst, wenn die Maschinen voll waren. Aber die Bösartigkeiten hörten auf, als mein Vater gestorben war. Den Anruf bekam ich auf Arbeit, in der Spätschicht, vielleicht so halb vier. Ich muss dagesessen haben wie so eine Bohne, und als die doofe Henne mich irgendwas gefragt hat, hab ich nur gesagt, mein Vater ist tot. Da haben sie gesagt, geh nach Hause, Kleene -
Mutter: Berlin-Buch. Das war da, wo sie den Volker nicht reingelassen haben.
Vater: Ich wollte, das der Junge in den Westen geht. Der wäre sonst kaputtgegangen.
A: Als der Volker nach’m Westen ist, war ich erst sechs. Ich sehe ihn heute noch, diesen Blick meines Bruders auf dem Gartenweg. Mein Vater verlässt mit dem Volker den Garten, geht nach links, zum Bahnhof, nehm ich an, das durfte ja keiner wissen, sonst wär mein Vater in Sippenhaft gekommen, und der Volker bleibt stehen und guckt so zu mir, und ich stand da mit meinem Puppenwagen und wusste, irgendetwas Entscheidendes wird passieren. - Ein Kind erfasst, dass da was Schreckliches vor sich geht … ‘53 war das. Und als mein Vater auf den Tod lag, haben sie ihn nicht reingelassen in die DDR. Meine Schwester und meine Mutti sind auf die Polizei gerannt, abwechselnd, und immer ist es abgelehnt worden. Das hat der Volker nie verwunden. Ich auch nicht. Hieß immer nur, Antrag stellen bei der örtlichen Polizei. Und die waren nicht freundlich wie heutzutage, da hat meine Schwester was mitgemacht und meine Mutter, und dann musstest du noch betteln oder zu Kreuze kriechen, damit dieses blöde Flintenweib den Antrag nicht gleich sonstwo hin steckt.
Mutter: Das wird noch die Generation deiner Enkel erben; diese Erwartung, dass andere einem zu Kreuze kriechen.
Vater: Der Junge musste in den Westen! Der hätte hier keine Chance gehabt. Warum ist er von der Schule geflogen? Weil er Staub von der Balustrade gepustet hat? Er sollte sich bewähren, weil er ein Bourgeoisie-Kind war, deshalb haben sie ihm zugesetzt, ihn Nachtschichten schieben lassen in der Fabrik! Er wollte Textilingenieur werden, die Fachschule machen, das ging alles nicht, weil er sich ja bewähren musste als Bürgersohn, Nacht für Nacht, du hast ihm noch das Essen im Essgeschirr hingetragen, Anneliese. Die stalinistischen Schauprozesse der ZKK in Meerane waren keine fünf Jahre her. Noch war nicht vergessen, wie sie reihenweise die Inhaber von Spinnereien, Webereien, Appreturen aus Glauchau und Meerane verhörten, folterten und vor ein Gericht stellten, dessen Urteile schon vorher feststanden. Todesstrafe. Zuchthaus. Weil wir Garn und Stoffe gegen Kartoffeln getauscht haben, um die Leute durch den schlimmsten Hunger zu bringen! Wenn die rote Hilde Köpfe rollen sehen will, dann in dubio immer contra reum! Zwei meiner engsten Geschäftsfreunde nahmen sich das Leben.
Mann: "Eine gut organisierte Kontrolle ist jener Scheinwerfer, der uns hilft, den Stand eines Apparates zu jeder beliebigen Zeit zu beleuchten und die Bürokraten und Klassenmenschen ans Licht zu ziehen."
Vater: Da blieb nur noch der Westen, Anneliese. Der Junge wäre kaputtgegangen!
A: Hieß immer nur, Antrag stellen bei der örtlichen Polizei, selbst, wenn jemand auf den Tod liegt, und die Schweinerei war, dass sie meinen Bruder dann zur Beerdigung reingelassen haben, da durfte er kommen, das verzeih‘ ich dem Staat nie, diesen Bonzen, und mein Vater hat so darauf gewartet. In Berlin-Buch, auf seinem Sterbebett, sobald die Tür aufging, hat er gehofft, dass der Volker kommt. Immer wenn die Tür aufging. Ich seh die Augen heute noch.
Mutter: Mit welchem Recht haben die eingegriffen in das Leben der Menschen? Mit welchem Recht bestimmen die, ob einer, der die Aussicht hat, in den nächsten Stunden zu sterben, seinen Sohn nicht sehen kann?
A: Telefonate musstest du auch anmelden. Da haben wir ganze Nächte lang gewartet im Krankenhaus, dass ein Interzonengespräch kommt, nach Münchberg, und dann haben die das Gespräch irgendwann gebracht oder gar nicht. Die ganze Nacht lang gewartet, der eine auf der Seite, der andere auf der anderen Seite. Ja. Und der Volker kam nicht.
Mutter: Menschenverachtend bis zum Geht-nicht-mehr, der Arbeiter-und-Bauern-Staat.
A: Alle wussten, dass es furchtbar schwer ist. Aber darüber wurde nie geredet, nie was gesagt. Jammern oder Hängenlassen; das gab’s bei uns nicht. Nur einmal habe ich meine Mutter gesehen, da war sie auch erst achtundfünfzig, wie sie vorm Kleiderschrank saß, das war ein Jahr später, und begonnen hatte, die Sachen von meinem Vater auszuräumen. Da saß sie einfach da und hat nichts gemacht.
Mutter: Dein Vater hat die Firma durch den Hitler und die Russenzeit gebracht. Hat immer gearbeitet. Auch sonntags. Kam nur zum Mittagessen aus der Webereiverwaltung nach Hause. Man hatte Mühe und Not, ihn mit Klavierspielen und Spaziergängen abzulenken, damit er wenigstens am Sonntag mal Pause macht.
Vater: Ich war der Belegschaft gegenüber verpflichtet, Anneliese. Und deinem Vater.
Mutter: Dieses elende Verantwortungsgefühl. Aber das Größte war, wenn er sich ans Klavier gesetzt hat, und ihr habt vierhändig gespielt.
A: Wenn er mich gefragt hat, ob wir nicht vierhändig spielen wollen, war ich so stolz mit meinem bisschen Klavierunterricht. In meiner ganz frühen Kindheit haben er und meine Mutter noch zusammen gespielt. Aber das konnte sie dann wegen ihrer dicken Finger nicht mehr. Das kam von der Hausarbeit, das viele Kochen für die große Familie. Auch die Geschäftsessen von meinem Vater fanden ja zu Hause statt.
Mutter: Nachdem sie ihn eines nachts abgeholt und in die russische Kommandatur verschleppt hatten, kam er am nächsten Tag wieder und hat sich hingesetzt und angefangen, russisch zu lernen. Von da an hat er jede Nacht russisch gelernt. Bis sie ihm doch einen Parteibonzen vor die Nase gesetzt und den Betrieb teilverstaatlicht haben.
A: Heute sagste enteignen.
Mutter: Am Anfang wurde noch teilverstaatlicht.
A: Am Beerdigungstag von meinem Vater war der ganze Friedhof voller Leute, sie standen sogar draußen vor der Friedhofshalle, und es hat geschneit. Am 21. April. Da war die Beerdigung. Der ganze Meeraner Friedhof war voll, und es schneite. Aber der Schnee blieb nicht liegen, die Flocken schmolzen sofort auf dem Gesicht und auf dem Grab, der Schnee hat nichts zugedeckt, er machte nichts still und weiß, es schneite bloß. Es war ja schon Mitte April. Und da kam die Karla, die Frau vom Hans-Georg, und das habe ich mir immer gemerkt, auch bei anderen Sterbefällen, da kam die Karla, als ich da am Grab stand und geheult hab, und hat zu mir gesagt, denk dran, das ist nur Selbstmitleid. Das hat mich aufgefangen, hat mich bewahrt vor den nächsten Erlebnissen.
Frau: Denk dran! Das ist nur Selbstmitleid.
A: Mein Vater wollte ja immer, dass ich studiere. Aber ich wollte Stewardess werden. Schon seit ich zehn, elf Jahre alt war, weil eine Stewardess in der Welt unterwegs ist und immer was los ist. Stewardess mit Abi. Einser-Abi. Sprachklasse auf der Erweiterten Oberschule. Heute sagste Gymnasium. Ich war die Einzige von uns vier Geschwistern, die Abi gemacht hat. Und nach dem Abi bin ich immer fein mit dem Motorroller zur Arbeit gefahren. In Berlin. Mit dem Berlin-Roller! Den Roller hatte ich von meiner Schwester. Die konnte da schon das Betriebsauto von meinen Eltern benutzen, den IFA F9. Mit dem Roller bin ich von Mahlow zur Frühschicht und Spätschicht nach Schönefeld zur Interflug gefahren oder im Sommer an die Kieskuten zum Baden in Wassmansdorf. Viel ins Theater nach Berlin, alle Theater durchgemacht, damals stand ich auf Brecht, bin immer ins BE marschiert. Ekkehard Schall und Helene Weigel, die habe ich alle fein gesehen. Mutter Courage, das war ja ihre Rolle. Der kaukasische Kreidekreis. Oder Arturo Ui mit Ekkehard Schall, das war die Inszenierung. Die Karten waren nicht teuer. Und S-Bahn konntste fahren abends, da hat sich nie einer ein‘ Kopp gemacht. Gut, man hat bestimmt geguckt rechts und links, aber da haste nicht gedacht, dass dich einer …
Mann: Damals hat dich keiner überfallen.
A: Eines Tages kam der Chef von der Buchung. Das war ein netter Mensch, loyal. Bestimmt war er auch politisch und SED und so, aber er hat das nicht gezeigt. Der hat mich zu sich gerufen und gesagt, warum ich denn nicht studieren will, eine Stewardess ist ja nur eine Kellnerin der Luft, und ich habe ihm bestimmt nicht erzählt, dass ich den Wunsch aus einem Westbuch hatte, ich war überwiegend still. In der DDR-Zeit war ich überwiegend still, je stiller, umso besser. Und da hat er mir erzählt, dass es an der HFV in Dresden die Richtung Luftverkehr gibt, und sie könnten mich delegieren, und ich kriege Büchergeld. Vielleicht hatte er mich im Auge, weil ich die Jüngste war, oder die hatten ein Kontingent. Ich würde auch immer ein Stück von der Jahresendprämie abbekommen. Das war nicht viel, vielleicht hundert Mark. Aber mein Drive zu sagen, ich mach das, war der Wunsch meines Vaters, dass ich studiere. Und da dachte ich, okay, das soll jetzt so sein.
Vater: Das Kind hat sich während des Studiums nachts eine Schüssel mit kaltem Wasser unter den Schreibtisch gestellt, um beim Lernen nicht einzuschlafen, hast du das gewusst, Anneliese?
A: Die Hochschule hat nur alle zwei Jahre Luftverkehrsstudenten angenommen. Heute heißt es Studierende. Als die Zulassung von Dresden kam, ‘66 war das, waren viele meiner Kommilitonen Quereinsteiger wie ich und alle älter, einer hatte schon als Lotse gearbeitet, eine andere den Luftverkehrskaufmann gemacht. Da haben wir zur Vorbereitung prima Aufgaben nach Hause bekommen. Mathe, Physik, Technisches Zeichnen. Und ich konnte doch mit Technischem Zeichnen nie was anfangen. Aber da hat mir eine Grundschulfreundin geholfen, die Leni. Sie war von Berufs wegen technische Zeichnerin, hatte Maschinenbauer gemacht.
Mutter: Die Leni war mit uns im Urlaub. Da lebte dein Vater noch.
A: ’61 waren wir zusammen in Himmelpfort, da war mein Vater noch dabei und meine Schwester. Es gab Pilze in rauen Mengen, wir waren auf der Havel paddeln und haben am Lagerfeuer gesungen, als in der Nacht vom 12. auf den 13. August die Panzer an unserem Campingplatz vorbei rollten in Richtung Berlin.
Mutter: Was die Panzer bedeuteten, wusste man zu dem Zeitpunkt noch nicht.
A: Was die Panzer zu bedeuten hatten, hat sich dann sehr schnell herausgestellt.
Mutter: Ein Sonntag.
A: Der 13. August war ein heißer Tag. Aber der Himmel war bedeckt. Keine Wolken, nur diese dicke graue Decke aus Hitze. Die Havel hat die Paddler in ein düsteres, unheilvolles Licht gehüllt. Das weiß ich noch. Wie unheilvoll mir die Havel erschien. Ein Fluss, der im Kreis fließt, die Mündung keine 90 Kilometer von der Quelle entfernt. Die Natur mit ihren Sinnbildern … Ab dem 13. August ging es für uns nur noch im Kreis.
Frau: Zu Beginn des Studiums waren wir erstmal vier Wochen zum Arbeitseinsatz.
A: Die Arbeitseinsätze. Die kannten wir ja schon aus Schulzeiten. Rübenverziehen im Frühjahr, Kartoffeln lesen im Herbst. Zum Studienbeginn hatte ich es noch gut, ich war im Großen Garten eingeteilt zum Schwertlilien schneiden und Laubfegen, wie das so ist in so’ m Park. Endlose Wege, wo du dann früh sagst, ach du Schande, wann werde ich denn da hinten sein. Und hinten fängst du wieder von vorne an. Die Jungs waren beim Gleisbau eingesetzt.
Mann: Gewohnt haben wir alle zusammen im Internat.
A: Ich wollte auf keinen Fall ins Internat.
Mann: Jeder Student hat bei uns einen Internatsplatz bekommen!
A: Ich hatte einen Horror vor dem Internat. In der Reichenbachstraße waren das zum Teil Achtbettzimmer. Gemeinschaftstoiletten auf dem Flur. Aber mein damaliger Freund, den ich später auch geheiratet habe, hatte Verwandte in Dresden. Da gab es eine alte Dame im Mehrfamilienhaus, die ließ sich breitschlagen und stellte mir vorübergehend ihr Wohnzimmer zur Verfügung.
Mutter: Die alte Dame zog in ihr Schlafzimmer, weil sie das andere Zimmer schon an einen TU-Studenten aus dem Sudan vermietet hatte.
A: Ich habe auf ihrem alten Sofa genächtigt mit Krug und Porzellanschüssel zum Waschen, und war heilfroh, als die Verwandten für mich Am Wilden Mann bei einem Ehepaar ein leeres Zimmer im Parterre aufgerissen haben. Zehn Quadratmeter für zehn Mark im Monat. Das waren liebe, nette Leute. Er war ein ruhiger Patron, und sie war so auf-und-auf, und ich hab das mit geschmatzten Händen genommen.
Mutter: Der Diwan, auf dem du geschlafen hast, stand früher bei deiner Großmutter im Salon. Der Spiegel war von irgendeiner Garderobe übriggeblieben, und den Schreibtisch hatte ich bei deinem Vater im Geschäft aufgetrieben.
A: Einmal drehen, mehr Platz war nicht -
Mutter: Ich hatte mit der Vermieterin ausgemacht, dass du eine elektrische Herdplatte aufstellen durftest. Wie solltest du denn kochen?
A: Ich hab nicht viel gekocht, höchstens mal Spiegeleier, die halb verbrannt waren, und die musste mein zukünftiger Mann dann essen, wenn er da war …
Frau: Na, ich habe das schon gemerkt, wenn sich Ihr Mann reingeschlichen hat.
A: Besuch mitzubringen, war verboten, Herrenbesuch sowieso. Aber meistens bin ich am Wochenende nach Hause gefahren, und wenn ich am Sonntag zurückkam, hatte ich ordentlich Essen im Gepäck von meiner Mutti. Selbstgemachtes Schmalz. Ich habe mich ganz oft von selbstgemachtem Schmalz ernährt. Ausgelassenes Schmalz mit Apfel und Speck in einer braunen Blechbüchse. Nach einer Weile durfte ich sogar den Kühlschrank mitbenutzen und das Bad, nicht mehr nur den Krug mit Wasser. Ich durfte den Badeofen benutzen und die Badewanne, die in der Speisekammer hinter der Küche eingebaut war. Ich hatte dort meine eigene Seife liegen und bin immer strikt durch die Küche durchmarschiert, ohne rechts und links zu gucken, damit nicht gesagt wird, ich stöbere herum oder mach irgendwie was.
Mutter: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.
A: Ich wurde richtig heimisch. Nachmittags kam ich um vier von der Uni und habe mich ins Bett verkrochen, weil ich nicht heizen konnte. Ich wusste gar nicht, wie das geht, wie man so einen Kohleofen anmacht. Das hat immer meine Mutter gemacht zu Hause und später meine Schwester. Ich habs probiert, da kam nur Qualm aus der Tür. Und wenn ich nachmittags kam, war die Bude eiskalt, und ich hab mich in voller Montur ins Bett gesetzt und gelernt, und als die Vermieterin eines Tages klopfte und sah, wie ich da angezogen im Bett sitze, hat sie gelacht und vorgeschlagen, mir den Ofen anzuheizen. Ich wurde so heimisch, dass ich einmal mehrere Monate lang vergessen habe, die zehn Mark zu bezahlen.
Mutter: Selbst hatten sie keine Kinder.
A: Heutzutage würde man vielleicht sagen; naja, zehn Quadratmeter, einmal drehen, aber ich war so froh, ein eigenes Zimmer zu haben! Nur im Sommer hab ich auch mal im Studentenwohnheim genächtigt. Es gab den internationalen Studentenausweis, dadurch kamen wir preiswert in anderen Wohnheimen unter, in Prag, in Poznan, in Krakau. Wir waren ja bloß zehn Mann in unserer Seminargruppe Luftverkehr, die Maschinenbauer oder Eisenbahntechniker waren bis zu dreißig Mann stark.
Mann: Wir hießen Ingenieurökonom.
A: Heute sagste Diplom-Wirtschaftsingenieur. Das habe ich mir umschreiben lassen nach der Wende. Es gab bestimmte Zweige, die anerkannt wurden. Die Interflug hat ja zuerst noch schwarze Zahlen geschrieben, bevor sie sie runtergewirtschaftet haben. Die Lufthansa. Die konnte keine Konkurrenz gebrauchen, da wurde nur noch abgewickelt.
Mann: Das Studium bestand aus Ökonomie und Technik, so wie das heute auch ist.
A: Heute sagste Wirtschaft. Damals haste Ökonomie gesagt.
Mann: Ökonomie des Kapitalismus und Ökonomie des Sozialismus, am Ende hat man gemerkt, dass alles das Gleiche ist. Das ist nur anders benannt.
A: Die Prozesse sind vom Prinzip her die gleichen.
Mann: Aber die wollten das eben besser wissen.
A: Marxismus-Leninismus musste man auch machen … Wir hatten alles Mögliche.
Frau: Verkehrsgeschichte. Internationales Luftverkehrsrecht, Völkerrecht.
Mann: Aerodynamik, Aerostatik, Experimentalphysik.
A: In Materialkunde ging es um die Flughafenanlagen, die Pisten, die Befeuerung, die Gemarkung des Vorfeldes. Das war interessant.
Mann: Das ist heute alles viel fortgeschrittener.
A: Wir hatten sogar noch Matritzenrechnung, die Vorläufer von der IT-Geschichte. Wo du die ganzen Nullen, die Nullen und die Einsen mit den anderen Nullen verrechnest … Das war schon ordentlich aufgebaut das Studium.
Mann: Das war alles ordentlich aufgebaut.
A: Im ersten Studienjahr, da habe ich nicht durchgesehen in Mathe. Ich bin in meinem Sprach-Abi nicht mal zur Wahrscheinlichkeitsrechnung gekommen, und der Herr Professor stieg bei der Vorlesung im Audimax gleich auf einem höheren Level ein. Der hat geredet, als er zur Tür reinkam, hat im Reden seinen Mantel abgeworfen und an den Fensterknauf gehängt, seinen Hut abgeworfen, da hat er schon mit Zahlen um sich geschmissen, und wir saßen alle wie die Hühnchen und haben geschrieben wie verrückt, der hat die Tafel vollgemalt mit seinen Formeln, der hielt ja von uns nichts, weil wir keine richtigen Techniker waren, wir hatten keine Mathe-Leuchten unter uns, das hat er uns mit seinem ironischen Lächeln wissen lassen.
Mann: Sie verstehen das sowieso nicht!
A: Ganze Nächte habe ich durchgeackert, die Füße in einer Schüssel voll kaltem Wasser unterm Schreibtisch, damit ich nicht einschlafe. Ich hatte einen Respekt, also mehr oder minder Angst vor dem. Später habe ich ihn am Strand getroffen, mit nackichem Oberkörper und Rucksack hintendrauf wanderte der unten am Wasser entlang; siehste, dachte ich, das ist auch bloß ein Mensch und vor dem haste so viel Spuntus gehabt.
Mann: Das war schon ein gutes Studium.
A: In Experimentalphysik kam ich mit Ach und Krach durch die Abschlussprüfung. Ich wusste nicht mal mehr, wie die Thermoskanne funktioniert.
Mann: So, Fräulein Weber, erklären Sie uns doch mal die Thermoskanne.
A: Ich hatte so viel gelernt. Ich wusste Formeln und Versuchsanordnungen und Rechenwege, und der Blödmann fragt mich, wie funktioniert die Thermoskanne? Da war Feierabend! Das vergesse ich nie. Es gibt Momente im Leben, die vergisst man nie. Die Thermoskanne. Da habe ich vielleicht rumgeeiert. Ich dachte, wieso ist denn das Wasser jetzt warm da drin? Eigentlich eine einfache Frage. Hinterher dachte ich, der wollte es mir vielleicht leicht machen; keine Frage der höheren Physik. Das Universum fragt nicht nach der Thermoskanne, das kennt keine Kausalzusammenhänge.
Frau: Das Universum kennt auch keinen Sozialismus.
Mann: Die mathematischen Grundlagen, wenn du die nicht hattest, konntest du eben nicht weitermachen, technische Mechanik oder Aerodynamik kannste dann eben nicht.
A: Meteorologie fand ich klasse. Aber wenn ich jetzt an den Himmel gucke, weiß ich gerade noch Cumulonimbus. Cumulus Congestus, aber die anderen Wolkenformationen -
Mann: Das war schon eine gute Ausbildung.
Frau: Nach der Wende hätten sie davon profitieren können. Stattdessen ging es zurück in die Steinzeit.
A: Wenn du die richtigen Leute hattest, war das eine gute Ausbildung. Ein Philosophieprofessor hat uns Kant und die Utopisten beigebracht, der war dann über Nacht weg. Das war nicht so gerne gesehen, und da hieß es, der ist wegkatapultiert worden.
Mann: Nach dem Vordiplom musste man sich spezialisieren: Ökonomie oder Technologie.
A: Ich war die Einzige, die Technologie genommen hat. Ich wollte auf keinen Fall Ökonomie machen, weil mir das zu sozialistisch war.
Frau: Sozialistisch waren wir alle.
A: Jetzt rede ich!
Frau: Ums Sozialistische kamst du nicht drumrum! In der vormilitärischen Ausbildung haben wir alle Hurra gerufen. Vier Wochen im ersten und vier Wochen im zweiten Studienjahr, und alle Mann haben wir Hurra gerufen!
A: Im Juli. Hitze hoch drei, wo sie umgefallen sind beim Exerzieren. Und der Vollidiot von Feldwebel, der alle gestriezt hat, hat mich neben dem Zug herlaufen lassen. Alleine.
Mann: Du hast einen Passgang, Kameradin!
A: Bei einer Affenhitze musste ich da nebenher marschieren, und so ein Zug besteht aus, frag mich was, dreißig Leuten und dahinter noch ein Bataillon, das waren alle Mädels aus dem gesamten Studienjahr und die Jungs, die nicht tauglich waren. Ich wusste gar nicht, dass ich einen Passgang habe. Das passiert offenbar, wenn ich mich konzentriere. Und wenn du dich konzentrierst auf so’n Marschieren, dann habe ich mich halt falsch konzentriert. Zum Glück hat niemand gelacht.
Frau: Diesen Feldwebel fanden doch alle bescheuert!
A: Sonst verlangt ja auch keiner von dir, dass man jetzt im Gleichschritt irgendwohin marschiert.
Frau: Wir hatten eine Gewehr-Attrappe über der Schulter zum Exerzieren. Einer der Jungs wurde geext, weil er auch die Attrappe nicht tragen wollte.
A: Das Schießen, ich bilde mir ein, das war am KK, stehend und liegend, auf Scheiben, da war ich auch eine der letzten. Erstens hab ich’s gehasst wie Ast, nie wieder fasst ein Deutscher eine Waffe an, so bin ich groß geworden, nach dem Krieg in der Schule, und während des Studiums lernen wir schießen am Kleinkaliber -
Frau: Ich war 1967 schwanger. Ich wäre beinahe umgekippt in der Hitze beim Appell und wurde in den Innendienst versetzt, außer beim Stabgranatenweitwurf. Das waren Eisenattrappen und mit einer traf ich die Angela aus der Kraftverkehrs-Seminargruppe am Kopf. Die Übung wurde abgebrochen, sie hatte Gehirnerschütterung. Noch nach Jahren, als ich sie traf, sagte sie, dass sie oft Kopfschmerzen hat, was mir sehr leid tut.
A: Hitze hoch drei, und wir hatten was Khakifarbenes oder Graues an. Daran erinnere ich mich, weil uns eine Frau in der Straßenbahn fragte, was wir denn verbrochen hätten. Sie dachte, wir sind aus dem Knast, als wir mit der Straßenbahn auf den Heller gefahren sind. Dort war diese Übung mit Karte und Kompass, Geocatching heißt das heute. Bei uns hieß das Marschieren mit Karte und Kompass. Und da mussten wir auch den Angriff üben, den Angriff auf den Feind mit Handgranaten, den Sturmangriff, wo keiner Hurra schreien wollte. Erst mussten wir uns einbuddeln, eine Grube machen, am Hang. Da schmeißte dich hin, damit du nicht gesehen wirst, und dann mussten wir, als der gepfiffen hat, aufspringen, den Hang hochrennen, und Hurra rufen, Sturmangriff! Und da hat keiner Hurra gerufen. Da haben wir das drei- oder viermal gemacht, und beim vierten Mal haben wir alle Hurra gerufen.
Frau: Wir haben alle Hurra gerufen.
A: Das mit der Sturmbahn in der Militärakademie war 1968. Ich war unter zwei Minuten und bekam doch noch Ausgang für meinen tschechischen Besuch, den sie mir erst versagt hatten. Wir waren ja kaserniert in der Schnorrstraße. Das war auf alle Fälle 1968, weil unsere tschechischen Freunde vor der Invasion bei uns waren und wir danach leider nie mehr was von ihnen gehört haben.
Frau: Und bei der Abschlussübung mussten wir in Gruppen im Tharanter Wald rumrennen in einer bestimmten Zeit, und es gab Stützpunkte, wo man diesen Mist abgefragt wurde, Politsachen, und wie
man 'ne Waffe auseinandernimmt … Hat mir nicht gut getan, psychisch in meiner Schwangerschaft, und als Arne geboren war, war mein erster Gedanke, möge er nie Krieg erleben.
Mann: Mein Arbeitsplatz, mein Kampfplatz für den Frieden -
A: Ich war dann Hilfsassi am Technologielehrstuhl. Da kam ich mit einer Bescheinigung an die ganze westliche Fachliteratur ran. Der Professor gab mir Recherche-Aufträge für die Bibliothek, und ich konnte die Unterlagen der IATA einsehen.
Mann: Das ist heute noch so.
A: Giftschränke, haste damals gesagt. Wo die verbotene Literatur drin war.
Mann: Die IATA ist auch heute noch der internationale Dachverband der Fluggesellschaften für das Lufttransportgewerbe.
A: Alle großen Fluglinien weltweit sind da zusammengeschlossen. Das war klasse. Aber der Professor war sowieso klasse, der wollte mich behalten. Der kam sogar nach dem Studium noch nach Schönefeld und hat gesagt, wollen wir essen gehen? Na gut, da gab‘s eh nur die Kantine. Rot-und Weißkrautsalat, manchmal Schwarzwurzel in einer dicken Soße auf grauen Abteiltellern. Aluminiumbesteck. Aber er hat mich zum Essen eingeladen und gefragt, ob ich nicht wieder zurückkommen möchte an seinen Lehrstuhl. Da wäre ich Assistent gewesen. Da hättste in vier Jahren deinen Doktortitel machen können.
Mutter: Wenn das dein Vater gewusst hätte.
A: Mein Vater wäre stolz gewesen. Aber der für mich ausschlaggebende Punkt waren die hundert Mark Berlinzulage. Ich habe mit 880 Mark bei Interflug angefangen, in Dresden hätte ich 750 Mark verdient. Das war alles nicht viel. Im Dreischichtsystem hätteste viel mehr verdient als Arbeiter. Und Berlin fand ich spannender als Dresden zur damaligen Zeit, das war relativ grau.
Mutter: Dresden ist eine so schöne Stadt. Und du wärst viel näher bei uns gewesen.
A: Für meine Mutter war die Stadt noch gefärbt von vor dem Krieg. Aber für mich war Dresden relativ grau, soviel kaputt und die Frauenkirche zerstört, und die Dresdner haben sich langsamer gedreht, bis die sich so ausgemehrt haben! Die Berliner waren lustiger und auch hilfsbereiter.
Mann: Na, komm, Mädel, jib mir mal dein‘ Koffer!
A: Die Mentalität kannte ich ja schon. Und in Dresden saßen zur damaligen Zeit noch diese Frauen in den Cafés. Dresden war immer ein bisschen feiner gewesen, Beamtenstadt, hat man früher gesagt, das war noch abgefärbt von vor dem Krieg, und diese Frauen trugen alle noch diese Handschuhe, alle in braun gekleidet, zu meiner Zeit gab’s da etliche, aber die waren nun verarmt und hielten sich den ganzen Tag mit ihren Handschuhen von vor dem Krieg an einer Tasse Kaffee fest. Für ein junges Mädchen war das nicht so verlockend.
Vater: Lass sie ruhig, Anneliese.
A: Berlin war verlockend. Außerdem hatte ich während des Studiums schon Praktika gemacht. Bei der Fracht und im Tower. Das war alles organisiert. Die haben gesagt, du gehst zur Flugsicherung, du gehst zur Disposition und du zur Frachtabfertigung. Damals kamen die Regallager gerade auf, die du auch heute noch hast, mit den Gabelstaplern, das kam damals gerade vom Westen rüber. Oder die Plattenwagen mit den Rollen darauf, statt der Stückgutverladung. Und die ersten Paletten. Ich bin nachts mit dem Roller von Mahlow nach Schönefeld gefahren und aufs Vorfeld. Da durfte unsereiner noch aufs Vorfeld. Das darfste ja heute alles nicht mehr. Ich bin nachts dahin, um zu sehen, wie die DC-9 der KLM landet und die Paletten auslädt. Die allerersten Paletten, das war was ganz Großes.
Mann: War das nicht eine DC-8? Wahrscheinlich existiert dieses Flugzeug heute gar nicht mehr.
A: Es gab sogar einen Zeitungsartikel. Da bin ich auf dem Foto vor der KLM-Maschine in meiner Nato-Kutte zu sehen.
Frau: Die KLM und die SAS haben die Interflug unterstützt, als sie nach der Wende kaputtgemacht
werden sollte. Wo wir noch vor der Treuhand skandiert haben. Da kamen lauter Unterstützungsschreiben an den Staat. Trotzdem haben sie sie pleite gehen lassen.
Mann: Die Lufthansa hatte eine Riesenangst vor Konkurrenz.
Frau: Für die Frauen ging es zurück in die Steinzeit. Auf einmal war man eine verzwergte zwangsemanzipierte DDR-Frau und die eigene Berufstätigkeit schuld an der Arbeitslosigkeit der Männer.
Mann: Ganz klar tabula rasa. Da durfte nichts übrig bleiben.
Frau: Lauter loyale, paternalistisch erzogene Töchter, die schuld daran sind, dass sich das System so lange hat halten können. Sie haben sich ja nicht gewehrt gegen Vater Staat.
A: Das ist nur Selbstmitleid.
Mann: Wurde alles abgewickelt. Dabei war die Interflug ein gut gehender Betrieb.
A: Konzern, sagste heute.
Mann: Im Betriebsteil Flughäfen waren die damals existierenden Flughäfen zusammengefasst: Schönefeld, Dresden, Leipzig, Erfurt, im Sommer Barth. Barth war geöffnet für die Ostseeurlauber.
A: Die Strecken Dresden-Barth oder Leipzig-Barth waren gut ausgelastet. Geld gab’s. Soviel kaufen konnte man sich ja nicht, und gerade die Handwerker, die massenweise das Geld hatten, warum sollten die nicht an die Ostsee fliegen. Einer meiner Kommilitonen ist in den Semesterferien als Hilfssteward geflogen. Da hätte man sich auch zum Praktikum bewerben können.
Mutter: Wolltest du das nicht immer machen?
A: Das wollte ich immer.
Vater: Das Kind wollte doch unbedingt Stewardess werden, oder nicht Anneliese?
A: Das wollte ich, aber dann irgendwie nicht mehr. Vielleicht war mir das auch zu kompliziert, weil ich den Bruder im Westen hatte. Da hättest du erst wieder deine ganzen Unterlagen einreichen müssen, wer du bist, wo du herkommst, wurdest überprüft und musstest alles ausfüllen und beantragen und machen und tun, und ich war froh, wenn ich nicht danach gefragt wurde. Aber wer weiß. Nach Prag oder Warna oder Warschau hätten sie mich vielleicht gelassen. Dafür war ich dann im Tower und bei der Flugsicherung. Ich habe gesehen, wie die Anflugkontrolle die Flugzeuge mit dem Instrumentenlandesystem runtergeleitet hat. Und die kamen nicht nur aus Warschau oder Warna. Die kamen aus Paris, Stockholm, London, Helsinki, Moskau, Havanna und Mosambik. Da mussteste gucken, welche Höhe, welcher Kurs, dass sich keine anderen Flugzeuge nähern. Zu meiner Zeit hat man die noch als weiße Pünktchen auf den Bildschirmen gesehen. Das hat mir gefallen. Das Fluglotsenalphabet. Der Funkkontakt zu den Piloten. Heute leiten dich die Computer runter.
Frau: Pilotinnen waren bei Interflug nicht erwünscht.
A: Selber im Cockpit zu sitzen, ist mir nie eingefallen. Es gab ja keine Pilotin. Was hätte man denn anziehen sollen?
Frau: Frauen durften mit dem Kleinkaliber den Feind angreifen und Hurra rufen, aber fliegen durften sie nicht. Das hat sich nach der Wende auch nicht groß geändert. In all den Jahren hat sich bei mir nur ein einziges Mal eine Kapitänin aus dem Cockpit gemeldet, ich glaube, bei der SAS. Dabei muss man nur ein bisschen Mathe können.
Mann: Wir hatten andere Sorgen.
A: Im dritten oder vierten Studienjahr gab es einen Spezialeinsatz. Da mussten wir der Eisenbahn unter die Arme greifen. Sechs Wochen lang Waggons reinigen in Berlin-Rummelsburg. Warum wir das eigentlich machen mussten, weiß ich gar nicht mehr.
Mann: Das diente der „Unterstützung der Deutschen Reichsbahn bei der Normalisierung der Transportsituation.“ Wir Jungs waren als Rangierer eingesetzt.
Frau: Wir bekamen nicht nur die schlechteren Maschinen und wurden bei der Materialzuteilung benachteiligt, wir waren auch wieder die, die putzten -
A: In der Wartungshalle im Betriebsbahnhof Rummelsburg mussten die Dreckschleudern, die aus Rumänien oder Bulgarien kamen, in einer bestimmten Zugumlaufzeit geputzt werden. Die standen nur so vor Dreck! Das heiße Wasser haben wir uns dort geholt, wo die Loks befüllt wurden; einmal ziehen und der Eimer war voll. Geschlafen wurde in Schlafwagen in Berlin-Lichtenberg, und da musste man laufen, alles laufen, immer an den Gleisen lang, endlos an Gleisen entlang, bis man endlich hinten an den Schlafwagen war, wo man sein Abteil hatte. Und ich als Unbedarfte bin da auch immer wieder hin nach dem Wochenende, und da wurden es immer weniger.
Frau: Ich war die erste, die nach drei Wochen mit Krankenschein die Aktion verließ.
A: Die anderen haben sich krank schreiben lassen, und ich war immer noch im Einsatz, bis meine Mutter merkte, dass ich am Hals Stiche habe, das waren Flohstiche, und da hat sie den Arzt geholt, der mich krankschrieb und sagte, ich soll da ja nicht mehr hin. Damit endete mein Ausflug zur Waggonreinigung.
Mann: Wenn du das heute mit Studenten machst …
A: Heute würden sie sagen, das verstößt gegen meine Aura oder was weiß ich, und ich geh vor Gericht. Damals hieß das: So, Sondereinsatz, da und da hin, und dann ist gut. Und wenn du nein gesagt hättest, hätten die gesagt, Sie sind hier falsch am Platz.
Mann: Sie kriegen ein unbezahltes Studium, Sie kriegen das Beste, was der Staat Ihnen bieten kann! Sie haben sich für das Wohl des Volkes einzusetzen, sonst sind Sie hier fehl am Platz.
A: Die Laufgräben, wo man eigentlich guckt, wie die Zugachsen beschaffen sind, waren voller Scheiße, wenn sie die Toiletten durchgespült haben.
Frau: Noch aus Kacke haben wir Bonbons gemacht -
Mann: Den Schneewinter ‘69/70 habe ich nicht vergessen. Der hat sich tief eingeprägt. Erst eine Woche theoretische Vorbereitung an der Schaffnerschule und dann Einsatz im Rangierdienst. Ich durfte in Cottbus antreten. Mit den an der Schaffnerschule erlernten theoretischen Kenntnissen – Bremswegberechnung eines Güterwagens auf nasser Schiene – konnte ich die Rangierer ins Staunen versetzen. Hatten die noch nie gehört. Musste dann aber ohne Berechnungen rangieren. Zwischen den Puffern rumspringen, um die Verkabelung zusammenzustecken. Man hätte leicht eingequetscht werden können. Uns fehlte die Erfahrung. Aber durch die Schichtzulage war die Bezahlung ganz gut.
A: Bei dem Wahnsinnswintereinbruch in Sachsen konnte man den Katastropheneinsatz schon wieder kommen sehen. An der Uni ging die Kunde rum, dass alles sich zur Verfügung halten sollte. Eisenbahngleise, Stellwerke waren im Schnee versunken, und jeder hatte Angst, dass er eingesetzt wird, die Reichsbahn hatte ja immer Schwierigkeiten. Schneeschippen bei der Hundekälte. Da bin ich mit den anderen aber gespächt zum Bahnhof, um eine Fahrkarte zu ergattern und noch rechtzeitig mit dem letzten Zug nach Hause zu kommen.
Mann: Zu Hause waren wir nicht mehr greifbar. Da konnte dir nichts passieren, Verwarnung oder Verweis oder »Sie fliegen von der Hochschule, weil Sie sich nicht für den Sozialismus eingesetzt haben«.
A: Zum Ende des Studiums kam der Seminargruppenleiter und hat gesagt, welche Stellen die Interflug hatte und wo man hingehen könnte.
Mann: Schönefeld war die einzige Option. Das war ein internationaler Flughafen.
A: Ich bin in die Technologie. Da gehörte der Startdienst dazu und die Bodengerätewerkstatt, wo die Fahrzeuge, die auf dem Vorfeld rumfahren, gewartet werden. Da hatte aber keiner auf mich gewartet, auch wenn sie uns das beim Studium eingeredet haben. Der Sozialismus braucht euch, ihr müsst euer Bestes geben. Und ich komm dahin, und die wussten gar nicht, was sie mit mir anfangen sollten. Vor lauter Schreck haben sie mir erstmal die ganzen Betriebsanleitungen gegeben von den Flugzeugen, von der IL 18 und der TU-134, das sind solche Wälzer, da steht jede Schraube, jede Niete drin, das sollte ich mir aneignen, oh Gott oh Gott. Mach das mal achteinhalb Stunden am Tag!
Mann: Sind Sie naturell oder brauchen Sie Unterstützung?
A: Ich war 23 und die einzige Frau in der Männerwirtschaft, das waren alles Männer, alles Techniker, alle zehn oder mehr Jahre älter als ich, aber die hatten die Klappe auf dem rechten Fleck. Wie die Berliner so sind. Da mussteste schon mal ne Tasse Kaffee mittrinken, vorher hat mir Kaffee nie geschmeckt. Und nebenan waren die Ladearbeiter zu hören. Wie oft hab ich einen der Ladearbeiter sagen hören: Kommste schon wieder mit deinem scheiß Soli? Steckt euch den Soli sonstewo hin! Die Ladearbeiter konnten sagen, wo’s langgeht, die brauchten sie ja, die Schichtarbeiter, denen haben sie es vorne und hinten reingeblasen.
Mann: Da ging’s halt direkt zu.
A: Nur einen gab es, schon älter, der hat gedacht, das junge Mädel, da kann er mal richtig … Der hat mir zweimal den Rücken hoch gestrichen, nach dem Motto: ob man naturell ist oder ob man Unterstützung braucht. Aber da brauchte ich den bloß anzufahren, da hatte sich die Sache erledigt. Und als der sagte, wir können ja »du« sagen, habe ich gesagt, da gehören immer zwei dazu. Da blieb es beim Sie.
Mann: Sind Sie naturell oder brauchen Sie Unterstützung?
A: Der Kollege, mit dem ich im Zimmer saß, war ein Netter, 31, aber schon ein gestandener Hase. Damals war er gerade in die LDPD eingetreten, damit er nicht in die SED musste.
Mann: Die wollten mal wieder einen Techniker in ihrer blöden Partei.
A: Die haben nicht locker gelassen, und da ist er schnell in die LDPD eingetreten.
Mann: Das war die Zeit, als der Terminal 5 neu gebaut wurde, den sie jetzt zumachen.
A: Die neue Passagierabfertigung wurde gerade eingerichtet, NPA, hat man damals gesagt, und da mussten die ganzen technologischen Prozesse vorbereitet werden, da mussten die Gepäckbänder bestellt werden und erstmal geguckt werden, welche Gepäckbänder man überhaupt braucht. Die Plattenverschiebung auf den Bändern war etwas ganz Neues. Die Counter mussten eingerichtet werden, die Lampen, die ganze Inneneinrichtung. Der Kollege ist mit mir durchs Gebäude gegangen und hat mir seine Vorschläge erklärt. Er hatte schon die anderen Abfertigungen eingerichtet und die Dollies mit entworfen, die Ladewagen. Wir durften ja nichts vom Westen kaufen, wir mussten alles nachbauen.
Mann: Wir haben alles selbst gebaut.
A: Wir haben auch unseren Bungalow und die Terrasse selbst gebaut. Nachdem das erste Kind da war. Das Grundstück hatten wir uns zusammengespart. Ursprünglich war das nur eine Pferdekoppel. Gehörte einer alten Bäuerin, ursprünglich aus Schlesien. Wir haben das Grundstück wegen der Kinder angeschafft. Jedes Wochenende ging der Betonmischer für den Mörtel. Dort hat uns der Volker häufig besucht. Den Volker haben wir nie zu Hause getroffen.
Mann: Bei der Interflug waren Westkontakte unerwünscht. Ab einem bestimmten Level hattest du besser eine astreine Kaderakte.
A: Mit dem Volker haben wir uns nur heimlich getroffen. Auf dem Grundstück oder in Dessau, im Wörlitzerpark, in Eisenach, nie am Wohnort. Auch die Kinder durften das in der Schule nie erzählen. Offiziell hatten wir keine Westverwandten.
Vater: Sei still Anneliese, die Kinder sollten das nicht in der Schule erzählen!
A: Da hat man den Kindern ganz schön was zugemutet. Dass du das ja nicht draußen rumerzählst! Mit sechs, sieben Jahren. Das war nicht leicht. Heute sagste, davon kriegen Kinder psychisch was weg.
Frau: Denk dran, das ist nur Selbstmitleid.
A: Die Karla. Die Karla ist mir manchmal auf Arbeit begegnet. Der Hans-Georg war ja in Berlin. Der wohnte mit der Karla in einem Haus mit Garten in Mahlow. Ich war nicht oft dort. Höchstens mal zum Kaffeetrinken. Der verkehrte in ganz anderen Kreisen als wir. Die Karla war Dolmetscherin, dolmetschte für britische und französische Diplomaten, da hatte sie natürlich öfter in Schönefeld zu tun. Ich habe sie manchmal übern Gang in einem Zimmer verschwinden sehen. Da saß die Parteileitung, die komplette Führungsriege. Die haben natürlich die ganze Zeit vom Volker gewusst. Das ist mir erst hinterher klar geworden. Die ganze Heimlichtuerei, das Versteckspiel all die Jahre … Wenn die gewollt hätten -
Mann: Ohne astreine Kaderakte warst du bei Interflug nicht gern gesehen.
A: Wenn die gewollt hätten, hätten sie dich jederzeit in die Produktion stecken können, ans Fließband oder sonstwo hin.
Frau: Die Qualifizierungseuphorie der DDR kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ingenieurinnen, Technikerinnen und Erfinderinnen propagandistisch verkündete Ausnahmen waren. Technisch qualifizierte Frauen füllten erstmal nur die Automatisierungslücken in der Industrie.
A: Die hatten einen Rochus auf die Intelligenzia!
Mann: Das hat man nicht laut gesagt.
A: Das hat man natürlich nur hinter vorgehaltener Hand gesagt.
Mann: Wenn du gut durchkommen wolltest, hast du den Mund gehalten.
Vater: Wenn du weiterkommen willst …
Mann: Keine langen Monologe.
A: Überhaupt keine Monologe. In der DDR-Zeit war ich überwiegend still.
Antje Rávik Strubel wird in Potsdam geboren, wo sie bis heute lebt. Nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin studiert sie Literaturwissenschaften, Amerikanistik, und Psychologie. Heute arbeitet sie als Schriftstellerin und Übersetzerin. 2021 erhält sie für ihren Roman Blaue Frau den Deutschen Buchpreis.
Produktion: Holm-Uwe Burgemann
Satz: Helena Lang
Gestaltung: (Studio) Daniel Zenker
Programmierung: Thomas Günther
SPIEGELLAND: NEUE MONOLOGE
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