Ein Erlösungsversuch
mit Marlene Streeruwitz.
»Sie wissen gar nichts«, sagte die Frau von der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben. »Sie wissen gar nichts über die DDR.« Und. Die Frau von der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben hatte recht.
Das war 2009. Beim Fest zum 65. Geburtstag von CvB in Berlin. Die Tischordnung hatte mich zuerst neben GR von der Bavaria Film gesetzt. Nun. GR hatte Ende der 90er Jahre als Geschäftsführer der Bavaria-Film mit mir Verhandlungen geführt, meinen Roman Verführungen. zu verfilmen. Er hatte mir eine Rechtsanwältin vermittelt, die mich in den Verhandlungen beraten sollte. Diese Verhandlungen waren abgeschlossen.
GR rief mich fast täglich an. Es gab Gespräche in München. Dann plötzlich. Ich konnte GR nicht mehr erreichen. Die Rechtsanwältin schickte mir eine sehr hohe Rechnung. Wie in einer häßlichen Liebesgeschichte war es mir überlassen, das Ende der Beziehung zu begreifen. Und die Kosten zu übernehmen. Und. Wie in einer häßlichen und sehr privaten Liebesgeschichte. Ich war betroffen und verwirrt genug, der Sache nicht weiter nachzugehen. Ich zahlte die Rechnungen. Aber. Neben dem Mann, der diese Rechnungen und die bösen Gefühle verursacht hatte. Neben dem wollte ich nun doch nicht sitzen. Der einzige freie Platz bei diesem Fest war am Nebentisch, und so kam ich neben die Frau von der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben zu sitzen.
Und ja. Diese Person hatte recht. Wenn das Sprechen über einen Vorgang wie den der deutschen Wiedervereinigung in Abstrakta erfolgt, dann weiß ich nicht sehr viel mehr als die medialen Darstellungen und wie das neue Abstraktum »Deutschland« neu konstruiert worden war. Wie sollte ich da meine eigenen Lebensaugenblicke einbringen. Aber. Nicht anders als mit dem Mann von der Bavaria Film. Mein Leben und meine Reaktionen sollten in seinem Fall hinter Worte wie »Geschäftsinteresse« oder »Erfolgsaussichten« geschoben werden und den ja erfolgten mündlichen Vertragsabschluß ungültig machen.
Ich. Die Vertragspartnerin. Ich war betrogen worden. Und wie in einer so privaten Liebesgeschichte war ich durch diesen Betrug beschämt und hielt still.
Aber genau deshalb wollte ich nicht neben ihm sitzen. Er hätte mir sicherlich erklärt, was schuld an diesem Abbruch der Verhandlungen gewesen war. »Andere Überlegungen.« »Geschäftsinteresse.« »Erfolg.« Und dass das doch jeder verstehen müsse. Und ja. Wie in einer ganz normalen Beziehung. Ich oder mein Roman. Wir lieferten keinen Nachschub für seine Karriere. Für seine Aura. Und er hätte mir sicherlich gesagt, dass das doch alles nicht so wichtig gewesen sein konnte.
Die Frau von der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben sagte es mir wenigstens gleich. Die Lebenserfahrung einzelner Personen gehen gegen die Zusammenfassung in das Abstraktum »Deutschland« unter. Die gelebte Erfahrung gilt nicht. Das Leben gilt nicht. Es gibt einen Katechismus der Vereinigungsbedingungen, der die gelebte Erfahrung ersetzt und die leben bestimmt. Obwohl. Gleich nach dem Satz »Sie wissen gar nichts über die DDR.« fügte sie an, dass ihre Eltern in Bautzen gewesen seien. Und ja. Diese Tatsache zieht ein Wissen nach sich. Aber. Alles dieses Wissen und Nichtwissen ist unvergleichlich. Alles dieses Wissen und Nichtwissen. Es bleibt an die Personen gebunden. Es wird nicht wirksam. Das jeweilige Regime bestimmt die Wertigkeit und legt die Leseanleitungen vor. Wie bei den Verfilmungsverhandlungen. Die zur Selbstverständlichkeit erklärte Irrelevanz der einzelnen Leben macht es wertlos und damit übergehbar. Die öffentlichen Sprachregelungen sind die Medien dieser Entwertung. Oder. Wie im Fall der Bavaria Film. Die Institution formuliert eine ebensolche Bedeutungslosigkeit des Lebens der einzelnen Person, über die man wortlos hinweggeht. »Hinters Licht führen.« heißt diese Methode. Und. In die Dunkelheit hinter dem Licht wird auf allen Ebenen geführt, wenn Rede und Wirklichkeit so weit auseinanderklaffen. In Wirtschaft und Politik gleichermaßen.
Gut. Ich habe es von einer Fachperson dekrediert. Ich weiß nichts. Was fange ich aber dann mit dem Gefühl an. Und es ist ein Gefühl. Oder besser. Die Erinnerung versetzt mich sofort in den Zustand zurück, wie es war, als diese Personen aus den Büschen auf dem Weg zum Bahnhof in Pankow heraustraten. Herausbrachen. Auftauchten. Asiatische Personen waren das. Vietnamesen, wie mir damals erklärt wurde. Diese Personen lebten in den Büschen. Schliefen in den Büschen. Gingen von da zu ihren Arbeitsstätten oder was immer der Tag für sie bedeutete. Vietnamesen ginge es gerade schlecht, war mir gesagt worden. Sie wären in der DDR als Brudervolk aufgenommen worden und nun. Nach der Wiedervereinigung. Ohne DDR waren sie keine Brüder mehr. Niemand wolle sie. Sie hatten den Schutz des Regimes verloren. Diese Personen. Sie brachen aus den Büschen hervor. Unvermittelt und laut. Sie gingen davon. Krochen in die Büsche zurück. Und wir alle gingen an den Büschen vorbei. Wir alle. Nicht nur ich. Ich wohnte damals für einige Zeit im Gästehaus der Villa Grotewohl.
Am 8. November 1989. Wir waren in Ostberlin gewesen. Der Taxifahrer zeigte uns lange Reihen von Gründerzeithäusern, von denen die Balkone abgeschlagen worden waren. Weil niemand die Erhaltungskosten zahlen konnte. Oder wollte. Ich saß im Taxi hinten und mußte den Sitzgurt festhalten. Zum Schein. Ich hätte mich nicht anschnallen können, obwohl das vorgeschrieben war. Das Gurtschloß fehlte. Das hatte der Taxifahrer nicht bekommen können. Aber es wäre ihm auch zu teuer gewesen. Der Sitzgurt war Theater. Für die Volkspolizei. Obrigkeitsbefriedigung. Der Taxifahrer zeigte uns alles, was nicht funktionierte. Er wollte uns das gesamte Versagen des Regimes vorführen. Die abgeschlagenen Balkone. Die betonierten Vorgärten. Baufällige Häuser. Stillgestellte Fabriken. Verfallene Lagerhallen. Zerfallende Lauben. Brachgefallene Schrebergärten. Die abfallenden Fassaden der Stalinallee. Alles schwarz vom Ruß der Braunkohle. Auch der Taxifahrer wußte nicht, wo wir etwas essen hätten können. Ich wurde dann viel zu früh zum Flughafen Schöneberg gebracht. Ich flog von da nach Wien zurück. Im Flugzeug dann. Es war den ganzen Tag klar gewesen, dass etwas passieren würde. Als könnten die Straßen selbst etwas erzählen, war das gewesen. Aber. Es war wohl die Leere der Straßen gegen die Unruhe anderswo, von der wir wußten, die uns dieses Gefühl der Spannung vermittelte. Wie wir es ja immer selber sein müssen, diese Erzählungen zu vollenden.
Im Flugzeug dann. Die Interflug-Stewardess kam mit den Getränken aus der pantry. Aber. Sie hatte keinen container trolley zur Verfügung, wie das für westliche Fluglinien üblich war. Sie rollte eine Dinette den Gang entlang.
Eine Dinette. Das war ein zusammenklappbarer Servierwagen mit Tabletts aus Resopal und dem Gestell aus Chrom. Das war 1989 schon vintage aus den 70er Jahren. Auf dem Resopaltablett standen Pappbecher, eine Flasche Wasser und eine Flasche Wodka. Ich weinte damals. Ohne jedes Schluchzen rollten mir die Tränen die Wangen hinunter. Der Dinette-Servierwagen hatte mich zum Weinen gebracht. Die Anstrengung der Stewardesse, die Pappbecher auf der Dinette festzuhalten. Wie sich diese Person über die Dinette beugte. Wie es solche Mühe machte, die Dinette den Gang hinunterzuschieben. Tief gebeugt mußten die Gegenstände festgehalten werden. Wie sich das mit den fixierbaren soliden Getränketrolleys der westlichen Fluggesellschaften verglich. Alle diese Bemühung, es richtig machen zu wollen. Genauso gut sein zu wollen. Es auch haben zu wollen. Und dass das Richtigmachen am westlichen Standard gemessen wurde. Alle Bemühung um diese Vergleichbarkeit war in diesem Servierwagen zusammengefaßt. Und. Es war offenkundig, dass das Ziel nicht erreicht worden war. Dass man verloren hatte in diesem Wettkampf. Und die Verlierer. Das Ausmaß des Verlierens war da nur vage vorstellbar. Aber vorstellbar. Das Verlieren würde gelebt werden müssen von den Verlierern, die Verlierer genannt, der Vorgeschichte verlustig gehen mußten. Auf Millionen Personen würde das Wort »Wiedervereinigung« verteilt werden und die jeweils bestimmten Lebenswirklichkeiten begründen, ohne dass die Personen wissen konnten, was das bedeutete. Ja. Selbst im Nachhinein läßt sich kein solches Wissen herstellen. Für jede Person wird dieses Wort eine andere Auswirkung und eine andere Bedeutung gehabt haben. Erst die Abstimmung in Wahlen und Migrationsbewegungen ergeben eine vage Auskunft darüber, was solche Worte in einzelnen Leben bedeuten. Und wiederum unterliegen diese Ergebnisse weiteren Deutungen. Wissen nicht.
Und ja. Selbstverständlich bleibt es eine Behauptung, wenn ich meine, am 8. November angesichts der Dinette im Flugzeug etwas von diesem Augenblick in der Geschichte wissen zu können. Aber das. Das ist die Grundfrage des Demokratischen:
Wie werden die einzelnen Geschichten zusammengeführt und in welcher Weise wird dann weitererzählt? Bleibt es beim Auktorialen oder gibt es die Möglichkeit einer demokratischen Erzählung?
»Es war allen klar, wie das funktionierte«, sagte die Schauspielerin von der Volksbühne. Sie meinte damit, dass man ein gewisses Theater mit der DDR-Obrigkeit mitmachen mußte, dann blieb eine unbehelligt. Und wäre das nicht durchaus genauso im Westen gewesen. Und wäre es nicht eigentlich moralischer, wenn das Doppelleben offenkundig sei und nicht so verschwommen, wie das im Kapitalismus der Fall gewesen wäre. Sie jedenfalls. Sie hätte ihre Seele nicht so verkauft, wie das im Westen der Fall sein hätte müssen. Ist die von dieser Person vermutete Kongruenz der einzelnen Leben mit den Entwicklungen im Westen wirklich vorhanden? Gehen also die einzelnen Geschichten in der großen so auf, dass jede Person sich im Allgemeinen beschrieben sehen kann? So gut wie möglich? Und was macht es, wenn die Assimilation in diese Kongruenz nicht funktioniert?
Es ist die Umkehrung des Ausgangspunkts davon, was Kultur genannt wird, in der wir begriffen sind. Nicht die Dogmen von Religionen und Nationalismen aller Art benennen von oben herab, was als gelebte Erfahrung wie einzuordnen ist. Die neoliberal betriebene Individualisierung und deren Gegnerschaft hat zu Identitätspolitiken geführt, in denen die zu lebende Erfahrung selbstbestimmter zur Erzählung verflochten wird. Wie einer oder eine genannt wird, soll von der benannten Person bestimmt werden. Das wäre die Erfüllung der Grundrechte. Darum geht es nicht. Oder nur zum Teil. Im Grunde geht es um den alten Kampf um die Deutungshoheit und wer wen wie nennt und damit berechtigt. Oder nicht.
Und. Das öffentliche Sprechen. Es blieb altmodisch hinter den Zeiten zurück. Im öffentlichen Sprechen. Es werden Klarheiten behauptet, die es nicht gibt. Ich mußte und muß damit fertig werden, dass ich in einer Gesellschaft lebe, die den Holocaust in Sonntagsreden weggesplittet hat. Aber. Die ideologischen Eindeutigkeiten vom Beginn des 20. Jahrhunderts sind hinter angelernten demokratischen Vorgängen verborgen. Hin und wieder bricht so ein Spalt auf und wir sehen an den extremsten Vorgängen, dass diese mörderische Eindeutigkeit weiter existiert. Im Allgemeinen. Die eindeutigen Überzeugungen sind vom Wohlergehen im kapitalistisch Andemokratisierten überwuchert und werden so stillgehalten. Die politische Person funktioniert so auf sehr verschiedenen Ebenen. Es gibt immer noch ein Eigentliches, das in Sätzen wie »Jetzt muß ich aber doch etwas sagen.« oder »Das wird gesagt werden müssen.« kurz aufblitzt.
Und. Die Verlierer verloren ihre Geschichte. Bisher. In der Geschichte. Bisher wurden die Verlierer und die Verliererinnen, in die Mehrheitsbezeichnung aufgelöst, zum Verschwinden gebracht. Auch dagegen kämpfen die gegensätzlichen Identitätspolitiken. Aber halt.
Schnell ist so ein Satz hingeschrieben. Wer kämpft denn nun da wieder wogegen? Korrekterweise.
Also den Tatsachen so weit wie möglich entsprechend muß es heißen: Auch dagegen kämpfen Personen mit Hilfe der unterschiedlichsten Identitätsvorstellungen. Denn. Aus dieser entfremdeten Sprache abgeleitet wird es zur tatsächlichen Realität, dass Politiken gegeneinander kämpfen und die Personen, die sie vertreten oder meinen oder vernichten. Diese Personen sind wiederum zum Verschwinden gebracht hinter solchen Formulierungen. Solche Formulierungen. Wir kennen sie aus den Kirchentexten, Zentralkommitteeprotokollen und allen Kriegserklärungen.
Die deutsche Wiedervereinigung wäre der perfekte Studienfall für demokratisches Handeln gewesen, hätte auch der Westen die eigene Geschichte aufgearbeitet. Damit wären nämlich die Bezeichnungen »Ossi« und »Wessi« in gleicher Weise durchgearbeitet worden. Das wäre angewandter Antirassismus gewesen. Keine Überlegenheit hätte behauptet werden können, wenn die vielen Geschichten nebeneinandergelegt worden wären und so deren Unvergleichbarkeit nachweisbar geworden wäre. Denn. Vergleichbar bleibt immer nur der Connatus. Jede Person, die lebt, muß gerade leben. Darin sind wir einander gleich. Alle anderen Gleichheiten beziehen sich zwar auf diesen Umstand, benennen ihn aber nicht. Der Zufall, als Ossi gelebt haben zu müssen. Viel zu schnell wurde die DDR-Kultur unter Unrechtsstaatsdefinitionen vergraben. Viel zu groß und viel zu kurz war die Rührung gewesen, die die Wahrheiten wiederum anders verschleierte. Viel zu einseitig der Blick auf diesen ehemaligen Osten …
Marlene Streeruwitz wird in Baden bei Wien geboren und absolviert Studien der Slawistik und Kunstgeschichte. Sie schreibt und inszeniert Theaterstücke und Hörspiele. Ab 1986 zahlreiche Veröffentlichungen, darunter Essays, Reden und vor allem Romane. Zuletzt erschien 2021 der Vorlesungsband Geschlecht. Zahl. Fall. bei S. Fischer. Streeruwitz lebt in Wien, London und New York.
Produktion: Holm-Uwe Burgemann, Simon Böhm
Satz: Simon Böhm
Videos: August Bisinger, Ole Burgemann
Gestaltung: (Studio) Daniel Zenker
Programmierung: Thomas Günther
SPIEGELLAND: NEUE MONOLOGE
Gefördert durch das Land Berlin
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