von Antje Rávik Strubel inszeniert von PRÄ|POSITION

Vom Prinzip her über­wie­gend still. Ein Lebens­ent­wurf, sagt man heute.

Frau: Das ist dein Mo­no­log.

A: Dann fang ich mal an.

Frau: Ein Mo­no­log ga­ran­tiert, dass die, die spricht, nicht un­ter­bro­chen wird.

A: Das will ich hof­fen!

Mann: Mo­no­loge er­zäh­len ih­re Ge­schich­te, oh­ne von an­de­ren un­ter­bro­chen zu sein.

A: Schön. Soll ich an­fan­gen?

Frau: Wir par­ti­zi­pie­ren na­tür­lich da­ran.

A: Ich woll­te un­be­dingt Ste­war­dess wer­den.

Mann: Je­der Text ist für uns ein To­pos, an dem sich ent­schei­den lässt, ob er ge­gen­wär­tig ist oder nicht.

A: Sagt man das heu­te so?

Mann: Die Ge­gen­wart ist für uns ein An­spruch, der nicht mit Ak­tu­a­li­tät zu tun hat, son­dern mit ei­ner kri­ti­schen Teil­nah­me an die­ser Zeit.

A: In der DDR-Zeit war ich ja ü­ber­wie­gend still.

Frau: Un­ser Mit­schnitt dei­nes Mo­no­logs ist eine Ins­ze­nie­rung des Os­tens durch sei­ne Nach­kom­men.

A: Je­den­falls woll­te ich Ste­war­dess wer­den. Als Ste­war­dess bist du viel un­ter­wegs, siehst was von der Welt. Im­mer ist was los.

Mann: Ei­ne Ste­war­dess ist nur ei­ne Kell­ne­rin der Luft.

A: Ich woll­te schon Ste­war­dess wer­den, als ich noch auf die Pes­ta­loz­zi­schu­le in Mee­ra­ne ging. Die lag über‘n Bahn­damm. Ei­ne hal­be Stun­de zu Fuß ei­ne Tour. Ich bin im­mer ge­laufen. Da­mals wur­de al­les ge­lau­fen. Wir sind viel ge­lau­fen. Zur gro­ßen Hof­pause muss­ten wir un­te­ren Klas­sen im­mer im Kreis lau­fen, zu dritt oder viert ne­ben­ei­nan­der, im­mer in Be­we­gung blei­ben, im Kreis. Und die grö­ße­ren, die Fünft­kläss­ler­jungs, die durf­ten schon frei lau­fen und sind ne­ben­her ge­rannt und ha­ben mit der Hand bei den Mä­dels den Rock hoch­ge­schla­gen und ge­ru­fen »De­ckel hoch, der Kaf­fee kocht!« Mei­ne Mut­ter hat­te mir war­me Woll­schlüp­fer ge­strickt, in Rot. Klar, konn­test du sa­gen, das juckt, aber das ha­ben wir nicht ge­macht, rum­ge­jam­mert, das hat­te mei­ne Mut­ti ge­strickt und das hat man an­ge­zo­gen.

Mann: De­ckel hoch, der Kaf­fee kocht!

A: Tja, und bei De­ckel hoch, der Kaf­fee kocht, wa­ren bei mir die ro­ten Strick­schlüp­fer zu se­hen, und die ha­ben sich na­tür­lich tot­ge­lacht.

Mutter: Ihr habt al­le vier Kin­der selbst­ge­näh­te Sa­chen ge­tra­gen. Oft nach Schnit­ten aus Frau­en­il­lus­trier­ten. Es gab ja nichts.

A: Mee­ra­ne war ein Zen­trum der Tex­til­in­dus­trie. Da kam man an Stof­fe bes­ser ran, und mei­ne Mut­ter näh­te nach Schnit­ten aus dem Wes­ten, die wur­den aus­ge­schnit­ten und un­ter­ei­nan­der wei­ter­ge­ge­ben.

Mutter: Da wur­de Trans­pa­rent­pa­pier auf die Il­lus­trier­ten ge­legt und mit dem Rä­del­mes­ser am Mus­ter ent­lang aus­ge­schnit­ten, dann auf dem Stoff nach­ge­zeich­net. Das Pa­pier ha­ben wir reih­um wei­ter­ge­reicht.

A: Mei­ne Mut­ter hat­te uns Drei­vier­tel­ho­sen ge­näht, mit rot-grün ka­rier­tem Stoff aus un­se­rer We­be­rei, die ich stolz in der Schu­le an­hat­te. Und wir hat­ten die­se über al­le Oh­ren ro­te, bös­ar­ti­ge Schild­platt, die hieß nur Schild­krö­te, und die hat mich vor die Klas­se ge­stellt und mich fer­tig ge­macht we­gen der Ho­sen.

Frau: Guckt euch das Bour­geoi­sie-Kind an!

A: Mei­ne Mut­ter hat­te sich die Fin­ger wund ge­näht und das gan­ze The­a­ter mit den Schnit­ten, und die­se ro­te Bon­zin er­dreis­tet sich, so ein Kind raus­zu­ho­len und vor die Klas­se zu stel­len und fer­tig zu ma­chen, weil es an­gebl­ich West­ho­sen an­hat. Ich ha­be die Kni­cker­bo­cker dann nur noch zum Wan­dern ge­tra­gen. Wir sind viel ge­wan­dert, viel ge­lau­fen, wir ha­ben Aus­flü­ge ge­macht, wa­ren im­mer viel un­ter­wegs. In der sieb­ten oder ach­ten Klas­se sind wir hun­dert Frie­dens­ki­lo­me­ter ge­lau­fen, da­für gab‘s ein Ab­zei­chen. Man hat­te ei­nen Pass, auf dem die Ki­lo­me­ter ein­ge­tra­gen wur­den. Aber un­ser Klas­sen­leh­rer, der Herrn Beuch­thold, der hat­te gar kei­ne Lust, so viel zu lau­fen, al­so sind wir ein Stück mit dem Schiff durchs Elb­sand­stein­ge­bir­ge ge­fah­ren und mit der Stand­seil­bahn hoch zur Ost­rau­er Schei­be, und in der Ju­gend­her­ber­ge auf der Burg Kö­nigs­stein mit Selbst­ver­pfle­gung ha­ben wir den gan­zen Tag Pil­ze fürs Abend­brot ge­sam­melt, und die Ki­lo­me­ter vom Pil­ze­sam­meln hat uns der Herr Beucht­hold gleich auch noch an­ge­rech­net. Aber be­son­ders sport­lich war ich nicht. Ich ha­be lie­ber ge­le­sen. Ich ha­be im­mer ge­le­sen, viel ge­le­sen, auch Bü­cher, die man nur heim­lich le­sen durf­te, aus dem Wes­ten, und wenn mei­ne Mut­ter ge­ru­fen hat, weil ich in der Kü­che hel­fen soll­te, dann ha­be ich es eben nicht ge­hört, es war ja ein gro­ßes Haus.

Vater: Lass sie, An­ne­lie­se. Wenn das Kind ler­nen will -

Mutter: Das ist doch wie beim Hit­ler, wie sie die Ju­gend ver­dum­men. Ihr lernt, was es für Flüs­se in Russ­land gibt, aber mit den deut­schen Flüs­sen kennt ihr euch nicht aus.

A: In der Schu­le gab es die Ran­zen­kon­trol­le. Da kam der stell­ver­tre­ten­de Di­rek­tor rein­ge­schos­sen in den Un­ter­richt und hat ge­sagt: Ran­zen auf den Tisch! Ran­zen­kon­trol­le! Da­mit die Schul­kin­der nicht von der Schund­li­te­ra­tur aus dem Wes­ten ver­seucht wer­den, sie könn­ten ja die Mickey Mouse-Hef­te un­ter­ei­nan­der tau­schen. Da muss auch mal ei­ne Bra­vo da­bei ge­we­sen sein, weil der Leh­rer vor Wut auf den Fens­ter­stock ge­sprun­gen ist. Das war ein har­ter Hund. Der ist knall­rot an­ge­lau­fen und sprang aufs Fens­ter­brett und hat vom Fens­ter­brett aus ge­wet­tert. Und hin­ter­her haben wir gesagt, wa­rum war das Fens­ter nicht of­fen? Der war dann ru­cki­zu­cki im Wes­ten.

Vater: Lass gut sein, An­ne­lie­se. Sei still. Die Kin­der müs­sen das er­zäh­len, was sie in der Schu­le ler­nen.

A: Ich hat­te auch ein schi­ckes wei­ßes Or­gan­di­kleid. Das trug ich 1955 zur Sil­ber­hoch­zeits­rei­se mei­ner El­tern, als wir mit dem IFA-F 9 ins Klein­wal­ser­tal fuh­ren, das ging da­mals noch, in ei­ne klei­ne Pen­sion, heu­te ein Land­hotel. Mein ein­zi­ger Aus­flug in den Wes­ten, be­vor die Mau­er kam. Wir mach­ten ei­nen Ab­ste­cher nach Bre­genz zu ei­nem Ge­schäfts­part­ner von mei­nem Va­ter. Mein Va­ter fein im Na­del­strei­fen­an­zug und ich im wei­ßen Or­gan­di­kleid­chen, da­mit man uns den Os­ten bloß nicht an­sieht. Der wohn­te in ei­ner Rie­sen­vil­la und führ­te uns zu ei­nem Han­gar. Dort stand ein Flug­zeug. Er hat­te sein ei­ge­nes Pro­pel­ler­flug­zeug. Das war ganz un­glaub­lich. Erst recht für mich: Ich woll­te ja Ste­war­dess wer­den. Ich woll­te un­be­dingt Ste­war­dess wer­den. Aber die In­ter­flug hat nur Ber­li­ner ge­nom­men. Wenn ich mich so in Schö­ne­feld be­wor­ben hät­te, als no-name aus Sach­sen, für die Lehr­lings­aus­bil­dung zum Ver­kehrs­kauf­mann, hät­ten die mich nie ge­nom­men. Das hat der Hans-Ge­org ge­ma­nagt, mein äl­tes­ter Bru­der. Er war fünf­zehn Jah­re äl­ter als ich und wohn­te da­mals schon in Ber­lin, hat­te ei­nen Pos­ten in der Au­to­bran­che. Ich wus­ste nie, was er ge­nau mach­te, aber er hat­te Be­zieh­un­gen.

Mann: Al­so, Ge­nos­se We­ber, dann soll sie ih­ren Le­bens­lauf mal an die Ka­der­lei­tung schi­cken.

A: Ich weiß nicht, mit wem er da ge­re­det hat­te. Zu mir hat der Hans-Ge­org nur ge­sagt: Schick ei­nen Le­bens­lauf an den Ka­der­lei­ter der In­ter­flug. Heu­te sags­te Per­so­nal­chef. Per­so­nal war im Os­ten der Ka­der. Per­so­nal hat­te wahr­schein­lich ei­nen schlech­ten Touch, weil die Ad­li­gen und die Bür­ger­li­chen Per­so­nal hat­ten. Da ha­ben sie das nach rus­si­scher Sit­te Ka­der ge­nannt. Und die­ser Ka­der­lei­ter war ein üb­ler Bon­ze. Von mei­ner War­te her un­ge­bil­det. Pro­le­tisch, hät­te mei­ne Mut­ter ge­sagt, aber ich be­kam die Zu­sa­ge, ein prak­ti­sches Jahr zu ma­chen, und da­nach als Lehr­ling an­zu­fan­gen. Aus­zu­bil­den­de, sags­te heu­te.

Vater: Wenn du wei­ter­kom­men willst, musst du mit den Wöl­fen heu­len.

A: Spä­ter hat­te ich mal mit ei­nem Ka­der­lei­ter im Be­reich Flug­hä­fen zu tun, der ge­sof­fen hat. Als ich ge­sagt habe, ich möch­te halb­tags ar­bei­ten, weil ich zwei Kin­der ha­be, ei­nes mit Bron­chi­al­asth­ma, hat der mich run­ter­ge­putzt. Was mir ein­fällt! Der Staat hat für mich so viel Geld aus­ge­ge­ben, ich ha­be die höchs­te Aus­bil­dung, das hat der Staat be­zahlt, jetzt ist es an mir, das zu­rück­zu­zah­len, der Par­tei und Staats­füh­rung zu dan­ken, auch für die Haus­halts­ta­ge und dass ich zu Hau­se blei­ben darf, wenn das Kind hus­tet.

Frau: Has­te denn nicht ge­merkt, dass der ein be­stimm­tes Le­vel hat?

A: Ich bin klein wie So­cke ab­ge­zo­gen.

Frau: Der hat­te sei­ne Fla­sche im Schreib­tisch!

A: Der Hans-Ge­org hat mir auch ein Zim­mer in Mah­low bei ei­ner Rönt­gen­schwes­ter be­sorgt mit Wasch­schüs­sel und Was­ser­krug und Toi­let­te auf dem Gang. Das war eine lie­be, ver­hut­zel­te Da­me mit Bril­le, und als sie ge­se­hen hat, wie ich die Bet­ten be­zie­he – Kind­chen! Was ma­chen Sie denn da? So hat sie mich ge­nannt. Sie hat je­den Kind­chen ge­nannt. We­gen der Rönt­gen­strah­len hat­te sie schon mit 36 kei­ne Pe­ri­o­de mehr, konn­te kei­ne Kin­der krie­gen. Mei­nen Va­ti hat sie auch Kind­chen ge­nannt. Wenn er zu Be­such kam, hat sie ihm erst­mal zwei Spie­gel­ei­er ge­bra­ten, weil er so käbsch aus­sah.

Frau: Kind­chen, Sie krie­gen wohl nichts zu es­sen, Sie sind ja ganz blass!

A: Mein Va­ter war da­mals in Mah­low zu Kneipp­ku­ren. Er wur­de mit kal­ten Güs­sen be­han­delt, weil er Ge­hirn­blu­ten hat­te und zu Kräf­ten kom­men soll­te. Er hat­te öf­ter Ge­dächt­nis­aus­fäl­le, die kei­ner er­klä­ren konn­te. Wir wa­ren oft zu­sam­men spa­zie­ren, da zog er schon ein Bein nach. Oder hat ewig nach ei­nem Wort ge­sucht und sich dann drei­mal ent­schul­digt. Aber er hat nie ge­klagt, hat im­mer die an­de­ren vor­ne an ge­stellt.

Vater: Drei Wo­chen Ur­laub, un­ter dem geht nichts, An­ne­lie­se, da­rauf hast du im­mer be­stan­den.

Mutter: Wenn der Mann nicht frei­ma­chen kann, dann muss er raus, un­ter we­lchen Be­din­gun­gen auch im­mer!

A: Er war von Haus aus Apo­the­ker, kann­te je­des Kraut im Wald, ehe er die We­be­rei sei­ner Frau über­nom­men hat.

Vater: Du hast ge­macht und ge­tan, An­ne­lie­se, ge­kocht und ge­packt für Aus­flü­ge oder für un­se­re lan­gen Ur­laubs­fahr­ten an die Ost­see, wenn wir ein Zim­mer bei ir­gend­wel­chen Leu­ten im Hin­ter­land er­gat­tert hat­ten, mit Selbst­ver­pfle­gung.

Mutter: Noch das Ge­schirr ha­ben wir mit­ge­schleppt.

Vater: Und du hast auf ir­gend­wel­chen Töp­peln das Büch­sen­es­sen im Frei­en ab­ge­kocht.

Mutter: Und was hat der Mann ge­macht? Hat sich die Ge­schäfts­post ein­fach nach­schi­cken las­sen. Dann saß er im Strand­korb oder im Lie­ge­stuhl und hat die Post er­le­digt!

A: Im Kran­ken­haus in Berlin-Buch ha­ben sie den Tu­mor ent­deckt. Den Kran­ken­haus­platz hat ihm auch der Hans-Ge­org be­sorgt, dort hat­ten sie schon ir­gend­wel­che west­li­chen Me­tho­den. Da konn­te mein Va­ter schon nicht mehr for­mu­lie­ren.

Kolleginnen: Das tut uns schreck­lich leid. Komm, Klee­ne, geh. Geh nach Hau­se. Was machs­te denn noch auf Ar­beit? Mach, dass du nach Hau­se kommst!

A: Die ha­ben mich fer­tig ge­macht, die Frau­en in der Bu­chung, so rich­ti­ge Ber­li­ner. Als ich da mit mei­nem säch­si­schen Ein­schlag an­kam, ha­ben die mich nach­ge­äfft; Stul­le war für mich eben Schnit­te.

Kolleginnen: Was will denn die Sach­sen­jung­sche hier?!

A: Das wa­ren al­les Frau­en. Des­halb bin ich ja so ge­gen Frau­en­kol­lek­ti­ve, weil die sind wie …, die sind so­was von bös­ar­tig. Der Chef war ein Mann. Von mei­nem be­hü­te­ten Sach­sen­da­sein bin ich da in so ein Wei­ber-Bös­ar­tig­keits­syn­di­kat ge­fal­len. Die ha­ben das Pre ge­habt, das war ja die Bu­chung, wo die Rei­se­bü­ros und auch Pas­sa­gie­re an­rie­fen und Flü­ge di­rekt bei den Flug­ge­sell­schaf­ten buch­ten. Je nach­dem, wel­che Stre­cken du hat­test, warst du ge­fragt, da konn­test du schon ein biss­chen jong­lie­ren, wen du noch mit­nimmst, wenn die Ma­schi­nen voll wa­ren. Aber die Bös­ar­tig­kei­ten hör­ten auf, als mein Va­ter ge­stor­ben war. Den An­ruf be­kam ich auf Ar­beit, in der Spät­schicht, viel­leicht so halb vier. Ich muss da­ge­ses­sen ha­ben wie so ei­ne Boh­ne, und als die doo­fe Hen­ne mich ir­gend­was ge­fragt hat, hab ich nur ge­sagt, mein Va­ter ist tot. Da ha­ben sie ge­sagt, geh nach Hau­se, Klee­ne -

Mutter: Ber­lin-Buch. Das war da, wo sie den Vol­ker nicht rein­ge­las­sen ha­ben.

Vater: Ich woll­te, das der Jun­ge in den Wes­ten geht. Der wä­re sonst ka­putt­ge­gan­gen.

A: Als der Vol­ker nach’m Wes­ten ist, war ich erst sechs. Ich se­he ihn heu­te noch, die­sen Blick mei­nes Bru­ders auf dem Gar­ten­weg. Mein Va­ter ver­lässt mit dem Vol­ker den Gar­ten, geht nach links, zum Bahn­hof, nehm ich an, das durf­te ja kei­ner wis­sen, sonst wär mein Va­ter in Sip­pen­haft ge­kom­men, und der Vol­ker bleibt ste­hen und guckt so zu mir, und ich stand da mit mei­nem Pup­pen­wa­gen und wuss­te, irgend­et­was Ent­schei­den­des wird pas­sie­ren. - Ein Kind er­fasst, dass da was Schreck­liches vor sich geht … ‘53 war das. Und als mein Va­ter auf den Tod lag, ha­ben sie ihn nicht rein­ge­las­sen in die DDR. Mei­ne Schwes­ter und mei­ne Mut­ti sind auf die Po­li­zei ge­rannt, ab­wech­selnd, und im­mer ist es ab­ge­lehnt wor­den. Das hat der Vol­ker nie ver­wun­den. Ich auch nicht. Hieß im­mer nur, An­trag stel­len bei der ört­lichen Poli­zei. Und die wa­ren nicht freund­lich wie heut­zu­ta­ge, da hat mei­ne Schwes­ter was mit­ge­macht und mei­ne Mut­ter, und dann muss­test du noch bet­teln oder zu Kreu­ze krie­chen, da­mit die­ses blö­de Flin­ten­weib den An­trag nicht gleich sonst­wo hin steckt.

Mutter: Das wird noch die Ge­ne­ra­tion dei­ner En­kel er­ben; die­se Er­war­tung, dass an­de­re ei­nem zu Kreu­ze krie­chen.

Vater: Der Jun­ge muss­te in den Wes­ten! Der hät­te hier kei­ne Chance ge­habt. Wa­rum ist er von der Schu­le ge­flo­gen? Weil er Staub von der Ba­lus­tra­de ge­pus­tet hat? Er soll­te sich be­wäh­ren, weil er ein Bour­geoi­sie-Kind war, des­halb ha­ben sie ihm zu­ge­setzt, ihn Nacht­schich­ten schie­ben las­sen in der Fa­brik! Er woll­te Tex­til­in­ge­ni­eur wer­den, die Fach­schu­le ma­chen, das ging al­les nicht, weil er sich ja be­wäh­ren muss­te als Bür­ger­sohn, Nacht für Nacht, du hast ihm noch das Es­sen im Ess­ge­schirr hin­ge­tra­gen, An­ne­lie­se. Die stali­nis­ti­schen Schau­prozes­se der ZKK in Mee­ra­ne waren keine fünf Jah­re her. Noch war nicht ver­ges­sen, wie sie rei­hen­wei­se die In­ha­ber von Spin­ne­rei­en, We­be­rei­en, Ap­pre­tu­ren aus Glauch­au und Mee­ra­ne ver­hör­ten, fol­ter­ten und vor ein Ge­richt stell­ten, des­sen Ur­tei­le schon vor­her fest­stan­den. To­des­stra­fe. Zucht­haus. Weil wir Garn und Stof­fe ge­gen Kar­tof­feln ge­tauscht ha­ben, um die Leu­te durch den schlimms­ten Hun­ger zu brin­gen! Wenn die ro­te Hil­de Köp­fe rol­len se­hen will, dann in du­bio im­mer con­tra reum! Zwei mei­ner engs­ten Ge­schäfts­freun­de nah­men sich das Le­ben.

Mann: "Ei­ne gut or­ga­ni­sier­te Kon­trol­le ist je­ner Schein­wer­fer, der uns hilft, den Stand ei­nes Ap­pa­ra­tes zu je­der be­lie­bi­gen Zeit zu be­leuch­ten und die Bü­ro­kra­ten und Klas­sen­men­schen ans Licht zu zie­hen."

Vater: Da blieb nur noch der Wes­ten, An­ne­lie­se. Der Jun­ge wä­re ka­putt­ge­gan­gen!

A: Hieß im­mer nur, An­trag stel­len bei der ört­lichen Po­li­zei, selbst, wenn je­mand auf den Tod liegt, und die Schwei­ne­rei war, dass sie mei­nen Bru­der dann zur Be­er­di­gung rein­ge­las­sen ha­ben, da durf­te er kom­men, das verzeih‘ ich dem Staat nie, die­sen Bon­zen, und mein Va­ter hat so da­rauf ge­war­tet. In Ber­lin-Buch, auf sei­nem Ster­be­bett, so­bald die Tür auf­ging, hat er ge­hofft, dass der Vol­ker kommt. Im­mer wenn die Tür auf­ging. Ich seh die Au­gen heu­te noch.

Mutter: Mit wel­chem Recht ha­ben die ein­ge­grif­fen in das Le­ben der Men­schen? Mit wel­chem Recht be­stim­men die, ob ei­ner, der die Aus­sicht hat, in den nächs­ten Stun­den zu ster­ben, sei­nen Sohn nicht se­hen kann?

A: Te­le­fo­na­te muss­test du auch an­mel­den. Da ha­ben wir gan­ze Näch­te lang ge­war­tet im Kran­ken­haus, dass ein In­ter­zo­nen­ge­spräch kommt, nach Münch­berg, und dann ha­ben die das Ge­spräch ir­gend­wann ge­bracht oder gar nicht. Die gan­ze Nacht lang ge­war­tet, der ei­ne auf der Sei­te, der an­de­re auf der an­de­ren Sei­te. Ja. Und der Vol­ker kam nicht.

Mutter: Men­schen­ver­ach­tend bis zum Geht-nicht-mehr, der Ar­bei­ter-und-Bau­ern-Staat.

A: Al­le wuss­ten, dass es furcht­bar schwer ist. Aber da­rü­ber wur­de nie ge­re­det, nie was ge­sagt. Jam­mern oder Hän­gen­las­sen; das gab’s bei uns nicht. Nur ein­mal ha­be ich meine Mut­ter ge­se­hen, da war sie auch erst acht­und­fünf­zig, wie sie vorm Klei­der­schrank saß, das war ein Jahr spä­ter, und be­gon­nen hat­te, die Sa­chen von mei­nem Va­ter aus­zu­räu­men. Da saß sie ein­fach da und hat nichts ge­macht.

Mutter: Dein Va­ter hat die Fir­ma durch den Hit­ler und die Rus­sen­zeit ge­bracht. Hat im­mer ge­ar­bei­tet. Auch sonn­tags. Kam nur zum Mit­tag­es­sen aus der We­be­rei­ver­wal­tung nach Hau­se. Man hat­te Mü­he und Not, ihn mit Kla­vier­spie­len und Spa­zier­gän­gen ab­zu­len­ken, da­mit er we­nigs­tens am Sonn­tag mal Pau­se macht.

Vater: Ich war der Be­leg­schaft ge­gen­über ver­pflich­tet, An­ne­lie­se. Und dei­nem Va­ter.

Mutter: Die­ses elen­de Ver­ant­wor­tungs­ge­fühl. Aber das Größ­te war, wenn er sich ans Kla­vier ge­setzt hat, und ihr habt vier­hän­dig ge­spielt.

A: Wenn er mich ge­fragt hat, ob wir nicht vier­hän­dig spie­len wol­len, war ich so stolz mit mei­nem biss­chen Kla­vier­un­ter­richt. In mei­ner ganz frü­hen Kind­heit ha­ben er und mei­ne Mut­ter noch zu­sam­men ge­spielt. Aber das konn­te sie dann we­gen ih­rer di­cken Fin­ger nicht mehr. Das kam von der Haus­ar­beit, das vie­le Ko­chen für die gro­ße Fa­mi­lie. Auch die Ge­schäfts­es­sen von mei­nem Va­ter fan­den ja zu Hau­se statt.

Mutter: Nach­dem sie ihn ei­nes nachts ab­ge­holt und in die rus­si­sche Kom­man­da­tur ver­schleppt hat­ten, kam er am nächs­ten Tag wie­der und hat sich hin­ge­setzt und an­ge­fan­gen, rus­sisch zu ler­nen. Von da an hat er je­de Nacht rus­sisch ge­lernt. Bis sie ihm doch ei­nen Par­tei­bon­zen vor die Na­se ge­setzt und den Be­trieb teil­ver­staat­licht ha­ben.

A: Heu­te sags­te ent­eig­nen.

Mutter: Am An­fang wur­de noch teil­ver­staat­licht.

A: Am Be­er­di­gungs­tag von mei­nem Va­ter war der gan­ze Fried­hof vol­ler Leu­te, sie stan­den so­gar drau­ßen vor der Fried­hofs­hal­le, und es hat ge­schneit. Am 21. April. Da war die Be­er­di­gung. Der gan­ze Mee­ra­ner Fried­hof war voll, und es schnei­te. Aber der Schnee blieb nicht lie­gen, die Flo­cken schmol­zen so­fort auf dem Ge­sicht und auf dem Grab, der Schnee hat nichts zu­ge­deckt, er mach­te nichts still und weiß, es schnei­te bloß. Es war ja schon Mit­te April. Und da kam die Kar­la, die Frau vom Hans-Ge­org, und das habe ich mir im­mer ge­merkt, auch bei an­de­ren Ster­be­fäl­len, da kam die Kar­la, als ich da am Grab stand und ge­heult hab, und hat zu mir ge­sagt, denk dran, das ist nur Selbst­mit­leid. Das hat mich auf­ge­fan­gen, hat mich be­wahrt vor den nächs­ten Er­leb­nis­sen.

Frau: Denk dran! Das ist nur Selbst­mit­leid.

A: Mein Va­ter woll­te ja im­mer, dass ich stu­die­re. Aber ich woll­te Ste­war­dess wer­den. Schon seit ich zehn, elf Jah­re alt war, weil ei­ne Ste­war­dess in der Welt un­ter­wegs ist und im­mer was los ist. Ste­war­dess mit Abi. Ein­ser-Abi. Sprach­klas­se auf der Er­wei­ter­ten Ober­schu­le. Heu­te sags­te Gym­na­si­um. Ich war die Ein­zi­ge von uns vier Ge­schwis­tern, die Abi ge­macht hat. Und nach dem Abi bin ich im­mer fein mit dem Mo­tor­rol­ler zur Ar­beit ge­fah­ren. In Ber­lin. Mit dem Ber­lin-Rol­ler! Den Rol­ler hat­te ich von mei­ner Schwes­ter. Die konn­te da schon das Be­triebs­au­to von mei­nen El­tern be­nut­zen, den IFA F9. Mit dem Rol­ler bin ich von Mah­low zur Früh­schicht und Spät­schicht nach Schö­ne­feld zur In­ter­flug ge­fah­ren oder im Som­mer an die Kies­ku­ten zum Ba­den in Wass­mans­dorf. Viel ins The­a­ter nach Ber­lin, al­le The­a­ter durch­ge­macht, da­mals stand ich auf Brecht, bin im­mer ins BE mar­schiert. Ekke­hard Schall und He­le­ne Wei­gel, die ha­be ich al­le fein ge­se­hen. Mut­ter Cou­rage, das war ja ih­re Rol­le. Der kau­ka­si­sche Krei­de­kreis. Oder Ar­tu­ro Ui mit Ekke­hard Schall, das war die Ins­ze­nie­rung. Die Kar­ten wa­ren nicht teu­er. Und S-Bahn konntste fah­ren abends, da hat sich nie ei­ner ein‘ Kopp ge­macht. Gut, man hat be­stimmt ge­guckt rechts und links, aber da has­te nicht ge­dacht, dass dich ei­ner …

Mann: Da­mals hat dich kei­ner über­fal­len.

A: Ei­nes Ta­ges kam der Chef von der Bu­chung. Das war ein net­ter Mensch, lo­yal. Be­stimmt war er auch po­li­tisch und SED und so, aber er hat das nicht ge­zeigt. Der hat mich zu sich ge­ru­fen und ge­sagt, wa­rum ich denn nicht stu­die­ren will, ei­ne Ste­war­dess ist ja nur ei­ne Kell­ne­rin der Luft, und ich ha­be ihm be­stimmt nicht er­zählt, dass ich den Wunsch aus ei­nem West­buch hat­te, ich war über­wie­gend still. In der DDR-Zeit war ich über­wie­gend still, je stil­ler, um­so bes­ser. Und da hat er mir er­zählt, dass es an der HFV in Dres­den die Rich­tung Luft­ver­kehr gibt, und sie könn­ten mich de­le­gie­ren, und ich krie­ge Bü­cher­geld. Viel­leicht hat­te er mich im Au­ge, weil ich die Jüngs­te war, oder die hat­ten ein Kon­tin­gent. Ich wür­de auch im­mer ein Stück von der Jah­res­end­prä­mie ab­be­kom­men. Das war nicht viel, viel­leicht hun­dert Mark. Aber mein Drive zu sa­gen, ich mach das, war der Wunsch mei­nes Va­ters, dass ich stu­die­re. Und da dach­te ich, okay, das soll jetzt so sein.

Vater: Das Kind hat sich wäh­rend des Stu­di­ums nachts ei­ne Schüs­sel mit kal­tem Was­ser un­ter den Schreib­tisch ge­stellt, um beim Ler­nen nicht ein­zu­schla­fen, hast du das ge­wusst, An­ne­lie­se?

A: Die Hoch­schu­le hat nur al­le zwei Jah­re Luft­ver­kehrs­stu­den­ten an­ge­nom­men. Heu­te heißt es Stu­die­ren­de. Als die Zu­las­sung von Dres­den kam, ‘66 war das, wa­ren vie­le mei­ner Kom­mi­li­to­nen Quer­ein­stei­ger wie ich und al­le äl­ter, ei­ner hat­te schon als Lot­se ge­ar­bei­tet, ei­ne an­de­re den Luft­ver­kehrs­kauf­mann ge­macht. Da ha­ben wir zur Vor­be­rei­tung pri­ma Auf­ga­ben nach Hau­se be­kom­men. Ma­the, Phy­sik, Tech­nisches Zeich­nen. Und ich konn­te doch mit Tech­nischem Zeich­nen nie was an­fan­gen. Aber da hat mir ei­ne Grund­schul­freun­din ge­hol­fen, die Le­ni. Sie war von Be­rufs we­gen tech­nische Zeich­ne­rin, hat­te Ma­schi­nen­bau­er ge­macht.

Mutter: Die Le­ni war mit uns im Ur­laub. Da leb­te dein Va­ter noch.

A: ’61 wa­ren wir zu­sam­men in Him­mel­pfort, da war mein Va­ter noch da­bei und mei­ne Schwes­ter. Es gab Pil­ze in rau­en Men­gen, wir wa­ren auf der Ha­vel pad­deln und ha­ben am La­ger­feu­er ge­sun­gen, als in der Nacht vom 12. auf den 13. Au­gust die Pan­zer an un­se­rem Cam­ping­platz vor­bei roll­ten in Rich­tung Ber­lin.

Mutter: Was die Pan­zer be­deu­te­ten, wuss­te man zu dem Zeit­punkt noch nicht.

A: Was die Pan­zer zu be­deu­ten hat­ten, hat sich dann sehr schnell he­raus­ge­stellt.

Mutter: Ein Sonn­tag.

A: Der 13. Au­gust war ein hei­ßer Tag. Aber der Him­mel war be­deckt. Kei­ne Wol­ken, nur die­se di­cke graue De­cke aus Hit­ze. Die Ha­vel hat die Padd­ler in ein düs­te­res, un­heil­vol­les Licht ge­hüllt. Das weiß ich noch. Wie un­heil­voll mir die Ha­vel er­schien. Ein Fluss, der im Kreis fließt, die Mün­dung kei­ne 90 Ki­lo­me­ter von der Quel­le ent­fernt. Die Na­tur mit ih­ren Sinn­bil­dern … Ab dem 13. Au­gust ging es für uns nur noch im Kreis.

Frau: Zu Be­ginn des Stu­di­ums wa­ren wir erst­mal vier Wo­chen zum Ar­beits­ein­satz.

A: Die Ar­beits­ein­sät­ze. Die kann­ten wir ja schon aus Schul­zei­ten. Rü­ben­ver­zie­hen im Früh­jahr, Kar­tof­feln le­sen im Herbst. Zum Stu­di­en­be­ginn hat­te ich es noch gut, ich war im Gro­ßen Gar­ten ein­ge­teilt zum Schwert­li­lien schnei­den und Laub­fe­gen, wie das so ist in so’ m Park. End­lo­se We­ge, wo du dann früh sagst, ach du Schan­de, wann wer­de ich denn da hin­ten sein. Und hin­ten fängst du wie­der von vor­ne an. Die Jungs wa­ren beim Gleis­bau ein­ge­setzt.

Mann: Ge­wohnt ha­ben wir al­le zu­sam­men im In­ter­nat.

A: Ich woll­te auf kei­nen Fall ins In­ter­nat.

Mann: Je­der Stu­dent hat bei uns ei­nen In­ter­nats­platz be­kom­men!

A: Ich hat­te ei­nen Hor­ror vor dem In­ter­nat. In der Rei­chen­bach­straße wa­ren das zum Teil Acht­bett­zim­mer. Ge­mein­schafts­toi­let­ten auf dem Flur. Aber mein da­ma­li­ger Freund, den ich spä­ter auch ge­hei­ra­tet ha­be, hat­te Ver­wand­te in Dres­den. Da gab es ei­ne al­te Da­me im Mehr­fa­mi­li­en­haus, die ließ sich breit­schla­gen und stell­te mir vo­rü­ber­ge­hend ihr Wohn­zim­mer zur Ver­fü­gung.

Mutter: Die a­lte Da­me zog in ihr Schlaf­zim­mer, weil sie das an­d­ere Zim­mer schon an ei­nen TU-Stu­den­ten aus dem Su­dan ver­mie­tet hat­te.

A: Ich ha­be auf ih­rem al­ten So­fa ge­näch­tigt mit Krug und Por­zel­lan­schüs­sel zum Wa­schen, und war heil­froh, als die Ver­wand­ten für mich Am Wil­den Mann bei ei­nem Ehe­paar ein lee­res Zim­mer im Par­ter­re auf­ge­ris­sen ha­ben. Zehn Qua­drat­me­ter für zehn Mark im Mo­nat. Das wa­ren lie­be, net­te Leu­te. Er war ein ru­hi­ger Pa­tron, und sie war so auf-und-auf, und ich hab das mit ge­schmatz­ten Hän­den ge­nom­men.

Mutter: Der Di­wan, auf dem du ge­schla­fen hast, stand frü­her bei dei­ner Groß­mut­ter im Sa­lon. Der Spie­gel war von ir­gend­ei­ner Gar­de­ro­be übrig­ge­blie­ben, und den Schreib­tisch hat­te ich bei dei­nem Va­ter im Ge­schäft auf­ge­trie­ben.

A: Ein­mal dre­hen, mehr Platz war nicht -

Mutter: Ich ha­tte mit der Ver­mie­te­rin aus­ge­macht, dass du ei­ne elek­tri­sche Herd­plat­te auf­stel­len durf­test. Wie soll­test du denn ko­chen?

A: Ich hab nicht viel gekocht, höchstens mal Spiegel­eier, die halb verbrannt waren, und die musste mein zukünf­tiger Mann dann essen, wenn er da war …

Frau: Na, ich habe das schon gemerkt, wenn sich Ihr Mann rein­geschlichen hat.

A: Besuch mitzu­bringen, war verboten, Herren­besuch sowieso. Aber meis­tens bin ich am Wochen­ende nach Hause gefahren, und wenn ich am Sonn­tag zurückkam, hatte ich ordent­lich Essen im Gepäck von meiner Mutti. Selbst­gemachtes Schmalz. Ich habe mich ganz oft von selbst­gemachtem Schmalz ernährt. Ausgelas­senes Schmalz mit Apfel und Speck in einer braunen Blech­büchse. Nach einer Weile durfte ich sogar den Kühl­schrank mitbenutzen und das Bad, nicht mehr nur den Krug mit Wasser. Ich durfte den Bade­ofen benutzen und die Bade­wanne, die in der Speise­kammer hinter der Küche eingebaut war. Ich hatte dort meine eigene Seife liegen und bin immer strikt durch die Küche durch­marschiert, ohne rechts und links zu gucken, damit nicht gesagt wird, ich stöbere herum oder mach irgendwie was.

Mutter: Vor­sicht ist die Mutter der Porzellan­kiste.

A: Ich wurde richtig heimisch. Nach­mittags kam ich um vier von der Uni und habe mich ins Bett verkrochen, weil ich nicht heizen konnte. Ich wusste gar nicht, wie das geht, wie man so einen Kohle­ofen anmacht. Das hat immer meine Mutter gemacht zu Hause und später meine Schwester. Ich habs probiert, da kam nur Qualm aus der Tür. Und wenn ich nach­mittags kam, war die Bude eis­kalt, und ich hab mich in voller Montur ins Bett gesetzt und gelernt, und als die Vermie­terin eines Tages klopfte und sah, wie ich da angezogen im Bett sitze, hat sie gelacht und vor­geschlagen, mir den Ofen anzuheizen. Ich wurde so heimisch, dass ich einmal mehrere Monate lang ver­gessen habe, die zehn Mark zu bezahlen.

Mutter: Selbst hatten sie keine Kin­der.

A: Heut­zutage würde man vielleicht sagen; naja, zehn Quadrat­meter, einmal drehen, aber ich war so froh, ein eigenes Zimmer zu haben! Nur im Sommer hab ich auch mal im Studenten­wohn­heim genächtigt. Es gab den internationalen Studenten­ausweis, dadurch kamen wir preiswert in anderen Wohn­heimen unter, in Prag, in Poznan, in Krakau. Wir waren ja bloß zehn Mann in unserer Seminar­gruppe Luft­verkehr, die Maschinen­bauer oder Eisenbahn­techniker waren bis zu dreißig Mann stark.

Mann: Wir hießen Ingenieur­ökonom.

A: Heute sagste Diplom-Wirtschafts­ingenieur. Das habe ich mir umschreiben lassen nach der Wende. Es gab bestimmte Zweige, die anerkannt wurden. Die Inter­flug hat ja zuerst noch schwarze Zahlen geschrieben, bevor sie sie runter­gewirt­schaftet haben. Die Luft­hansa. Die konnte keine Konkurrenz gebrau­chen, da wurde nur noch abgewickelt.

Mann: Das Studium bestand aus Ökonomie und Technik, so wie das heute auch ist.

A: Heute sagste Wirt­schaft. Damals haste Ökonomie gesagt.

Mann: Ökonomie des Kapita­lismus und Ökonomie des Sozia­lismus, am Ende hat man gemerkt, dass alles das Gleiche ist. Das ist nur anders benannt.

A: Die Prozesse sind vom Prinzip her die gleichen.

Mann: Aber die wollten das eben besser wissen.

A: Marxis­mus-Leninis­mus musste man auch machen … Wir hatten alles Mögliche.

Frau: Verkehrs­geschichte. Internationales Luft­verkehrs­recht, Völker­recht.

Mann: Aero­dynamik, Aero­statik, Experimental­physik.

A: In Material­kunde ging es um die Flug­hafen­anlagen, die Pisten, die Befeuerung, die Gemarkung des Vorfeldes. Das war interessant.

Mann: Das ist heute alles viel fortgeschrittener.

A: Wir hatten sogar noch Matritzen­rechnung, die Vor­läufer von der IT-Geschichte. Wo du die ganzen Nullen, die Nullen und die Einsen mit den anderen Nullen verrechnest … Das war schon ordentlich aufgebaut das Studium.

Mann: Das war alles ordentlich aufgebaut.

A: Im ersten Studien­jahr, da habe ich nicht durch­gesehen in Mathe. Ich bin in meinem Sprach-Abi nicht mal zur Wahrscheinlichkeits­­rechnung gekommen, und der Herr Professor stieg bei der Vorlesung im Audimax gleich auf einem höheren Level ein. Der hat geredet, als er zur Tür reinkam, hat im Reden seinen Mantel abgeworfen und an den Fenster­knauf gehängt, seinen Hut abgeworfen, da hat er schon mit Zahlen um sich geschmissen, und wir saßen alle wie die Hühn­chen und haben geschrieben wie verrückt, der hat die Tafel vollgemalt mit seinen Formeln, der hielt ja von uns nichts, weil wir keine richtigen Tech­niker waren, wir hatten keine Mathe-Leuchten unter uns, das hat er uns mit seinem ironischen Lächeln wissen lassen.

Mann: Sie verstehen das sowieso nicht!

A: Ganze Nächte habe ich durchgeackert, die Füße in einer Schüssel voll kaltem Wasser unterm Schreib­tisch, damit ich nicht einschlafe. Ich hatte einen Respekt, also mehr oder minder Angst vor dem. Später habe ich ihn am Strand getroffen, mit nackichem Ober­körper und Ruck­sack hinten­drauf wanderte der unten am Wasser entlang; siehste, dachte ich, das ist auch bloß ein Mensch und vor dem haste so viel Spuntus gehabt.

Mann: Das war schon ein gutes Studium.

A: In Experimental­physik kam ich mit Ach und Krach durch die Abschluss­prüfung. Ich wusste nicht mal mehr, wie die Thermos­kanne funktioniert.

Mann: So, Fräu­lein Weber, erklären Sie uns doch mal die Thermos­kanne.

A: Ich hatte so viel gelernt. Ich wusste Formeln und Versuchs­anordnungen und Rechen­wege, und der Blöd­mann fragt mich, wie funktioniert die Thermos­kanne? Da war Feier­abend! Das vergesse ich nie. Es gibt Momente im Leben, die vergisst man nie. Die Thermos­kanne. Da habe ich vielleicht rumgeeiert. Ich dachte, wieso ist denn das Wasser jetzt warm da drin? Eigentlich eine einfache Frage. Hinterher dachte ich, der wollte es mir vielleicht leicht machen; keine Frage der höheren Physik. Das Uni­versum fragt nicht nach der Thermos­kanne, das kennt keine Kausal­zusammen­hänge.

Frau: Das Uni­versum kennt auch keinen Sozia­lismus.

Mann: Die mathematischen Grund­lagen, wenn du die nicht hattest, konntest du eben nicht weitermachen, technische Mechanik oder Aero­dyna­mik kannste dann eben nicht.

A: Meteo­rologie fand ich klasse. Aber wenn ich jetzt an den Himmel gucke, weiß ich gerade noch Cumulonimbus. Cumulus Congestus, aber die anderen Wolken­formationen -

Mann: Das war schon eine gute Ausbildung.

Frau: Nach der Wende hätten sie davon profi­tieren können. Statt­dessen ging es zurück in die Stein­zeit.

A: Wenn du die richtigen Leute hattest, war das eine gute Ausbildung. Ein Philosophie­professor hat uns Kant und die Utopisten beigebracht, der war dann über Nacht weg. Das war nicht so gerne gesehen, und da hieß es, der ist weg­kata­pultiert worden.

Mann: Nach dem Vor­diplom musste man sich spezialisieren: Ökonomie oder Techno­logie.

A: Ich war die Einzige, die Techno­logie genommen hat. Ich wollte auf keinen Fall Ökonomie machen, weil mir das zu sozialistisch war.

Frau: Sozialistisch waren wir alle.

A: Jetzt rede ich!

Frau: Ums Sozialistische kamst du nicht drumrum! In der vor­militä­ri­schen Ausbildung haben wir alle Hurra gerufen. Vier Wochen im ersten und vier Wochen im zweiten Studien­jahr, und alle Mann haben wir Hurra gerufen!

A: Im Juli. Hitze hoch drei, wo sie umgefallen sind beim Exer­zieren. Und der Voll­idiot von Feld­webel, der alle gestriezt hat, hat mich neben dem Zug herlaufen lassen. Alleine.

Mann: Du hast einen Pass­gang, Kameradin!

A: Bei einer Affen­hitze musste ich da nebenher marschieren, und so ein Zug besteht aus, frag mich was, dreißig Leuten und dahinter noch ein Bataillon, das waren alle Mädels aus dem gesamten Studien­jahr und die Jungs, die nicht tauglich waren. Ich wusste gar nicht, dass ich einen Pass­gang habe. Das passiert offenbar, wenn ich mich konzentriere. Und wenn du dich konzentrierst auf so’n Marschieren, dann habe ich mich halt falsch konzentriert. Zum Glück hat niemand gelacht.

Frau: Diesen Feld­webel fanden doch alle bescheuert!

A: Sonst verlangt ja auch keiner von dir, dass man jetzt im Gleich­schritt irgendwohin marschiert.

Frau: Wir hatten eine Gewehr-Attrappe über der Schulter zum Exer­zieren. Einer der Jungs wurde ge­ext, weil er auch die Attrappe nicht tragen wollte.

A: Das Schießen, ich bilde mir ein, das war am KK, stehend und liegend, auf Scheiben, da war ich auch eine der letzten. Erstens hab ich’s gehasst wie Ast, nie wieder fasst ein Deutscher eine Waffe an, so bin ich groß geworden, nach dem Krieg in der Schule, und während des Studiums lernen wir schießen am Klein­kaliber -

Frau: Ich war 1967 schwanger. Ich wäre beinahe umgekippt in der Hitze beim Appell und wurde in den Innen­dienst versetzt, außer beim Stab­granaten­weit­wurf. Das waren Eisen­attrappen und mit einer traf ich die Angela aus der Kraft­verkehrs-Seminar­gruppe am Kopf. Die Übung wurde abgebrochen, sie hatte Gehirn­erschütterung. Noch nach Jahren, als ich sie traf, sagte sie, dass sie oft Kopf­schmerzen hat, was mir sehr leid tut.

A: Hitze hoch drei, und wir hatten was Khaki­farbenes oder Graues an. Daran erinnere ich mich, weil uns eine Frau in der Straßen­bahn fragte, was wir denn verbrochen hätten. Sie dachte, wir sind aus dem Knast, als wir mit der Straßen­bahn auf den Heller gefahren sind. Dort war diese Übung mit Karte und Kompass, Geo­catching heißt das heute. Bei uns hieß das Marschieren mit Karte und Kompass. Und da mussten wir auch den Angriff üben, den Angriff auf den Feind mit Hand­granaten, den Sturm­angriff, wo keiner Hurra schreien wollte. Erst mussten wir uns einbuddeln, eine Grube machen, am Hang. Da schmeißte dich hin, damit du nicht gesehen wirst, und dann mussten wir, als der gepfiffen hat, aufspringen, den Hang hoch­rennen, und Hurra rufen, Sturm­angriff! Und da hat keiner Hurra gerufen. Da haben wir das drei- oder viermal gemacht, und beim vierten Mal haben wir alle Hurra gerufen.

Frau: Wir haben alle Hurra gerufen.

A: Das mit der Sturm­bahn in der Militär­akademie war 1968. Ich war unter zwei Minuten und bekam doch noch Ausgang für meinen tschechischen Besuch, den sie mir erst versagt hatten. Wir waren ja kaserniert in der Schnorr­straße. Das war auf alle Fälle 1968, weil unsere tschechischen Freunde vor der Invasion bei uns waren und wir danach leider nie mehr was von ihnen gehört haben.

Frau: Und bei der Abschluss­übung mussten wir in Gruppen im Tharanter Wald rumrennen in einer bestimmten Zeit, und es gab Stütz­punkte, wo man diesen Mist abgefragt wurde, Polit­sachen, und wie
man 'ne Waffe auseinander­nimmt … Hat mir nicht gut getan, psychisch in meiner Schwanger­schaft, und als Arne geboren war, war mein erster Gedanke, möge er nie Krieg erleben.

Mann: Mein Arbeits­platz, mein Kampf­platz für den Frieden -

A: Ich war dann Hilfs­assi am Technologie­lehr­stuhl. Da kam ich mit einer Bescheinigung an die ganze westliche Fach­literatur ran. Der Professor gab mir Recherche-Aufträge für die Biblio­thek, und ich konnte die Unter­lagen der IATA einsehen.

Mann: Das ist heute noch so.

A: Gift­schränke, haste damals gesagt. Wo die verbotene Literatur drin war.

Mann: Die IATA ist auch heute noch der internationale Dach­verband der Flug­gesell­schaften für das Luft­trans­port­gewerbe.

A: Alle großen Flug­linien weltweit sind da zusammen­geschlossen. Das war klasse. Aber der Professor war sowieso klasse, der wollte mich behalten. Der kam sogar nach dem Studium noch nach Schöne­feld und hat gesagt, wollen wir essen gehen? Na gut, da gab‘s eh nur die Kantine. Rot-und Weiß­kraut­salat, manchmal Schwarz­wurzel in einer dicken Soße auf grauen Abteil­tellern. Aluminium­besteck. Aber er hat mich zum Essen eingeladen und gefragt, ob ich nicht wieder zurück­kommen möchte an seinen Lehr­stuhl. Da wäre ich Assistent gewesen. Da hättste in vier Jahren deinen Doktor­titel machen können.

Mutter: Wenn das dein Vater gewusst hätte.

A: Mein Vater wäre stolz gewesen. Aber der für mich ausschlag­gebende Punkt waren die hundert Mark Berlin­zulage. Ich habe mit 880 Mark bei Interflug angefangen, in Dresden hätte ich 750 Mark verdient. Das war alles nicht viel. Im Drei­schicht­system hätteste viel mehr verdient als Arbeiter. Und Berlin fand ich spannender als Dresden zur damaligen Zeit, das war relativ grau.

Mutter: Dresden ist eine so schöne Stadt. Und du wärst viel näher bei uns gewesen.

A: Für meine Mutter war die Stadt noch gefärbt von vor dem Krieg. Aber für mich war Dresden relativ grau, soviel kaputt und die Frauen­kirche zerstört, und die Dresdner haben sich langsamer gedreht, bis die sich so ausgemehrt haben! Die Berliner waren lustiger und auch hilfs­bereiter.

Mann: Na, komm, Mädel, jib mir mal dein‘ Koffer!

A: Die Mentalität kannte ich ja schon. Und in Dresden saßen zur damaligen Zeit noch diese Frauen in den Cafés. Dresden war immer ein bisschen feiner gewesen, Beamten­stadt, hat man früher gesagt, das war noch abgefärbt von vor dem Krieg, und diese Frauen trugen alle noch diese Hand­schuhe, alle in braun gekleidet, zu meiner Zeit gab’s da etliche, aber die waren nun verarmt und hielten sich den ganzen Tag mit ihren Handschuhen von vor dem Krieg an einer Tasse Kaffee fest. Für ein junges Mädchen war das nicht so verlockend.

Vater: Lass sie ruhig, Anneliese.

A: Berlin war verlockend. Außerdem hatte ich während des Studiums schon Praktika gemacht. Bei der Fracht und im Tower. Das war alles organisiert. Die haben gesagt, du gehst zur Flug­sicherung, du gehst zur Disposition und du zur Fracht­abfertigung. Damals kamen die Regal­lager gerade auf, die du auch heute noch hast, mit den Gabel­staplern, das kam damals gerade vom Westen rüber. Oder die Platten­wagen mit den Rollen darauf, statt der Stück­gut­verladung. Und die ersten Paletten. Ich bin nachts mit dem Roller von Mahlow nach Schöne­feld gefahren und aufs Vorfeld. Da durfte unser­einer noch aufs Vorfeld. Das darfste ja heute alles nicht mehr. Ich bin nachts dahin, um zu sehen, wie die DC-9 der KLM landet und die Paletten auslädt. Die aller­ersten Paletten, das war was ganz Großes.

Mann: War das nicht eine DC-8? Wahr­schein­lich existiert dieses Flug­zeug heute gar nicht mehr.

A: Es gab sogar einen Zeitungs­artikel. Da bin ich auf dem Foto vor der KLM-Maschine in meiner Nato-Kutte zu sehen.

Frau: Die KLM und die SAS haben die Interflug unter­stützt, als sie nach der Wende kaputt­gemacht
werden sollte. Wo wir noch vor der Treu­hand skandiert haben. Da kamen lauter Unterstützungs­schreiben an den Staat. Trotzdem haben sie sie pleite gehen lassen.

Mann: Die Luft­han­sa hat­te ei­ne Rie­sen­angst vor Kon­kur­renz.

Frau: Für die Frauen ging es zurück in die Stein­zeit. Auf einmal war man eine verzwergte zwangs­emanzi­pierte DDR-Frau und die eigene Berufs­tätigkeit schuld an der Arbeits­losigkeit der Männer.

Mann: Ganz klar tabula rasa. Da durfte nichts übrig bleiben.

Frau: Lauter loyale, pater­na­listisch erzogene Töchter, die schuld daran sind, dass sich das System so lange hat halten können. Sie haben sich ja nicht gewehrt gegen Vater Staat.

A: Das ist nur Selbst­mitleid.

Mann: Wurde alles abgewickelt. Dabei war die Interflug ein gut gehen­der Betrieb.

A: Konzern, sagste heute.

Mann: Im Betriebs­teil Flug­häfen waren die damals existierenden Flug­häfen zusammengefasst: Schöne­feld, Dresden, Leipzig, Erfurt, im Sommer Barth. Barth war geöffnet für die Ostsee­urlauber.

A: Die Strecken Dresden-­Barth oder Leipzig-­Barth waren gut ausgelastet. Geld gab’s. Soviel kaufen konnte man sich ja nicht, und gerade die Hand­werker, die massen­weise das Geld hatten, warum sollten die nicht an die Ostsee fliegen. Einer meiner Kommilitonen ist in den Semester­ferien als Hilfs­steward geflogen. Da hätte man sich auch zum Praktikum bewerben können.

Mutter: Wolltest du das nicht immer machen?

A: Das wollte ich immer.

Vater: Das Kind wollte doch unbedingt Stewardess werden, oder nicht Anneliese?

A: Das wollte ich, aber dann irgendwie nicht mehr. Vielleicht war mir das auch zu kompliziert, weil ich den Bruder im Westen hatte. Da hättest du erst wieder deine ganzen Unter­lagen einreichen müssen, wer du bist, wo du herkommst, wurdest überprüft und musstest alles ausfüllen und beantragen und machen und tun, und ich war froh, wenn ich nicht danach gefragt wurde. Aber wer weiß. Nach Prag oder Warna oder Warschau hätten sie mich vielleicht gelassen. Dafür war ich dann im Tower und bei der Flug­sicherung. Ich habe gesehen, wie die Anflug­kontrolle die Flug­zeuge mit dem Instrumenten­lande­system runtergeleitet hat. Und die kamen nicht nur aus Warschau oder Warna. Die kamen aus Paris, Stockholm, London, Helsinki, Moskau, Havanna und Mosambik. Da mussteste gucken, welche Höhe, welcher Kurs, dass sich keine anderen Flug­zeuge nähern. Zu meiner Zeit hat man die noch als weiße Pünktchen auf den Bild­schirmen gesehen. Das hat mir gefallen. Das Flug­lotsen­alphabet. Der Funk­kontakt zu den Piloten. Heute leiten dich die Computer runter.

Frau: Pilotinnen waren bei Interflug nicht erwünscht.

A: Selber im Cock­pit zu sitzen, ist mir nie eingefallen. Es gab ja keine Pilotin. Was hätte man denn anziehen sollen?

Frau: Frauen durften mit dem Klein­kaliber den Feind angreifen und Hurra rufen, aber fliegen durften sie nicht. Das hat sich nach der Wende auch nicht groß geändert. In all den Jahren hat sich bei mir nur ein einziges Mal eine Kapitänin aus dem Cock­pit gemeldet, ich glaube, bei der SAS. Dabei muss man nur ein bisschen Mathe können.

Mann: Wir hatten andere Sorgen.

A: Im dritten oder vierten Studien­jahr gab es einen Spezial­einsatz. Da mussten wir der Eisen­bahn unter die Arme greifen. Sechs Wochen lang Waggons reinigen in Berlin-­Rummelsburg. Warum wir das eigentlich machen mussten, weiß ich gar nicht mehr.

Mann: Das diente der „Unter­stützung der Deutschen Reichs­bahn bei der Normalisierung der Trans­port­situation.“ Wir Jungs waren als Rangierer eingesetzt.

Frau: Wir bekamen nicht nur die schlechteren Maschinen und wurden bei der Material­zuteilung benachteiligt, wir waren auch wieder die, die putzten -

A: In der Wartungs­halle im Betriebs­bahn­hof Rummels­burg mussten die Dreck­schleudern, die aus Rumänien oder Bulgarien kamen, in einer bestimmten Zug­umlauf­zeit geputzt werden. Die standen nur so vor Dreck! Das heiße Wasser haben wir uns dort geholt, wo die Loks befüllt wurden; einmal ziehen und der Eimer war voll. Geschlafen wurde in Schlaf­wagen in Berlin-Lichtenberg, und da musste man laufen, alles laufen, immer an den Gleisen lang, endlos an Gleisen entlang, bis man endlich hinten an den Schlaf­wagen war, wo man sein Abteil hatte. Und ich als Unbedarfte bin da auch immer wieder hin nach dem Wochen­ende, und da wurden es immer weniger.

Frau: Ich war die erste, die nach drei Wochen mit Kranken­schein die Ak­tion verließ.

A: Die anderen haben sich krank schreiben lassen, und ich war immer noch im Einsatz, bis meine Mutter merkte, dass ich am Hals Stiche habe, das waren Floh­stiche, und da hat sie den Arzt geholt, der mich krank­schrieb und sagte, ich soll da ja nicht mehr hin. Damit endete mein Ausflug zur Waggon­reinigung.

Mann: Wenn du das heu­te mit Studenten machst …

A: Heute würden sie sagen, das verstößt gegen meine Aura oder was weiß ich, und ich geh vor Gericht. Damals hieß das: So, Sonder­einsatz, da und da hin, und dann ist gut. Und wenn du nein gesagt hättest, hätten die gesagt, Sie sind hier falsch am Platz.

Mann: Sie kriegen ein unbezahltes Studium, Sie krie­gen das Beste, was der Staat Ihnen bieten kann! Sie haben sich für das Wohl des Vol­kes einzusetzen, sonst sind Sie hier fehl am Platz.

A: Die Lauf­gräben, wo man eigentlich guckt, wie die Zug­achsen beschaffen sind, waren voller Scheiße, wenn sie die Toiletten durch­gespült haben.

Frau: Noch aus Kacke haben wir Bon­bons ge­macht -

Mann: Den Schnee­win­ter ‘69/70 ha­be ich nicht ver­ges­sen. Der hat sich tief ein­ge­prägt. Erst eine Wo­che theo­re­ti­sche Vor­be­rei­tung an der Schaff­ner­schule und dann Ein­satz im Rangier­dienst. Ich durf­te in Cott­bus an­tre­ten. Mit den an der Schaff­ner­schu­le er­lern­ten theo­re­ti­schen Kennt­nis­sen – Brems­weg­be­rech­nung ei­nes Gü­ter­wa­gens auf nas­ser Schie­ne – konn­te ich die Ran­gie­rer ins Stau­nen ver­set­zen. Hat­ten die noch nie ge­hört. Muss­te dann aber oh­ne Be­rech­nun­gen ran­gie­ren. Zwi­schen den Puf­fern rum­sprin­gen, um die Ver­ka­be­lung zu­sam­men­zu­ste­cken. Man hät­te leicht ein­ge­quetscht wer­den kön­nen. Uns fehl­te die Erfah­rung. Aber durch die Schicht­zu­lage war die Be­zah­lung ganz gut.

A: Bei dem Wahn­sinns­win­ter­ein­bruch in Sach­sen konn­te man den Ka­tas­tro­phen­ein­satz schon wie­der kom­men se­hen. An der Uni ging die Kun­de rum, dass al­les sich zur Ver­fü­gung hal­ten soll­te. Ei­sen­bahn­glei­se, Stell­wer­ke wa­ren im Schnee ver­sun­ken, und je­der hat­te Angst, dass er ein­ge­setzt wird, die Reichs­bahn hat­te ja im­mer Schwie­rig­kei­ten. Schnee­schip­pen bei der Hun­de­käl­te. Da bin ich mit den an­de­ren aber ge­spächt zum Bahn­hof, um ei­ne Fahr­kar­te zu er­gat­tern und noch recht­zei­tig mit dem letz­ten Zug nach Hau­se zu kom­men.

Mann: Zu Hau­se wa­ren wir nicht mehr greif­bar. Da konn­te dir nichts pas­sie­ren, Ver­war­nung oder Ver­weis oder »Sie flie­gen von der Hoch­schu­le, weil Sie sich nicht für den So­zia­lis­mus ein­ge­setzt ha­ben«.

A: Zum En­de des Stu­di­ums kam der Se­mi­nar­grup­pen­lei­ter und hat ge­sagt, wel­che Stel­len die In­ter­flug hat­te und wo man hin­ge­hen könn­te.

Mann: Schöne­feld war die ein­zige Op­tion. Das war ein inter­natio­naler Flug­hafen.

A: Ich bin in die Tech­no­lo­gie. Da ge­hör­te der Start­dienst da­zu und die Bo­den­ge­rä­te­werk­statt, wo die Fahr­zeu­ge, die auf dem Vor­feld rum­fah­ren, ge­war­tet wer­den. Da hat­te aber kei­ner auf mich ge­war­tet, auch wenn sie uns das beim Stu­di­um ein­ge­re­det ha­ben. Der So­zi­a­lis­mus braucht euch, ihr müsst eu­er Bes­tes ge­ben. Und ich komm da­hin, und die wuss­ten gar nicht, was sie mit mir an­fan­gen soll­ten. Vor lau­ter Schreck ha­ben sie mir erst­mal die gan­zen Be­triebs­an­lei­tun­gen ge­ge­ben von den Flug­zeu­gen, von der IL 18 und der TU-134, das sind sol­che Wäl­zer, da steht je­de Schrau­be, je­de Nie­te drin, das soll­te ich mir an­eig­nen, oh Gott oh Gott. Mach das mal acht­ein­halb Stun­den am Tag!

Mann: Sind Sie na­turell oder brau­chen Sie Unter­stüt­zung?

A: Ich war 23 und die ein­zi­ge Frau in der Män­ner­wirt­schaft, das wa­ren al­les Män­ner, al­les Tech­ni­ker, al­le zehn oder mehr Jah­re äl­ter als ich, aber die hat­ten die Klap­pe auf dem rech­ten Fleck. Wie die Ber­li­ner so sind. Da muss­tes­te schon mal ne Tas­se Kaf­fee mit­trin­ken, vor­her hat mir Kaf­fee nie ge­schmeckt. Und ne­ben­an wa­ren die La­de­ar­bei­ter zu hö­ren. Wie oft hab ich ei­nen der La­de­ar­bei­ter sa­gen hö­ren: Komms­te schon wie­der mit dei­nem scheiß So­li? Steckt euch den So­li sonstewo hin! Die La­de­ar­bei­ter konn­ten sa­gen, wo’s lang­geht, die brauch­ten sie ja, die Schicht­ar­bei­ter, de­nen ha­ben sie es vor­ne und hin­ten rein­ge­bla­sen.

Mann: Da ging’s halt di­rekt zu.

A: Nur ei­nen gab es, schon äl­ter, der hat ge­dacht, das jun­ge Mä­del, da kann er mal rich­tig … Der hat mir zwei­mal den Rü­cken hoch ge­stri­chen, nach dem Mot­to: ob man na­tu­rell ist oder ob man Un­ter­stüt­zung braucht. Aber da brauch­te ich den bloß an­zu­fah­ren, da hat­te sich die Sa­che er­le­digt. Und als der sag­te, wir kön­nen ja »du« sa­gen, habe ich ge­sagt, da ge­hö­ren im­mer zwei da­zu. Da blieb es beim Sie.

Mann: Sind Sie naturell oder brauchen Sie Unter­stüt­zung?

A: Der Kol­le­ge, mit dem ich im Zim­mer saß, war ein Net­ter, 31, aber schon ein ge­stan­de­ner Ha­se. Da­mals war er ge­ra­de in die LDPD ein­ge­tre­ten, da­mit er nicht in die SED muss­te.

Mann: Die woll­ten mal wie­der einen Tech­niker in ih­rer blö­den Par­tei.

A: Die ha­ben nicht lo­cker ge­las­sen, und da ist er schnell in die LDPD ein­ge­tre­ten.

Mann: Das war die Zeit, als der Ter­mi­nal 5 neu ge­baut wur­de, den sie jetzt zu­machen.

A: Die neue Pas­sa­gier­ab­fer­ti­gung wur­de ge­ra­de ein­ge­rich­tet, NPA, hat man da­mals ge­sagt, und da muss­ten die gan­zen tech­no­lo­gi­schen Pro­zes­se vor­be­rei­tet wer­den, da muss­ten die Ge­päck­bän­der be­stellt wer­den und erst­mal ge­guckt wer­den, wel­che Ge­päck­bän­der man über­haupt braucht. Die Plat­ten­ver­schie­bung auf den Bän­dern war et­was ganz Neu­es. Die Coun­ter muss­ten ein­ge­rich­tet wer­den, die Lam­pen, die gan­ze In­nen­ein­rich­tung. Der Kol­le­ge ist mit mir durchs Ge­bäu­de ge­gan­gen und hat mir sei­ne Vor­schlä­ge er­klärt. Er hat­te schon die an­de­ren Ab­fer­ti­gun­gen ein­ge­rich­tet und die Dol­lies mit ent­wor­fen, die La­de­wa­gen. Wir durf­ten ja nichts vom Wes­ten kau­fen, wir muss­ten al­les nach­bau­en.

Mann: Wir ha­ben al­les selbst ge­baut.

A: Wir ha­ben auch un­se­ren Bun­ga­low und die Ter­ras­se selbst ge­baut. Nach­dem das ers­te Kind da war. Das Grund­stück hat­ten wir uns zu­sam­men­ge­spart. Ur­sprüng­lich war das nur ei­ne Pfer­de­kop­pel. Ge­hör­te ei­ner al­ten Bäu­e­rin, ur­sprüng­lich aus Schle­si­en. Wir ha­ben das Grund­stück we­gen der Kin­der an­ge­schafft. Je­des Wo­chen­en­de ging der Be­ton­mi­scher für den Mör­tel. Dort hat uns der Vol­ker häu­fig be­sucht. Den Vol­ker ha­ben wir nie zu Hau­se ge­trof­fen.

Mann: Bei der In­ter­flug wa­ren West­kon­tak­te un­er­wünscht. Ab ei­nem be­stimm­ten Le­vel hat­test du bes­ser ei­ne ast­rei­ne Ka­der­ak­te.

A: Mit dem Vol­ker ha­ben wir uns nur heim­lich ge­trof­fen. Auf dem Grund­stück oder in Des­sau, im Wör­lit­zer­park, in Ei­se­nach, nie am Wohn­ort. Auch die Kin­der durf­ten das in der Schu­le nie er­zäh­len. Of­fi­ziell hat­ten wir kei­ne West­ver­wand­ten.

Vater: Sei still Anne­liese, die Kin­der soll­ten das nicht in der Schu­le er­zäh­len!

A: Da hat man den Kin­dern ganz schön was zu­ge­mu­tet. Dass du das ja nicht drau­ßen rum­er­zählst! Mit sechs, sie­ben Jah­ren. Das war nicht leicht. Heu­te sags­te, da­von krie­gen Kin­der psy­chisch was weg.

Frau: Denk dran, das ist nur Selbst­mit­leid.

A: Die Kar­la. Die Kar­la ist mir manch­mal auf Ar­beit be­geg­net. Der Hans-­Georg war ja in Ber­lin. Der wohn­te mit der Kar­la in ei­nem Haus mit Gar­ten in Mah­low. Ich war nicht oft dort. Höchs­tens mal zum Kaf­fee­trin­ken. Der ver­kehr­te in ganz an­de­ren Krei­sen als wir. Die Kar­la war Dol­met­sche­rin, dol­metsch­te für bri­ti­sche und fran­zö­si­sche Di­plo­ma­ten, da hat­te sie na­tür­lich öf­ter in Schö­ne­feld zu tun. Ich ha­be sie manch­mal übern Gang in ei­nem Zim­mer ver­schwin­den se­hen. Da saß die Par­tei­lei­tung, die kom­plet­te Füh­rungs­rie­ge. Die ha­ben na­tür­lich die gan­ze Zeit vom Vol­ker ge­wusst. Das ist mir erst hin­ter­her klar ge­wor­den. Die gan­ze Heim­lich­tu­e­rei, das Ver­steck­spiel all die Jah­re … Wenn die ge­wollt hät­ten -

Mann: Ohne ast­rei­ne Ka­der­ak­te warst du bei In­ter­flug nicht gern ge­se­hen.

A: Wenn die ge­wollt hät­ten, hät­ten sie dich je­der­zeit in die Pro­duk­ti­on ste­cken kön­nen, ans Fließ­band oder sonst­wo hin.

Frau: Die Qua­li­fi­zie­rungs­eu­pho­rie der DDR kann nicht da­rü­ber hin­weg­täu­schen, dass In­ge­nieu­rin­nen, Tech­ni­ke­rin­nen und Er­fin­der­in­nen pro­pa­gan­dis­tisch ver­kün­de­te Aus­nah­men wa­ren. Tech­nisch qua­li­fi­zier­te Frau­en füll­ten erst­mal nur die Au­to­ma­ti­sie­rungs­lü­cken in der In­dus­trie.

A: Die hat­ten ei­nen Ro­chus auf die In­tel­li­gen­zia!

Mann: Das hat man nicht laut ge­sagt.

A: Das hat man na­tür­lich nur hin­ter vor­ge­hal­te­ner Hand ge­sagt.

Mann: Wenn du gut durch­kom­men woll­test, hast du den Mund ge­hal­ten.

Vater: Wenn du wei­terkom­men willst …

Mann: Kei­ne lan­gen Mo­no­lo­ge.

A: Über­haupt kei­ne Mo­no­loge. In der DDR-Zeit war ich über­wie­gend still.

Antje Rávik Strubel wird in Potsdam geboren, wo sie bis heute lebt. Nach einer Ausbildung zur Buch­händlerin studiert sie Literatur­wissen­schaften, Amerikanistik, und Psycho­logie. Heute arbeitet sie als Schrift­stellerin und Übersetzerin. 2021 erhält sie für ihren Roman Blaue Frau den Deutschen Buch­preis.

Produktion: Holm-Uwe Burgemann
Satz: Helena Lang

Gestaltung: (Studio) Daniel Zenker
Programmierung: Thomas Günther

SPIEGELLAND: NEUE MONOLOGE
Gefördert durch das Land Berlin

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Vom Prinzip her überwiegend still
Kapitel I–VIII
[I Das ist dein Monolog.]
[II Es gab ja nichts.]
[III Mit den Wölfen heulen.]
[IV ... damals stand ich auf Brecht, ...]
[V Aber der Himmel war bedeckt.]
[VI Die Füße in einer Schüssel]
[VII Nachts mit dem Roller]
[VIII Immer an den Gleisen entlang]

Im Rah­men un­se­rer ge­mein­nützi­gen Ar­beit nach § 52 Abs 2. Satz 1 Nr. 5 AO sind wir be­rech­tigt, steu­er­be­gün­stig­te Zu­wen­dun­gen ent­ge­gen­zu­neh­men und da­rü­ber Zu­wen­dungs­be­stä­ti­gun­gen aus­zu­stel­len. Die­se kön­nen Sie nach §10b EStG als Son­der­aus­ga­ben bei Ih­rer Steu­er­er­klä­rung gel­tend ma­chen und er­hal­ten so ei­nen Teil des ge­spen­de­ten Be­tra­ges zu­rück. Soll­te das für Sie re­le­vant sein, sen­den wir Ih­nen die­se im An­schluss an Ih­re Spen­de ger­ne zu.