Wer also war ich, als ich es dachte und sah? Bei Hegel fand ich den Satz: Ich schreibe, um einmal zu wissen, was ich schon wusste. So ähnlich lese ich mich auch, denn ich fühle, was ich fühlte, als es geschah. Davon nun handelt alle Literatur: eine Archäologie des inneren Lebens zu hinterlassen, eine kurze Spur der Erkenntnis in der langen Geschichte der Unwissenheit.
Der Stoff ist dabei nicht von Belang – obgleich er gewiss auch nicht austauschbar ist, denn wir haben keinen anderen als eben den, den wir haben. Nur ist der Stoff nicht der Sinn, sondern die Folie, auf der er sich öffnet. Oder wie Flaubert es notierte: »Was mir schön erscheint und was ich machen möchte, ist ein Buch über nichts, ein Buch ohne äußere Bindung, das sich selbst durch die innere Kraft seines Stils trägt, so wie die Erde sich in der Luft hält, ohne gestützt zu werden.«
Und dann schrieb er eine der schönsten Liebesgeschichten der Weltliteratur. Denn natürlich, bei aller Verteidigung der Literatur vor den Zumutungen ihrer Realitätszuweisung und anekdotischen Ersatzbefriedigung, sagt sie eben auch etwas, und eben nicht nur als Form. Wir können uns diesem »Sie sagt es« aber erst dann zuwenden, wenn wir den Umweg über ihr »Wie sagt sie was« durchlaufen haben.
Spiegelland ist mir auch heute noch – oder vielleicht gerade erst heute, wo der zeitliche Abstand so vieles auch bestätigt hat, was in den 1990er Jahren noch traurige Vorausschau war – ein besonderes, wichtiges, persönliches Buch, durch das ich mich wahrscheinlich mehr verändert habe als durch alle anderen Bücher. Ich habe gelitten, als ich es schrieb. Ich habe gelitten, als es erschienen war. Und ich leide, wenn ich es lese oder gar vorlesen soll. Denn außer in meinen Gedichten ist kein Textkörper so sehr durchdrungen von existentieller Verzweiflung wie dieser. Und es ist nicht nur die Verzweiflung eines pubertierenden Joseph Giebenrath der DDR, der gleichsam dort »Unterm Rad« gelebt hat, sondern eines Ichs in seinem einzigartigen Recht auf sich selbst.
Das macht den Stoff zur Allegorie und die Person zur Figur; so hoffe ich es; so wünsche ich es. Und tatsächlich haben ja Leser im Westen (eigentlich fast nur im Westen, weil das Buch für Leser im Osten zu früh kam) diesen Roman einer Kindheit und Jugend im Korsett der Diktatur verstanden, so als wäre es auch ihre Geschichte gewesen.
Ich suche etwas, von dem ich nur weiß, dass es mir fehlt. So bin ich zurück nach Dresden gekommen, ein halbes Jahrhundert danach. Aber auch, wenn ich meine Koffer auspacke, komme ich nicht an. Vielleicht gerade auch deshalb nicht, weil ich die Stadt noch aus den Siebziger- und Achtzigerjahren kenne, davon heute aber nichts mehr wiederfinden kann. Die gleichen Straßen sind andere Straßen, die gleichen Häuser andere Häuser. Alles ist anders, auch wenn es, seiner Form, seiner Hülle, seiner Haut nach, überhaupt nicht anders ist. Doch es geht eine Bewegung durch die Dinge hindurch, die noch die alten Dinge sind, durch die sie andere werden, fremde, rätselhafte Wesen. Es sind die Menschen, durch die sich alles, auch das Unveränderte, ändert. Und man selbst ist ja auch unentwegt ein anderer. Nur der Fluss ist mir vertraut, sein ruhiges Gleiten in weichen, mäandernden Bögen, von Wiesenlandschaft gerahmt und an den Hängen der Loschwitzer Höhe vorbei, heute wie gestern oder wie vor einhundert Jahren. Der Dresdener Dichter Heinz Czechowski, den seine Freunde, so er am Ende noch welche hatte, liebevoll Czecho nannten, schrieb einen der schönsten Verse dazu: Sanft gehen wie Tiere die Berge neben dem Fluss.
Die Wohnung im Stadtteil Pieschen, Arbeiterviertel, Prekariat statt Prominenz (was mir besser gefällt), ein Einkaufscenter schräg gegenüber, Discounter, ein kleines Obst- und Gemüsegeschäft, das einem Vietnamesen gehört, der aus der D.D.R. nicht mehr rechtzeitig wegkam (oder sind es schon dessen Kinder oder Enkelkinder?), die Straßenbahn gleich vor dem Hauseingang, der immer mit irgendetwas vollgestellt ist und verweht von Laub oder Fetzen Zeitungspapier, das berühmt/berüchtigte Brauhaus Watzke zwei Straßen weiter (»Wo Sie vielleicht nicht so gern hingehen möchten?« – »Nein, und warum nicht?«), Ein-Zimmer–Apartment im vierten Stock, Kunststofffußboden, der mich an Plaste & Elaste aus Schkopau erinnert, unter mir ein IT-Management, eine Arztpraxis, die Sparkasse. Funktional, ausdruckslos, aber mit heller Fensterfront und einem (allerdings verwucherten) Dachgarten, der mich versöhnt. Die Vorstellung, nicht aus einer Wohnung ins Freie treten zu können, und sei es nur auf einen Balkon, jetzt, im Sommer, war mir fast unerträglich. Bin ich verwöhnt?
… gewiss hätten wir auf die Frage, woher wir denn kämen, kurz und verbindlich antworten können, aber es muss in uns beiden in demselben Augenblick das Gefühl geherrscht haben, heimatlos zu sein, so dass sie »aus Sonnenstadt« antwortete und ich, »aus Utopia«. Wir lachten, während der Mann etwas verwirrt war und sein freundliches Interesse an uns lächerlich gemacht sah, ohne indes verstehen zu können, dass wir nicht seine Frage, sondern die Antwort ins Lächerliche brachten, denn wir müssen sehr genau empfunden haben, dass die Stadt unserer Herkunft nicht die Stadt unserer Heimat ist, und dass wir nicht der Stadt unserer Herkunft entsprechen und mit ihr nichts zu tun haben wollen und nach ihr nicht gefragt werden und gleich gar nicht mit ihr in einem Zusammenhang erscheinen wollen, der nur ein äußerer Zusammenhang sein kann.
Und wie es weder eine Sonnenstadt gibt noch ein Utopia, so gibt es keine Heimat, sondern immer nur Herkunft, am ehesten noch, dachten wir, als wir vor einiger Zeit in einem polnischen Krankenhaus lagen, verleiht die gemeinsame Sprache dem Wort Heimat eine Bedeutung, aber die gemeinsame Sprache ist auch nur äußerlich eine gemeinsame Sprache und kann im tieferen Sinn einer Verständigung eine ganz und gar unverständliche Sprache sein, denn es gibt keine Heimat, wenn es sie in einem selbst nicht gibt, und ich kann jede Stadt und jede Landschaft und jede Herkunft entschieden verlassen, denn ich verlasse immer eine Fremde und tausche sie aus gegen eine andere, unbekanntere Fremde, ich verlasse eine Stadt oder eine Landschaft oder eine Herkunft in dem Gefühl, einen Zusammenhang mit ihr leugnen zu müssen und nach ihr gefragt zu werden als lästig zu empfinden.
Man müsste, denke ich, in geregelten Abständen eine Stadt und eine Landschaft und eine Herkunft verlassen. Man müsste immer wieder die Dinge verlassen, die man um sich aufgebaut hat. Man müsste das Bild verlassen, das sich die anderen von einem machen und dem man aus Gewohnheit entspricht. Seinen Namen und seine Worte müsste man entschieden verlassen von Zeit zu Zeit. Die Romane im Kopf müsste man verlassen und die Geschichte des Körpers. Die Semantik der Sprache müsste man verlassen, vergessen und verlassen.
Der Kleiderschrank im Vorraum ist schmal, mehr ein Spind in zwei Reihen, zur Hälfte mit Handtüchern, Bettwäsche und den vergessenen Sachen früherer Gäste gefüllt. Ich hänge ein paar Hemden und Jacketts auf die schon verbogenen Bügel aus Draht, wie man sie von der Reinigung bekommt, und lasse alles andere im Koffer. Ich habe keine Lust, mir weitere Fächer zu suchen oder sie durch Umschichtung der Innenablagen frei zu räumen; es kommt mir plötzlich so absurd vor, dieses Hiersein, dieses Ankommen und Auspacken und Einräumen der Dinge des täglichen Bedarfs, im Grunde geübt und erfahren durch viele andere Stipendien an allen möglichen Orten der Welt, die besser oder schlechter, größer oder kleiner, vornehmer oder einfacher waren; dieses »Zurück-in-der-Heimat-sein-Wollen«, das ich mir als ein mögliches Motiv so konkret bis zu diesem Moment gar nicht vorgestellt habe und das ich, in einer anderen Verfassung, entschieden bestritten und mit einem Zitat aus Spiegelland (von vor fast dreißig Jahren) fortfolgend widerlegt hätte:
Die Geschichte des Körpers ist hinlänglich beschrieben, und man muss sie verlassen, man muss seine Herkunft verlassen und deren Bilder und alles, was an sie erinnert. Und man verlässt sie, indem man sie ausspricht, wir müssen alles erst einmal sprechen, um es dann zu verlassen, wir sagen unseren Namen, und wir haben unseren Namen verlassen, wir sagen unsere Liebe, und wir haben unsere Liebe verlassen, wir haben eine Sprache, um die Sprache zu verlassen, und so verlassen wir uns selbst, um uns selbst zu erreichen, ich kann eine Stadt und eine Landschaft und eine Herkunft, ob es dieser holsteinische Ort ist oder das Sachsen oder das Märkische meiner Kindheit, ohne Trauer verlassen, ich kann mich ins Auto setzen und losfahren und ohne Mühe alles und für immer verlassen, denn es gibt keine Heimat, wenn es sie in uns selbst nicht gibt.
Es war kein Zufall, dass ich gleich nach der Wende meinen Roman Spiegelland schrieb, schreiben musste, und ich musste ihn von »außen« schreiben, von einem fremden Ort her, der Abstand schaffte und mich radikal schreiben ließ, rücksichtslos auch mir selbst gegenüber. Auch das Weggehen von L. in Sachsen nach Niedersachsen war kein Zufall, sondern Bedingung dieses Schreibens, wie ich es zu dieser Zeit selbst nicht wissen und nicht sagen konnte. Und ebenso war es kein Zufall, dass ich in genau dem Moment über meinen Vater und Großvater schreiben musste, in dem die D.D.R. zusammenbrach, denn beides, Staat und Familie, waren so stark ineinander verwoben – der autoritäre, strenge Ton, die Gewalt in der Sprache, das Niederhalten des Anspruchs eines Einzelnen auf sich selbst –, dass das eine vom anderen, der Vater von der Macht und die Macht vom Vater, gar nicht zu trennen sein konnte, auch wenn mein Vater (als soziale Person) in Wahrheit völlig ohnmächtig war, er war der Ohnmächtigste überhaupt, wenn ich heute daran denke. Spiegelland war mein Vatermord, um es symbolisch zu sagen, und ich bin mir gar nicht sicher, ob ich meinen Vater überhaupt meinte, als ich ihn, Satz für Satz und Seite für Seite, zu töten begann, oder nicht doch nur ein System, in dem er eingesperrt war, ganz so, wie er andere einsperren ließ.
… aber wie mein Vater (oder mein Großvater, beispielsweise) wollte ich nicht sprechen. Es muss ein frühes und vielleicht gerade noch rechtzeitiges Gefühl von entliehener, wertloser Sprache gewesen sein, der ich mit geradezu körperlicher Abwehr begegnet bin, so dass ich sie, denn über den Wörtern lag der Schatten empfundener Ungültigkeit und der Herrschaftsanspruch des Vaters (oder des Großvaters, beispielsweise), und diese Sprache zu benutzen wäre zugleich eine Form der Unterwerfung gewesen, wieder verlernte. Ich verlernte das Sprechen und stürzte vor allen meinen Vater in Sorgen, in eine von mir bezweckte Kränkung: der Sohn, ein Ebenbild seiner selbst ohne Sprache, ein blinder Spiegel, eine Wasserfläche, die kein Bildnis zurückwirft ..., und es muss ein frühes und vielleicht gerade noch rechtzeitiges Gefühl dafür gewesen sein, dass das Sprechen ein von außen beobachtetes, beeinflusstes und beherrschtes Sprechen war.
Ich spürte, sobald Vater (oder Großvater, beispielsweise) sprach, dass nicht tatsächlich Vater (oder beispielsweise Großvater) sprach, sondern dass etwas Fernes, Fremdes, Äußeres gesprochen hatte, etwas, das sich lediglich seiner (oder ihrer) Stimme bediente. Ich hörte, vielleicht gerade noch rechtzeitig, einen jeweils anderen heraus, sobald (beispielsweise) Vater zu sprechen begann, und das Mitgeteilte, hörte ich heraus, ist etwas anderes als die Mitteilung, die mich (oder einen anderen) erreichen sollte, und gelegentlich war das Mitgeteilte der Mitteilung so eng verwandt, dass sie sich annähernd richtig erahnen ließ, dann aber war das Mitgeteilte der Mitteilung wieder vollkommen unähnlich, so dass ich (oder ein anderer) das Mitgeteilte falsch gedeutet hatte und falsch antwortete, wobei nicht selten das Falschgedeutete und Falschgeantwortete seinerseits noch einmal in die entschiedene Unähnlichkeit von Mitgeteiltem und Mitteilung stürzte, was zu einem vollkommenen Verständigungszusammenbruch führte und ganz und gar unerwartete Reaktionen bewirkte, eine plötzliche Ohrfeige vielleicht oder ein: Du gehst mir sofort und ohne Abendbrot ins Bett.
Die Sprache, denn niemals habe ich das Mitgeteilte und die Mitteilung als identisch erlebt ..., die Sprache ist doch nichts als eine üble Gemeinheit des Vaters (oder des Großvaters, beispielsweise), empfand ich. So konzentrierte ich mich bald schon nicht mehr auf das Mitgeteilte, sondern auf das, was das Mitgeteilte mitteilen wollte, das es zu erahnen und zu deuten und richtig herauszuhören galt und immer etwas anderes gewesen ist, etwas ein wenig anderes oder etwas sehr anderes oder etwas Gegenteiliges sogar. Ich hatte, empfand ich, immer dieses Andere zu verstehen, das sich auf eine mir unverständliche Weise den Wörtern entzog, und in dieser Situation eines beschädigten Sprechens, das ein unbenennbarer Krieg zwischen den Sätzen gewesen ist, konnte, wie aus einer Perspektive der Herrschaft beabsichtigt war, niemand jemanden erreichen und musste jeder allein sein und hatte nur Andeutungen zu geben und konnte nur Verwirrungen stiften und ungewollt Lügen verbreiten, um Lügen oder Verwirrungen oder bloße Andeutungen zu erhalten und sie als tatsächliche Mitteilungen zu benutzen und belogen und verwirrt zu werden und schließlich verzweifelt, einsam und enttäuscht zu verstummen ..., und dieses Verstummen ist die Leere gewesen, die das Sprechen angerichtet hatte, es ist die andere Seite des Sprechens gewesen, ohne dessen Gegenteil zu sein, und das Sprechen ist die lautgewordene Stummheit gewesen, es hat ringsum nur Stummheit gegeben und Leere, und die Wörter waren unübersetzbare Kombinationen von Lauten, sobald Vater (oder auch Großvater, beispielsweise) zu sprechen begann. Es war, als hätte mich jemand in fremder Sprache gestört, und ich hatte an Gestik und Tonfall den Sinn der Störung herauszufinden.
Das Sprechen wie auch das Hören wurde mir zum Erlebnis der Angst, denn hatte Vater gesprochen, so schien es zunächst ein vertrautes, verbindliches und bekanntes Sprechen gewesen zu sein, denn es war ein aus vertrauten, verbindlichen und bekannten Wörtern zusammengesetztes Sprechen, das vorgab, identische Inhalte zu vermitteln, um schließlich nichts als Täuschung und Leere zu hinterlassen und zu zeigen, dass das Sprechen keinen gesicherten Sinn gibt. So war es schlimmer und verunsichernder noch, wenn Vater (oder auch Großvater, beispielsweise) gesprochen hatte, als wenn jemand in fremder Sprache mit unvertrauten und unbekannten Wörtern, die nur durch Gestik und Tonfall ihren Sinn hinterlassen hätten, gesprochen haben würde. Eine von vornherein als fremde Sprache erkannte Sprache mit fremden, unvertrauten und unbekannten Wörtern hätte eine zu übersetzende Entsprechung gehabt in einer als bekannt erfahrenen Sprache mit vertrauten und bekannten Wörtern, so dass es nichts Verunsicherndes bedeutet hätte, ihr zu begegnen, und ihre Fremdheit wäre nicht zum Bestandteil einer Angst geworden, auch die durch sie abverlangte Arbeit des Erahnens der Mitteilung, die man leistet, wenn man interessiert ist, und die man nicht leistet, wenn man nicht interessiert ist, wäre nicht Bestandteil einer Angst gewesen …
Aber die fremde Sprache des Vaters (oder des Großvaters usw.), die sich als vertraute und bekannte Sprache mit vertrauten und bekannten Wörtern verstellte und für die es keine Übersetzungen, sondern nur Ahnungen gab, die keinen verbindlichen Sinn und keine identischen Inhalte aufnehmen konnte und nur Täuschung und Verwirrung und Leere hinterließ und das Sprechen beschädigte und das Mitgeteilte von der Mitteilung trennte und also ein unbenennbarer Krieg zwischen den Sätzen war, konnte nur Angst hervorbringen. Also blieb nur, zu sprechen und damit dem Missverständnis oder der Lüge zu verfallen und im Sprechen sich beobachtet, beeinflusst und beherrscht zu wissen von etwas Fernem, Fremden und Äußeren, dem die jeweilige Stimme ein ledigliches Instrument dafür gewesen ist, sich selbst auszusagen und den Sprechenden zu unterwerfen oder zu verstummen, und ich war das Kind, das plötzlich verstummte, das schon so gut sprechen konnte und das Sprechen wieder verlernte.
Das Kind sprach nicht. Das Kind sollte nachsprechen, ganz langsam, Silbe für Silbe, aber das Kind sprach nicht nach, auch nicht ganz langsam und Silbe für Silbe. Am Anfang der Krankheit, soll mein Vater seinem Vater erzählt haben, sprach es wenigstens noch vereinzelte Wörter nach, wenn man sie ihm ganz langsam und Silbe für Silbe vorgesprochen hatte. Es sprach keine Wortverbindungen nach und erst recht keine Sätze, aber es sprach vereinzelte Wörter nach, Baum, Wolke, Weg, Straße, auch Baumkrone, Wolkenspiel, Wegbiegung, Straßenkreuzung noch, dann nicht mehr, soll mein Vater seinem Vater erzählt haben, Dann keine Wortverbindungen mehr, soll er gesagt haben, Dann nur noch vereinzelte Wörter wie Baum, Wolke, Weg, Straße usw. Man sprach es ihm ganz langsam vor, aber es sprach nicht hinterher, es presste nur die Lippen fest aufeinander und schwieg, so mein Vater zu seinem Vater. Das ist ein Baum, nichts, Ein Baum, nichts, Früher, so mein Vater, Hätte es: ein Baum noch nachgesprochen gehabt, es hätte: Das ist ein Baum nicht mehr nachgesprochen gehabt, aber: ein Baum, das hätte es gesagt, aber dann sagte es nur noch lediglich Baum, wenn man: Das ist ein Baum, oder: ein Baum vorgesagt hatte. Bald schon sagte es gar nichts mehr, wenn man ihm einen vollständigen Satz, so kurz und einfach auch immer er war, vorsprach.
Mein Vater soll sich gefragt haben, erzählte meine Mutter, warum das Kind einen Halbsatz auf ein Wort reduziert nachsprach und warum das Kind einen vollständigen Satz nun gänzlich verweigerte und nicht, wie Vater es logisch gefunden hätte, aus dem vollständigen Satz einen Halbsatz werden ließ oder, meinetwegen, so Vater, auch nur ein Wort. Es ist die Beschaffenheit des vollständigen Satzes, soll Vater nachträglich herausgefunden haben, erzählte meine Mutter, Die das Kind verstummen lässt, aber, so soll mein Vater seinen Vater gefragt haben, Was hat das Kind, das doch ganz ordentlich geredet hatte, immer in vollständigen, richtigen Sätzen, plötzlich gegen vollständige, richtige Sätze? Am Anfang der Krankheit, soll mein Vater seinem Vater erzählt haben, Ganz am Anfang, ehe das Kind die vollständigen Sätze auf Halbsätze und die Halbsätze auf einzelne Wörter reduzierte, hatte das Kind die richtigen, vollständigen Sätze nur in Unordnung gebracht. Sagte man: Es weht ein kalter Wind, sagte es: Ein kalter Wind es weht, oder: Es ein kalter Wind weht, oder: Ein es weht kalter Wind. Später brachte es die Abfolge vollkommen durcheinander, soll mein Vater erzählt haben, Weht kalter Wind ein es, hieß es da, oder: Es Wind ein kalter weht usw., völliger Blödsinn, ich dachte, soll mein Vater seinem Vater erzählt haben, Das Kind ist vollkommen blödsinnig geworden. Erzähle diesen Blödsinn den Mäusen, hatte mein Vater zu dem Kind gesagt und es in die Dunkelheit des Kellers gesperrt, und es schien, so mein Vater zu seinem Vater, erzählte meine Mutter, etwas geholfen zu haben, zeitweilig jedenfalls. Das Kind ist aus der Dunkelheit wieder herausgeholt worden und hat, wenn man ihm: Es weht ein kalter Wind vorgesagt hatte, Es, weht, ein, kalter, Wind nachgesagt.
Wenn ich an meinen Vater denke, dann gibt es ihn zweimal; es gibt den Vorwende- und den Nachwendevater, den D.D.R.- und den Deutschland-einig-Vaterland-Vater; den autoritären und den dementen Vater, der so hilflos und weich war am Ende, dass ich fast glaubte, er wäre mein Sohn. Ich weiß nicht, welchen Kampf wir miteinander führten, aber es war kein nur privater, familiärer, ödipaler Konflikt – es war ein Zerwürfnis, das dem System innewohnte und unsere Körper zu Systemkörpern machte. Unsere ganze Familie war eine Systemfamilie, so habe ich es immer empfunden und empfinde es noch heute, und allein deshalb sehe ich einen Sinn, von ihr zu erzählen. Dieses Zerschneiden von Bindung und Zugehörigkeit in der Grammatik der Ideologie, seitens meines Vaters durch seinen Beruf, seitens meines Großvaters durch eine politische Unversöhnlichkeit, die fanatisch und andere ausgrenzend war.
Mein Großvater, der angebliche Antifaschist und Widerstandskämpfer – jedenfalls hatte es sich mir so dargestellt –, der ein gewöhnlicher Mitläufer gewesen ist, ein Soldat unter Soldaten im Zweiten Weltkrieg und in den Fünfzigerjahren aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurück nach Deutschland gekommen. Für Führer, Volk und Vaterland, so steht es auf der Rückseite einer Fotografie, die mir zufällig in die Hände fiel, als ich noch an Großvaters Heldenvita glaubte, und darunter: Weihnachten.
… aber ich sollte, bat Vater, nicht darüber reden oder gar schreiben, zumindest nicht, solange Großvater noch lebte, und ich schaute an die Decke, während er sprach, und zählte die Risse im Putz. Ich verstand die Geschichte nicht, die er erzählte, ihr Sinn war mir nur ein eingebildeter Sinn und keine Offenbarung, wie es Vater wohl glaubte und weswegen er ein Schweigen verabreden wollte, er, Vater, nahm doch tatsächlich an, ich würde noch immer Großvater für das halten, was dieser die Hälfte seines Lebens hindurch von sich behauptet hatte, wie lächerlich, dachte ich, wie ignorant. Allein diese Aufforderung, in gewisser Weise konspirativ, seine kalte, herzlich gemeinte Hand lag auf meiner von ihm abgewandten Schulter, im Hintergrund flimmerte das Bild des leise-, aber nicht ausgestellten Fernsehapparates, Mutter klapperte mit dem Geschirr, die Sonne schien matt durch das Fenster und kündigte die kältere Jahreszeit an, ein leichter Schatten zog sich von den Dingen ins Innere des Raumes, Vater, registrierte ich, war modisch gekleidet, ... allein diese Aufforderung zu schweigen, die ein Redebedürfnis erst richtig in Gang setzt und die, in diesem Fall, eine plötzlich erwartete Komplizenschaft voraussetzte, erschien mir wie eine Kränkung.
Aber nicht deshalb wollte ich seiner Bitte nicht entsprechen, schließlich würde ich nie, nicht einmal von mir an mich selbst gerichtet, einer solchen Bitte entsprechen und die Narben verschweigen, die ich erhielt und die ich zugefügt habe, dieses Geben und Nehmen von Liebe, Verletzung und Tod, wie es mich als Thema begleitet und zum Sprechen zwingt, jenes zwanghafte Aussprechenmüssen, irgendwie obsessiv, ich erwähnte es an anderer Stelle schon oder werde es noch tun, später, vielleicht am Ende meiner Überlegungen, vielleicht in einem anderen Buch.
Es war, dass die Episode, die Vater erzählte, durch die doppelte Natur ihres Sinns, denn es ging um die Auslöschung von Spuren einerseits und um das Sichtbarwerden gerade dadurch, dass man den Versuch der Auslöschung unternahm, gar nicht verschwiegen werden konnte, was meinem Vater nur wie eine kompliziert formulierte Ausrede klingen mag, denn er wird, wie gewöhnlich jeder, denken, dass man schließlich nur über das zu sprechen braucht, über das man sprechen möchte, und dass jene Realität, die nicht in die Rede gerät, quasi ungeschehen ist. Wie einfach, aber es zwingt sich eben gerade das zur Verlautbarung auf, was in die Welt des Schweigens herabsinken soll, und es sinkt in die Welt des Schweigens herab, was jeder mitteilen darf, weshalb es mit dem Schweigen in einer Zeit der nunmehr erlaubten Rede, wie die Journale und Vereine des Ostens siegreich vermelden (Zitat: »Nun, wo das Wort von der Diktatur befreit worden ist und es eine freie Literatur geben kann« [Hervorhebung von mir und Ende des Kommentars]), erst einmal beginnen wird, jenes lärmende Schweigen, wir kennen es, wir leiden darunter.
Und schließlich sprechen die Dinge sich selbst aus, ob sie nun unsere Sprache bekommen oder nicht, armer, hilfloser Vater, dachte ich und konnte ihn sehen, wie er, es soll ein heißer Sommertag nach Kriegsende gewesen sein, mit einer Zaunlatte im Wasser herumfuchtelt und die Bücher, Belege und Dokumente wieder an Land bringen möchte, die er, ein frühzeitig erwachsen gewordenes Kind, auf Anweisung der Mutter zu vernichten gehabt hat. Das alles muss weg, soll seine Mutter gesagt haben, schnellstens und auf beste Weise, und dann haben sie alles, was an die Vergangenheit vor allem meines Großvaters erinnerte, von dessen Verbleib man zu der Zeit noch nichts wusste, in eine Kiste gepackt, und mit dieser Kiste im Arm ist mein Vater an den Fluss hinuntergelaufen und hat alles, Buch für Buch und Stück für Stück und Seite für Seite, ins Wasser geworfen. Die Bücher, die Nazibücher waren, und die Dokumente, die Mitgliedschaften bezeugten, und all die Briefe, Karten und Fotografien, die davon erzählten, dass man dazugehört hat usw., all das sollte vernichtet und alle Spuren sollten ausgelöscht werden, und Vater war von seiner verzweifelten und ängstlichen Mutter beauftragt worden, das und in aller Gewissenhaftigkeit für sie zu tun, alles vernichten und alles auslöschen, jetzt, in diesem Augenblick und für alle Zeiten, und er nahm die bis zum Rand angefüllte Kiste unter den Arm, lief hinunter zum Fluss und dachte sich, am besten alles zu versenken.
Seine Bitte, nicht darüber zu reden oder gar zu schreiben, war sehr eindringlich, doch dann ist Folgendes geschehen: Vater warf zwar Buch für Buch und Dokument für Dokument und Beleg für Beleg usw. in den Fluss, doch das Papier versank nicht, es schwamm in die Mitte des Stromes, geriet in Wirbel und Schnellen, wurde wieder ans Ufer getrieben und vom Ufer in die Flussmitte zurückgezogen, wo es durch eine Wellenbewegung kurzzeitig verschwand, um an anderer, unvermuteter Stelle wieder aufzutauchen, Buch für Buch und Dokument für Dokument und Beleg für Beleg, und die Bücher waren aufgequollen vom Wasser und verloren ihren Einband und schlecht gebundene Seitenteile, und die Dokumente büßten ihre mit Tinte geschriebene Schrift ein, die teilweise oder ganz verwischte, die Belege waren beschädigt oder bis zur Unkenntlichkeit zerstört, aber nichts war verschwunden und ausgelöscht und für alle Zeit vergessen, und Vater lief dem auf der Oberfläche des Flusses dahintreibendem Papier, das lediglich in Unordnung und Auflösung geraten, aber nicht vernichtet war, weinend hinterher.
Er hatte einen Auftrag, und dieser Auftrag hieß, alles zu vernichten und die Spuren der Vergangenheit auszulöschen, und er hatte geglaubt, es richtig zu tun, wenn er an den Fluss hinunterginge und alles hineinwürfe, und nun hantierte er verzweifelt mit einer Zaunlatte vom Ufer aus und versuchte, die Schriftstücke zurückzuholen, ehe sie, was nicht mehr zu verhindern gewesen war, Spaziergängern, die nun auch alle von anderer Gesinnung waren, auf der anderen Uferseite in die Hände fielen oder von einer nahenden Brücke aus, auf der Passanten standen und aufs Wasser herabblickten, zu sehen sein würden, die Zeichen, die zu sehen sein würden und die einmal eine Zugehörigkeit bedeutet haben und die jetzt ausgelöscht werden mussten. Und Vater hatte diese Zeichen nicht nur nicht ausgelöscht, er hatte sie auf diese Art des Versuches, sich ihrer zu entledigen, fast könnte man sagen: veröffentlicht, er hat öffentlich und für jeden, der in der Nähe war, den Vorgang des Vernichtens und Spurenauslöschens gezeigt, ganz so, wie er mit mir ein Schweigen darüber verabreden wollte, solange Großvater noch lebte, und er konnte gar nicht verstehen, dass er gerade dadurch unablässig von der Vergangenheit sprach.
Jedenfalls sei seine Mutter, die von einem Nachbarn den vom Fahrrad heruntergerufenen Satz zu hören bekam: Was macht denn ihr Sohn dort unten am Fluss!, sofort zu meinem armen, hilflosen Vater gerannt und habe schon aus der Ferne voller ängstlicher Verzweiflung gerufen: Vernichten, habe ich dir gesagt, vernichten!, verbrennen oder vergraben!, aber doch nicht dies da ...!, und sie zeigte auf all diese über die Oberfläche des Flusses verteilten Bücher, Seiten und Dokumente, ohne daran gedacht zu haben, dass verbrennendes Papier ebenso sichtbar gewesen wäre und Asche hinterlassen hätte und dass vielleicht dieses, vielleicht jenes Teil unter der Asche hätte erhalten geblieben sein können oder dass die vergrabene Kiste zum Beispiel von Kindern beim Spiel zu finden gewesen wäre usw., man kann keine Zeichen, die in der Welt sind, vernichten, dachte ich und sah an die Decke und zählte die Risse im Putz.
In dem Jahr, als ich Spiegelland schrieb, vom Sommer in Schleswig-Holstein bis zum Herbst am Starnberger See, war ich krank, krank am Stoff, den ich mir aufgeladen hatte, ohne zu wissen, zu ahnen, wie sehr er mich, nein, nicht nur beschäftigen, sondern quälen würde. Die ersten Sätze waren mit leichter Hand geschrieben, ich saß an einem See hoch im Norden des Westens, in einem Café mit Blick über Schleswig, froh, weg aus Leipzig zu sein, weg aus dem Osten, in dem ich, so fühlte, dachte ich es, nur noch Zeit verlieren würde, Zeit, die mir für die Gegenwart, die über uns kam wie ein Gewitter ohne Ankündigung, nun fehlte, Zeit, die umso kostbarer wurde, desto schneller sie in ihren Abläufen war, in ihren täglichen Verrichtungen, die bei uns eine andere Geschwindigkeit hatten, eine andere Gangart, bis hin zum Stillstand. Ich wollte schon da sein, wohin alles gehen würde und alle gehen müssten, von nun an. Es war mir eine unerträgliche Vorstellung, festzusitzen wie eine Assel unter dem Stein und abzuwarten, worauf und auf wen?
Weg sein – um darüber schreiben zu können; doch desto tiefer ich der Stimme meines Zornes, meiner Verzweiflung und Enttäuschung folgte, die auch eine Enttäuschung darüber war, dass es keinen Weg gab, der am sich nun hemmungslos radikalisierenden Kapitalismus vorbeiführen würde, denn die Linke war grandios gescheitert, daran gescheitert, der Utopie eine Praxis zu geben, eine Form, ein Paradigma, desto größer wurde die Wut auf meinen Vater, die in Hass überging; ich sah auf alle Strafen und Disziplinierungen und Abrichtungen im Namen einer schäbigen Vorstellung vom sozialistischen Menschenbild und hasste meinen Vater stellvertretend für ein ganzes System.
Das System war der Krebs in unserer Familie, es zerschnitt und trennte die Brüder und die Eltern und die Kinder, und manchmal denke ich, dass es diesen Krebs nach wie vor gibt, und er zerschneidet und trennt weiterhin – nur sind die Objekte heute andere und heißen AfD und Pegida anstatt SED oder Stasi. Es sind Abweisungen, Ausgrenzungen und Diffamierungen mit denselben Affekten; denn dreißig Jahre sind wenig Zeit, in der Geschichte, auch wenn sie, für ein einzelnes Leben, viel Zeit sind. So habe ich mir Spiegelland auch nichts vorgenommen, es brach aus mir heraus, es schrieb sich, Satz für Satz und Kapitel für Kapitel, selbst.
… nun aber, es war purer Zufall, ich suchte im Geräteschuppen der Laube nach Werkzeug, um das Fahrrad meines Sohnes zu reparieren, nun entdeckte ich diese durch Nässe halb verschimmelte Pappschachtel, deren Deckel offen und etwas verrutscht war und den Inhalt zu erkennen gab, hob sie zwischen den Brettern hervor, und das erste, was mir entgegenfiel, war jene Fotografie: Großvater in der Mitte seiner jungen, blonden Familie unter dem Christbaum, stolze Geste, Modebart, in Uniform, herausgeputzte, zum siegreichen Vater emporschauende Söhne, und auf der Rückseite die Notiz: »Für Führer, Volk und Vaterland – Weihnachten 1941«. Alles, aber auch alles Lüge, dachte ich, nicht nur die zur Familienchronik gewordene Geschichte der Ehe war bloße Erfindung, sondern auch die gesamte Biografie war eine zur Wahrheit ernannte Wunschbiografie und bloße Erfindung, deren trauriger Schatten auf sieben mal zehn Zentimetern zu sehen war. Wie habe ich ihn mir, angespannt seinen Erzählungen lauschend, vorgestellt, als ich Kind war, welche Bilder von einem Widerstandskämpfer hatte ich, und warum er im Krieg war, nun, man musste, man hatte Familie und musste, um sie zu schützen, auch dies war verständlich, dann Desertion und frühzeitige Kriegsgefangenschaft als Form der Verweigerung, dann Heimkehr und Wiederaufbau, Parteiarbeit, ein ungebrochener Marxist.
Aber jetzt dieses Foto: da steht ein gesunder, junger Soldat in der Bewusstseinspose, zu den Siegern des Krieges und der Geschichte zu gehören. Alles auf diesem Bildnis deutet auf Anerkennung der Situation hin, nichts auf diesem Bildnis deutet auf aktive oder passive Verweigerung hin, alle Wahrheit gehört dem Führer, dem Volk und dem Vaterland, keine Wahrheit gehört dem Widerstand, alles Lüge, alles Erfindung, ich halte das Foto in der Hand und zweifle, dass mein Großvater überhaupt existiert, dass er leibhaftig unter Leibhaftigen ist. Er ist so sehr zu seiner Erfindung geworden, dass es ihn selbst nicht mehr gibt, dachte ich, nicht ohne Selbstgefälligkeit haben sie alle die kollektive Erfahrung des Siegens zu ihren persönlichen Siegen gemacht, sie haben ihre blinde Gefolgschaft mit dem tragischen Gesetz des Ausgeliefertseins erklärt und insgeheim oder gar nicht insgeheim davon profitiert, einer Gefolgschaft anzugehören, die Stärke, Erfolge und Siege feiert, um sich von dem Moment an, wo die Stärke eine gebrochene Stärke und die Erfolge und Siege Niederlagen wurden, von dieser Gefolgschaft zu lösen und die Zugehörigkeit zu unterbrechen und die Biografie zu erfinden, die die Spuren dieser Gefolgschaft und Zugehörigkeit auslöschen sollte.
Und vielleicht hat sich die ganze Generation meines Großvaters oder doch ein großer Teil dieser Generation dadurch, dass sie sich erfand, abwesend gemacht, vielleicht waren sie in Wahrheit alle Gefallene des Krieges, die gestorben weiterzuleben hatten bis zum Tod und unterwegs alle Ämter und alle Funktionen übernahmen, um sich selbst und ihre Abwesenheit zu vergessen. Aber nicht einmal diese innere Tragödie war es, die mir meinen Großvater endgültig nahm, es war der Umgang mit ihr, und zu diesem Umgang gehörte schließlich nicht nur das Vergessen und Verleugnen von Tatsachen und das Erfinden von anderen Tatsachen, sondern zu diesem Umgang gehörte vor allem die bedingungslose und entschiedene Zerstörung all dessen und all derer, die die erfundenen Tatsachen nicht übernahmen und das paranoische Bewusstsein aufzubrechen begannen.
So musste Großvaters Denken ein totalitäres Denken bleiben und ein Verhaftetsein an eine Autorität verkörpernde Ideologie, so dass ich mich hätte auslöschen müssen, wollte ich ihn weiterhin, in dessen Denken ich bereits ausgelöscht war, tolerieren, und ich hielt noch immer dieses Foto zwischen den Fingern, dieses kleine, zu zerfallen bereite und von der Zeit beschädigte Indiz, ein Stück belichtetes Papier, das auf unachtsame Weise verlegt oder willentlich versteckt und dann vergessen worden war.
Es war etwas in Bewegung geraten und zur Sprache gekommen, das ebenso unabweislich, unabänderlich, unhintergehbar war wie der Zusammenbruch des Landes und die Öffnung der Mauer mit ihren Folgen und gleichermaßen berauschenden wie verstörenden Undurchsichtigkeiten und Paradoxien. Glück im Dauerbetrieb ist etwas für Vollidioten, da war ich mir sicher, aber es ging (mir) nicht um Glück, sondern um eine Vorstellung von frei gewordenem Sinn, ohne dass ich jetzt und hier sagen könnte, was genau für einen Sinn ich gemeint haben kann, damals, vor dreißig Jahren. Es war auf jeden Fall das Gegenteil von hysterischem Konsum, von Bananen an jeder Ecke und flotten, tief gelegten Autos. Es war etwas, das vielleicht nur vor dem Hintergrund eines solchen Vaters, wie ich einen hatte, der ein Polizeivater war, ein Staatsvater und Geschöpf der wechselnden Verhältnisse, ein Produktvater, sich selbst gegenüber immer ein Fremder mit panischer Angst vor Gefühlen und Kontrollverlust, möglich war; das sich wie eine Figur aus formloser Masse nur auf diesem Grund bilden, sich heraus-/bilden konnte; das, kurz gesagt, eine Antwort war. Auf einen anderen Vater hätte ich vielleicht nicht antworten können, weil er mich nicht gezwungen hätte, das Gegenteil zu sein, denn ich wollte, nach einer kurzen kindlichen Phase der Identifikation – mein Vater ist Polizist: ich werde auch Polizist –, ein anderer werden, als der, den ich für meinen Vater hielt, meinen introspektiven Vater, nicht meinen biologischen, das war klar und stand außer Frage. Und dieses: Ich werde ein Anderer, hatte noch kein System, keine Form, keinen Begriff von sich selbst, sondern war nur leere Negativität, oder, mit Hegel, Negation der Negation, denn ich negierte, was mein Vater war.
Was aber war Vater anderes als eine Summe von Bedingungen, Befehlen, Gesetz und Gehorsam, einer Sprache ohne Sprache und einem Körper ohne Körper; mein Vater, bis er, irgendwann im mittleren Alter, einen Herzinfarkt bekam, war, soweit ich denken kann, nie krank geworden, das heißt, er verleugnete es, wenn er es war, und das meine ich mit ein Körper ohne Körper sein; was mein Vater war, möchte ich heute gern wissen, damals war er eine Leerstelle in meinem Leben, die ich selbst zu füllen begann mit etwas, das es wohl gab, in mir, in meiner inneren Welt, aber wohlweislich noch immer verborgen, als eine Chiffre, ein Satz, der noch ungeschrieben war. Vater und Vaterland waren für mich keine Metapher, sondern ein Fakt. Es gab einen Schatten vom Vater weg auf das Vaterland hin, wie es einen Schatten vom Vaterland weg auf den Vater hin gab, der auch noch ein Schatten des Vaters des Vaters war und des Vaters des Vaters auf das Vaterland hin und wieder zurück, und in diesem Schattenreich stand ich – »ich« immer klein geschrieben.
Nein, ich hätte, seit ich zu denken begann, die D.D.R. nicht gewollt haben können, dazu war sie mir zu abweisend geworden, zu feindlich, zu kalt, andererseits waren diese Feindlichkeit, diese Abweisung und Kälte auch Figuren in einem Spiegel, denn ich hatte ja jede Option, wie mein Vater zu werden, um in derselben Stummheit denselben stummen Dienst im Namen des Staates und seiner Macht zu verrichten. Aber diese Option stieß ich weg, und damit stieß ich gleich alles von mir weg, meine Zukunft eingeschlossen. Das werde ich später noch weiter erzählen, wenn die Zeit in der Erzählung heran ist. Hier möchte ich die Gründe finden, warum es diesen Hass gegeben hat und diesen Ekel vor einem Land, das sich am Ende selbst nicht mehr kannte, denn nicht der Hass, den ich fühlte, der Ekel, der Schmerz, ist von irgendeinem Interesse (und am wenigsten für mich selbst); allein der Grund für den Hass, den Ekel, den Schmerz, der tiefe und verzweigte Zusammenhang, der in die Strukturen der Gesellschaft vordringt und sich letztendlich als Dublette erweist, als Kopie der Ordnungsprinzipien, nur in umgekehrter Form, als privater oder pseudo-/privater Abdruck, als Familiendrama und subjektive Einschreibung, allein dieser Grund ist zugleich auch die Begründung, darüber zu sprechen, auf der Suche nach einer Wahrheit (hinter der Wahrheit). Denn es gibt eine Wahrheit, auch wenn ich es sehr schwierig finde, sie für etwas Festes zu halten, für etwas, das man besitzen und in einen Safe legen und sicher dort aufbewahren kann; und wo es um Subjektwahrheit geht, um Gefühls-, Erinnerungs- und Glaubenswahrheit, ist sie ein Effekt in der Sprache und abgegrenzt zur Wahrheit eines anderen Subjekts; sie ist fluide und konstitutiv und damit auch legitim; aber sie ist nicht legitimiert, außerhalb ihrer selbst einen Anspruch auf Geltung zu erheben, und innerhalb ihrer selbst nur in Korrespondenz mit der Person des Subjekts; sie ist reine autopoiesis. Das auch macht Subjektwahrheiten so anfällig für soziale Konflikte, weil sie sich selbst nicht von außen zu sehen bekommen und die Differenz nicht erfassen, die sie ganz natürlich von einem anderen trennt.
Ich würde heute meinem Vater anders begegnen, ich würde keinen Wert darauf legen, dass er mich versteht, ich würde nur Wert darauf legen, dass er sich bemüht, mich zu verstehen, um in diesem Bemühen auch die Erfahrung zu machen, dass es ein Verstehen nur auf der Oberfläche der Ereignisse gibt, dort, wo das Begehren von sich selbst sprechen kann. Je differenzierter wir aber werden, desto weniger können wir uns verständlich sein, und das sage ich ohne jede Dramatik. Aber alles das ist von der Bildungsrealität meines Polizistenvaters in einem Polizistenstaat so weit entfernt, dass es lächerlich wird, es überhaupt auszusprechen; und dabei war mein Vater intelligent und begabt, wenn er zeichnete oder Klavier spielte.
Aber seine Intelligenz war eine rein technische, devot und angepasst zu reagieren, und seine Begabung verlor sich im Kitsch. Es waren Gesten durch ein Gitter hindurch, Versuche der Freiheit ohne Freiheit, ein Gehen mit Ketten am Bein. Und ich sollte diese Ketten von ihm erben, ich sollte mich selber in Handschellen legen und dabei sagen, wie gut es mir geht. Da war ich dreizehn und fing an, mich abzuwenden ... von seiner Polizistenwelt. Ein Buch, das einen nicht in Gefahr gebracht hat, ist unnütz und braucht nicht geschrieben zu werden. Ich las das irgendwo und zitiere es blind. Aber Spiegelland war so ein Buch, in das ich nun eingedrungen war wie der Bergmann in seinen Berg und nur noch vorwärts konnte, weiter und tiefer hinein. Die Schwermut wurde so heftig in diesem Jahr des Schreibens an diesem Buch, dass ich einen Therapeuten aufsuchte und zu analysieren begann, was ich gerade im Text vor mir hatte und analysierte.
Es war, wenn man so will, eine doppelte Reflexion, eine Reflexion der Reflexion, und das ist eine Methode, die mir bis heute wichtig geblieben ist – nämlich zu sehen, von wo aus man sieht. Mag sein, dass sie mein Werk beschädigt, dass sie dem kohärenten Fluss des Erzählens entgegenläuft und damit unvertraut bleibt, zerrissen, wie das (wirkliche) Leben. Andererseits ist es mir immer um Erkenntnis gegangen, wenn ich irgendetwas schrieb, und letztendlich um poetische Erkenntnis, die auch das zur Sprache bringt, was im Dunkeln aller Wörter bleibt. So ist Spiegelland natürlich auch Essay geworden, Bild und Deutung zugleich, aber man hat auch da, wo die Form ihren Stoff und der Stoff seine Form sucht, im Grunde gar keine Wahl; es ist Einbildung, sich den Schriftsteller vorzustellen als einen, der eine Wahl hat. Vielleicht hat er noch die Wahl, etwas anzufangen oder nicht anzufangen (wenngleich ich auch das schon bezweifeln möchte), aber dann, wenn er im Bergwerk ist, herrscht der Berg mit allen Gesetzen seiner Natur. Alles andere wird Kunstgewerbe, ein falsches Produkt.
Ich weiß heute nicht, wer ich war, als ich Spiegelland schrieb. Ich weiß, wenn ich es genau bedenke, nie, wer es war, der etwas geschrieben hat, das natürlich und zweifellos ich geschrieben habe. Immer wieder bin ich erstaunt, wenn plötzlich ein Buch entstanden ist, wo vorher nichts gewesen war, nur weißes, leeres Papier. Ich schaue es an wie ein Wunder, wie eine Geburt, von deren Zeugungsakt ich nichts weiß, von deren Grund und Begründung ich keine Kenntnis mehr habe, und schon, während dieses Wunder allmählich zu einem mir fremden Ding wird, zu einem Buch unter Büchern, kalt und leblos und mir selbst furchtbar fern, verwischt sich die eigene Schrift im Blick auf die Seiten. Ich habe etwas geschrieben, aber es ist, als könnte ich es selbst nicht mehr lesen; allenfalls noch nachbuchstabieren und wortwörtlich zu einem Laut werden lassen; allenfalls noch mit einer dumpfen Ahnung belegen, dass da etwas Tiefes in der Textur liegt, allein – es ist mir entschwunden.
Von diesem Augenblick einer inneren Ablösung, eines Selbstständigwerdens des Textes vor dem eigenen Verständnis und Verstand, das ein Produkt der zeitlichen Verschiebung – auch der Ichteile – ist, werde ich zum Leser meiner selbst. Stück für Stück und Satz für Satz und Szene für Szene komme ich mir nah oder bleibe auf Abstand, interpretiere, unterstelle, vermute, und nur das plötzliche Auftauchen eines Gefühls, einer Erregung oder Liebe oder Enttäuschung, eines Hasses, eines Ekels, einer Sekunde des Glücks, gibt mir ein Zeichen, auf dem Weg eines Verstehens zu sein, einer inneren Annäherung, einer Wiederholung von Sachen, die sich so und nicht anders zugetragen haben. Die Zeit bleibt stehen und dehnt sich, im Stillstand, unendlich aus, Erinnerung und Gegenwart fallen ineinander wie stürzende Bäche, wenn sie in einen Wasserfall münden, und dieser Punkt einer tiefsten Berührung von Wort und Gefühl ist gleichsam ein Anruf, eine Bewegung, durch die ich versetzt bin in einen anderen, vergangenen Zustand, und es kann auch nur ein einziges Wort sein, das mich dermaßen mitreißt, Vater zum Beispiel oder Mutter, und schon verschließt es sich wieder in seiner lebendigen Natur und wird wie ein Grab, in dem die Toten liegen, dann ist es wieder nichts als die kalte Haut einer Sprache, die immer, was sie sagen will, verfehlt, und diese notorische und durch nichts zu verhindernde Verfehlung ist der treibende Stoff in der Sprache, ihr fortgesetztes Gleiten der Sätze, immer auf den einen, seltenen Punkt zu, dem einen, einzigen Wort.
Deshalb fallen mir Lesungen schwer, Vor-/lesungen, die etwas Reproduzierendes haben, etwas Ab-/lesendes, das sich selbst für etwas Geschlossenes, Unverrückbares, Fertiges hält, weil der Ort, von dem aus ich lese, ab-/lese, reproduziere, ein völlig anderer ist als jener des Ursprungs der Schrift; diese Orte haben genau genommen nichts miteinander zu tun; sie simulieren eine Verbindung und Verbindlichkeit, für die auch noch die Stimme, wo sie selbst zum Objekt wird, herhalten und Identität bezeugen soll; die feste, klare, prosodisch schwingende Stimme, die mir, in ebendiesen Momenten, nicht mehr zur Verfügung steht. Wie ein Sehender einem Blinden erklärt, was er gesehen hat, so erklärt mir mein Buch, was ich gewusst habe. Und so streife ich mit dem Blick über die eigenen Seiten, blättere weiter oder lese mich fest, in dieser kleinen blauen Edition-Suhrkamp-Ausgabe, die für so viel Aufregung, Zorn und Zerwürfnis gesorgt hat und zugleich selbst ein Gefäß für Verletzungen ist, für Trauer und Schmerz.
… und was, dachte ich, ist der Erhalt der Gesellschaft anderes als eine eingehaltene Schweigensverabredung, es ist, dachte ich, eine Schutzlosigkeit über die Menschen gekommen und sie werden eine Verbundenheit suchen und schweigen, das Land wird in ein tiefes, endloses Schweigen versinken und schön sein …, und meine Beschreibung einer Fotografie wäre ebenso vorzeitig vergessen gewesen wie die Existenz der Fotografie, und ich wäre selbstvergessen und abwesend gewesen, hätte ich tatsächlich diese Briefe noch einmal in die Hand genommen und gelesen und mich in deren Realität hineinbegeben, die durch meine bloße Auseinandersetzung noch einmal Realität geworden wäre … Ich aber wollte diese Realität als beendet wissen, sie hatte sich zu lange behauptet und sie hatte zu viel zerstört, und ich wäre abgebracht worden von meinem Weg in die andere Richtung, den ich lange schon gegangen war und auf dem ich lange schon fortgegangen war, nie hat aber auch nur einer meiner Familie eine Ahnung davon gehabt, in welchen Einsamkeiten und in welchem Alleinsein ich war, wenn ich an der rotbeleuchteten Aufschrift »Der Sozialismus siegt« vorbei in die Lehranstalt lief …
Wie offene Wunden stehen diese Sätze im Text, und nichts, kein Wort hätte ich anders setzen, abschwächen oder gar zurückhalten können, und das nicht, weil ich von deren Richtigkeit im Sinne eines von Tatsachen belegten Geschehens überzeugt bin, das außerhalb meiner Empfindungen so und nicht anders stattgefunden hat, sondern von deren Richtigkeit in einer Spur des Erinnerns. Je wahrscheinlicher das Mögliche wird, desto näher trägt sich die Wahrheit an uns heran; und so lese ich mich erneut durch das Gelände und das Gestrüpp, durch Licht und Schatten, durch Rhetorik und Metaphorik von Spiegelland hindurch, bleibe stehen, finde mich selbst unerträglich, finde mich in meinen Ansprüchen maßlos und verletzend und mich selber verletzend und dann doch wieder auf der einzigen Suche nach Wahrheit unabänderlich in einen Widerspruch verstrickt: dieselbe Zerstörung nicht weiterzureichen, die in mir stattgefunden hat, aber es vielleicht, unwillkürlich, dennoch zu tun. Wo war der Schnitt zwischen Körper, Gesellschaft und Sprache gesetzt? Wer war, woran, schuld, und warum?
Ich ziehe mich zurück und lese Vaters Niederschriften, die er zu schreiben begann, nachdem ich Spiegelland herausgebracht hatte, es war – oder sollte es werden – seine Antwort auf mich. Er kam mit Mutter nach Worpswede, wo ich ein Stipendium hatte, um Urlaub zu machen, während ich mit Mona nach Israel flog. Als ich zurückkam, lag Post vom Verlag auf dem Tisch – das erste Belegexemplar meines Romans. Ich zuckte zusammen und öffnete nicht, obwohl ich natürlich gespannt war, wie es aussehen würde, das neue Buch, das so viel anrichten, verletzen, zerstören, aber auch klären und er-/klären sollte, wovon ich natürlich noch keine Vorstellung hatte. Ich rechnete mir kaum Erfolg damit aus – viel zu schwierig zu lesen, viel zu unpopulär. Dazu nicht einmal Hardcover. Nein, das würde keiner in der Familie im Osten mitbekommen, was ich hier, im Westen, so schreibe und publiziere. Nur wenige Wochen später, nach der ersten großen Besprechung in der FAZ, lasen es alle. Wie ein Lauffeuer hatte es sich herumgesprochen, in Dresden, in der Familie, unter den Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen, Eltern, Großeltern, Brüdern, alle lasen es und stritten darüber.
Die einen verteidigten meinen Vater und meinen Großvater, die anderen mich, die einen die D.D.R., wie sie war, die anderen meine Ansicht darüber, dass sie abgeschafft gehörte, ausgelöscht, es war wie ein Schnitt mit der Rasierklinge durch das familiäre Gewebe, links die einen, rechts die anderen, und dazwischen ein Abgrund, der nicht zu überwinden war. Nie hätte ich mir eine solche Wirkung vorstellen können, wäre ich darauf eingerichtet gewesen, sie mit diesem kleinen Bändchen zu provozieren. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass Sätze wie meine etwas ausrichten könnten, es lag eine so merkwürdige Ambivalenz in meinem Selbstbild, das zwischen Verkleinerung und Vergrößerung der inneren Person hin- und hergerissen war, dass ich von einer stabilen Beziehung zu mir selbst überhaupt nicht reden kann. Vielmehr gab es mich zweimal – einmal klein und verlegen, verletzt und verletzbar, und dann, sobald ich allein war und zu schreiben begann, groß und selbstbewusst, klar in den gedanklichen Linien und kompromisslos auf dem politischen Feld, ich hörte mich geradezu selbst, wenn ich schrieb, diese innere, kräftige Stimme, wie sie nach außen auf das Papier drang, Sätze bildete, Texte.
Diesem Strom des Schreibens konnte ich selbst nichts mehr hinzufügen oder ihn abschwächen oder verändern, er war wie ein inneres Gesetz, dem auch ich mich zu unterwerfen hatte und vor dem es kein Entkommen, fast wollte ich sagen, keine Gnade gab. – »Denn schreiben«, sagte ich Mutter, »literarisch schreiben, heißt immer auch, die Grenzen des Wissens zu verschieben und sich den Dunkelheiten zuzuwenden, die das Leben umgibt.« – »Du weißt ja gar nicht, wie es Vater gekränkt hat, wie du ihn bloßgestellt hast.« Onkel Hannes lästerte und machte Witze, wenn wir ihn trafen: »Ist das die Lampe, an der unser kleines Karlchen vorbei vom hellen in den dunklen Teil des Raumes gehen musste, um seinem Vater die Gutenachthand zu geben?«
… aber prachtvoll blühte der Garten, in den ich hinaussah, als ich in der Tür zu meines Vaters Arbeitszimmer stand, um ihm die Gutenachthand zu geben, und wie immer saß er an seinem Schreibtisch mit einer Lupe in der Hand, mit der er auch seine Briefmarken betrachtete, und las, studierte, verglich, schrieb ab, unterstrich, kreuzte an, und es herrschte ein Licht in diesem Raum, das ich als ein zweigeteiltes Licht empfand und durch das der Mann, der mein Vater gewesen ist, erst recht, wenn er, mit beginnender Dunkelheit, die Schreibtischlampe anschalten würde, einen Schatten warf auf die überall herum ausgebreiteten und aufgeschlagenen Bücher, die Bücher des Todes gewesen sind, und der Mann, der mein Vater gewesen ist, würde, dachte ich, sobald er die Schreibtischlampe angeschaltet hätte, weshalb die Winter, in denen ich diesen Mann, der mein Vater gewesen ist, immer im Licht der Schreibtischlampe sehen musste, schlimmer als die Sommer für mich waren, eine blasse, ins Grau gehende Hautfarbe bekommen, und das Haar würde mir weiß vorkommen wie Schnee, dachte ich, als ich, immer geradeaus auf den Sommerabend schauend hinter dem Fenster, hinter dem der Garten begann und die Weite der Heidelandschaft hinter dem Garten und der Kiefernwald am Horizont, auf ihn zuging, die Gutenachthand schon von mir gestreckt und die Hand, die zum Herzen führte, vor die Augen gehalten, aber auch nicht richtig vor die Augen gehalten, nur so, dass ich noch sehen konnte, wo ich hintrat, wobei ich, wollte ich sehen, wo ich hintrat, immer auch die Bilder und Erklärungen des Todes sehen musste, sodass ich gelegentlich blind lief oder den Blick fest auf einen Punkt hinter dem Fenster gerichtet hielt, was ein sehendes Blindlaufen war und mich ab und an stolpern ließ, umso erschrockener noch mich auf den Raum und auf den Weg durch den Raum konzentrieren zu müssen, und es war immer ein Gehen von der dunklen in die helle Hälfte des Zimmers wie von der zweiten, zweifelhaften und gefährdeten Seite der Existenz in die geordnete, vernünftige und überschaubare Seite der Existenz, ich hatte immer vom Dunklen ins Helle zu gehen, wenn ich hereintrat, um beim Herausgehen ins Dunkle des Zimmers zurückzukehren wie in einen Abgrund, der mich hinabzog, ich ging immer ganz langsam herein und ganz schnell wieder heraus, das Hereintreten war immer das Schlimmere und das Herausgehen immer das Bessere der Situation, aber das Allerschlimmste der Situation und schlimmer als das Hereintreten und erst recht als das Heraustreten war, wenn ich spürte, sobald ich nah genug an den Mann, der mein Vater gewesen ist, herangetreten bin, wie meine Hand von der Hand des Mannes, der mein Vater gewesen ist, umschlossen war wie von einer Realität, vor der die Realität außerhalb dieser Situation und außerhalb dieses Zimmers nur noch eine Illusionsrealität sein konnte, und ich bekam, sobald meine Hand in des Mannes Hand lag, die ganze Hilflosigkeit zu spüren, mit der wir dieser Realität ausgeliefert sind, ich spürte die Verfügung über mich in der Art des Festgehaltenwerdens und die Macht, die diese Hand über meine Hand besaß, denn erst wenn diese Hand sich von meiner Hand gelöst hatte, konnte ich wieder hinausgehen, ich konnte erst gehen, wenn diese Hand wollte, dass ich gehe, und die Zeit, die verging, während ich dem Mann, der mein Vater gewesen ist, die Hand zum Gutenachtgruß gab und umschlossen spürte und wieder freigelassen an mich heranziehen konnte, war immer eine Ewigkeit für mich, so als wäre es die Erfahrung des Todes selbst gewesen, die ich machte, ehe ich mich abwenden konnte, ehe ich abgewandt das Licht verlassen konnte, um in ein anderes Licht zu gehen, durch die Endlosigkeit dieses Raumes, denn ich habe diesen Raum als endlos empfunden, und seine Begrenzung ist mir unverständlich geblieben, hindurch.
Diese Stimme, dieser innere Ort, er geht mir verloren. Ich suche ihn in mir auf, spüre ihm nach, warte auf Resonanz – nichts. Nur Leere, Ödnis, schwarzes Licht. Nichts fügt sich aneinander, jeder Zusammenhang bricht, an sich selber, entzwei. Es ist diese Gewissheit vom Ungewissen, von den Möglichkeiten der Täuschung, vom Selbst- und Fremdbetrug. Man muss es nicht Lüge nennen, sondern nur einen Blick in den falschen Spiegel, der, ein wenig zur Seite gedreht, etwas anderes zeigt als das eigene Gesicht. Wie geradlinig, kompromisslos und sich seiner Sache bewusst habe ich Spiegelland verfasst, gelitten, geheult, aber immer auf der Suche nach Sprache und Wissen, nach Erkenntnis und Einsicht in die dunklen Rätsel des Lebens. Nichts davon ist geblieben. Ich misstraue jedem Satz, der einen Punkt hat (wie dieser). Ich glaube den Zeichen ihre Bedeutungen nicht und gehe davon aus, dass, was ich sage, nichts hinterlässt, keine Spuren. In Spiegelland hatte ich noch die Verhältnisse der D.D.R. im Gefühl; die Strahlkraft der Worte; die Subversion des anderen Blicks und der negativen Texte. Ich war mir so sicher.
Ich empfand nichts, ich empfand lediglich, wie die Scham darüber, nichts zu empfinden, von mir gegangen ist, um schließlich nur noch zu empfinden, nichts zu empfinden, ich war leer, ich hatte nicht ein einziges Wort für ihn übrig. Es gab keine Worte für diese Situation, es hat nie und für keine Situation Worte zwischen uns gegeben, es hat immer nur Aussprachen zwischen uns gegeben, und so haben wir auch nicht gesprochen, wir haben eine lautlose Aussprache geführt, nur dass diesmal, wie vordem immer er auf mich, ich auf ihn herabsehen konnte, eine andere Perspektive der Kälte und der Beziehungslosigkeit, die mir ein Triumph war, eine Entschädigung.
Es ist schwierig, darüber zu sprechen, und ich erinnere mich schlecht, nur an das Licht erinnere ich mich, wie es vom Gang in das Zimmer schien, einen Lichtkegel bildete, der von der Glastür ausgegangen war und den kleinen, mit medizinischen Geräten vollgestellten Raum in einen helleren und einen dunkleren Teil trennte, und es ist das Licht meiner Kindheit gewesen, erinnerte ich mich, aber heute konnte ich von der helleren Hälfte des Raumes in die dunklere Hälfte des Raumes gehen, früher, erinnerte ich mich, musste ich immer vom Dunklen ins Helle gehen, Vater saß am Ende des Raumes an seinem Schreibtisch in der Helligkeit des Tageslichtes, das durch die Fenstertür fiel, oder im Schein der Schreibtischlampe, durch den er einen Schatten auf die hinter ihm ausgebreiteten Bücher warf, und ich stand in der Tür und ging vom Dunklen ins Helle auf ihn zu und vom Hellen ins Dunkle von ihm weg, heute aber ging ich vom Hellen ins Dunkle auf ihn zu und würde vom Dunklen ins Helle von ihm weggehen, und dieses Gefühl, erinnere ich mich, vom Dunklen ins Helle von ihm weggehen zu können, war mir von einer Wichtigkeit, wie es sie in diesem Zusammenhang nie wieder für mich gab, schon dass ich vor ihm stand und dass er vor mir lag, war mir wichtig, erinnere ich mich, noch wichtiger aber war, erinnere ich mich, vom Hellen ins Dunkle auf ihn zuzugehen und vom Dunklen ins Helle ihn zu verlassen.
Jetzt liegt ein Nebel über meinen Versuchen zu schreiben, ein bleiernes Tuch, das die Sätze verhindert, ihnen Leichtigkeit nimmt und Transzendenz. Ich sehe mir beim Schreiben zu, ich höre mich sprechen, ich bin Zeuge meiner eigenen Anwesenheit, die einer Abwesenheit gleichkommt. – »Ich warte auf mich selbst.« – »Das klingt nicht uninteressant. Vielleicht kannst du dich ja einmal selbst überraschen?« Über das Warten schreibt Blanchot: »Warten schenkt Zeit und nimmt Zeit, doch die es schenkt und die es nimmt, ist nicht dieselbe. Als fehlte ihm, wenn er wartet, gerade die Zeit zum Warten. Dieser Überfluss an fehlender Zeit, dieser Zeitmangel im Überfluss.«
Ich bekomme, wenn ich nicht schreibe, Schmerzen. Jetzt habe ich Schmerzen, wenn ich schreibe, weil ich schreibe. – »Es ist die Schuld, es zu sagen. Oder es nicht zu sagen.«
Wie konnte Vater, wenn er nun schon gelesen hat, was ich ihm selber niemals zu lesen gegeben hätte und von dem ich annahm, dass er es auch niemals zu lesen bekäme, den Schrei des Kindes nicht hören, die Verzweiflung des jungen Mannes nicht spüren, die jedem Satz unterlegt war und der Empörung ihren Grund gab? Was ich nicht sah, nicht sehen konnte, war, dass ich selbst Kind bleiben wollte, als verletztes Kind schrieb ich das Buch, und als verletztes Kind wollte ich, dass Vater die Wunden, die er mir zugefügt hatte, ohne es selber zu wissen (oder auch nur zu erahnen), wieder verschloss, heilte, wo nun schon geschehen war, was nicht geschehen sollte: dass er Spiegelland kannte. Den Ruf des Kindes nach seinem Vater wollte ich ihm vorenthalten, ich wollte ihn zur Schrift bringen und damit erledigt wissen, ja, aber ich wollte es ohne ihn tun. Und dass ich es überhaupt nötig hatte, dass es aus mir herausbrach, wie auch ein Wasserlauf aus einem Felsspalt springt, war gebunden an den Untergang des Landes, des Systems, in das alle Konflikte und Verdrängungen und Verwerfungen eingeschweißt waren wie in Folie verpackt, die nun gerissen war und eben auch das familiäre Beziehungsgewebe, das bis dahin noch hatte Halt geben können – gehalten von der Lüge der Gesellschaft –, zerstörte. Der Ruf des Kindes nach seinem Vater war fest verbunden mit der Lüge der Gesellschaft, die Vater von Amts wegen vertrat, die er war und die er, in einem eingeschlossenen, abgespaltenen Teil seiner selbst, nicht war. So war mein Entsetzen über seinen Brief, der eine einzige Suada der Verwünschung gewesen ist, die Wiederholung einer Abweisung von Anbeginn und das Entsetzen des Kindes über den Vater – und damit hielt es am Vater noch fest und absurderweise auch an der überlebten D.D.R. (nicht als Gebilde und Form, sondern als ein Ort der inneren Zerstörung). Was aber wird mit der Klage, wenn der Ort, an dem sie ihren Platz hat, nicht mehr existiert? Und was, wenn der Adressat dieser Klage verschwunden ist? Wenn keine Sendung mehr ihren Empfänger erreicht und ohne Antwort zurückkommt? Ich habe nichts darüber je gelesen oder gehört, es ist durch die Maschen der Diskurse gefallen – dass die Diskurse einfach stehengeblieben sind, weil der Vater nicht mehr geantwortet hat.
… es sind wohl, ich weiß nicht, mehrere Wochen vergangen, ohne dass auch nur ein Satz niedergeschrieben steht, aber es muss, dachte ich in dieser Zeit einer tiefen, unsichtbaren Krankheit, die das Zentrum der Gedanken befiel, auch kein Satz niedergeschrieben werden. Man glaubt, man müsse, um den Tag als eine sinnvolle Situation zu erhalten, jeden Abend auf wenigstens einen gültigen, brauchbaren Satz verweisen können, aber das ist falsch und nur der selbsttäuschende Versuch einer Rettung, denn man muss auf überhaupt nichts am Abend verweisen, man muss auf keinen Satz und auf keine Empfindung und nicht einmal auf die eigene Anwesenheit am Abend verweisen.
Wir bilden es uns ein und stehen zeitig auf und versuchen, den Tag als eine sinnvolle Situation zu erhalten und etwas zu tun, was ihn am Abend als diese erscheinen lässt, aber das ist ganz entschieden falsch und nur der Versuch einer Rettung und vollkommen unnötig, und am allerunnötigsten ist es, dachte ich in dieser Zeit einer tiefen, unsichtbaren Krankheit, am Abend auf einen gültigen, brauchbaren Satz verweisen zu wollen, der nichts, gar nichts änderte und vielleicht nicht einmal gedruckt, und wenn gedruckt, wahrscheinlich nicht einmal gelesen, und wenn gelesen, höchstwahrscheinlich nicht oder falsch verstanden würde, und selbst wenn er geschrieben und gedruckt und gelesen und auch nur annähernd verstanden würde, würde er nichts, aber auch gar nichts verändern, so dass in ihm, so gültig und brauchbar er immer auch sei, keine sinnvolle Situation erhalten geblieben sein kann, denn es gibt so viele gültige, brauchbare Sätze auf der Welt, die alle gedruckt und gelesen und vielleicht sogar annähernd verstanden worden waren und annähernd nichts und weniger noch bewirkten, dass es doch restlos überflüssig und unsinnig und vielleicht schon im klinischen Sinne verrückt sei, ihnen noch weitere und wenn es gelänge, gültige und brauchbare Sätze hinzufügen zu wollen.
Eine Weile redet man es sich ein, man erfindet einen Sinn und redet es sich ein und schreibt, und dann scheitert man und hört auf. Entweder scheitert man daran, keinen gültigen, brauchbaren Satz hervorbringen zu können oder daran, einen gültigen Satz noch einmal hervorgebracht zu haben und auf erniedrigende Weise zu spät zu kommen und nur noch belächelt zu werden oder daran, nicht gedruckt, und wenn gedruckt, nicht gelesen zu werden, und wenn gelesen, nicht oder falsch oder nur annäherungsweise verstanden worden zu sein. Auf jeden Fall aber scheitert man daran, etwas zu bewirken, so dass das Scheitern so allgemein ist wie das Schreiben, aber auch wie das Lesen und wie das Sprechen und Hören, denn der Weg zwischen Sprechen und Hören ist zu lang und zu kompliziert und ebenso beschädigt wie der zwischen Schreiben und Lesen, dieser Weg ist so sehr beschädigt, dass der Gedanke in einen Abgrund gerät und unwiederbringlich zerbricht. Und ich konnte nicht nur nicht schreiben in dieser Zeit, ich konnte auch nicht lesen, nicht sprechen und nicht hören. Genau genommen blieb ich tage- und wochenlang im Bett.
… es sind wohl, ich weiß nicht, mehrere Wochen vergangen, ohne dass auch nur ein Satz niedergeschrieben steht, aber es muss, dachte ich in dieser Zeit einer tiefen, unsichtbaren Krankheit, die das Zentrum der Gedanken befiel, auch kein Satz niedergeschrieben werden. Man glaubt, man müsse, um den Tag als eine sinnvolle Situation zu erhalten, jeden Abend auf wenigstens einen gültigen, brauchbaren Satz verweisen können, aber das ist falsch und nur der selbsttäuschende Versuch einer Rettung, denn man muss auf überhaupt nichts am Abend verweisen, man muss auf keinen Satz und auf keine Empfindung und nicht einmal auf die eigene Anwesenheit am Abend verweisen.
Wir bilden es uns ein und stehen zeitig auf und versuchen, den Tag als eine sinnvolle Situation zu erhalten und etwas zu tun, was ihn am Abend als diese erscheinen lässt, aber das ist ganz entschieden falsch und nur der Versuch einer Rettung und vollkommen unnötig, und am allerunnötigsten ist es, dachte ich in dieser Zeit einer tiefen, unsichtbaren Krankheit, am Abend auf einen gültigen, brauchbaren Satz verweisen zu wollen, der nichts, gar nichts änderte und vielleicht nicht einmal gedruckt, und wenn gedruckt, wahrscheinlich nicht einmal gelesen, und wenn gelesen, höchstwahrscheinlich nicht oder falsch verstanden würde, und selbst wenn er geschrieben und gedruckt und gelesen und auch nur annähernd verstanden würde, würde er nichts, aber auch gar nichts verändern, so dass in ihm, so gültig und brauchbar er immer auch sei, keine sinnvolle Situation erhalten geblieben sein kann, denn es gibt so viele gültige, brauchbare Sätze auf der Welt, die alle gedruckt und gelesen und vielleicht sogar annähernd verstanden worden waren und annähernd nichts und weniger noch bewirkten, dass es doch restlos überflüssig und unsinnig und vielleicht schon im klinischen Sinne verrückt sei, ihnen noch weitere und wenn es gelänge, gültige und brauchbare Sätze hinzufügen zu wollen.
Eine Weile redet man es sich ein, man erfindet einen Sinn und redet es sich ein und schreibt, und dann scheitert man und hört auf. Entweder scheitert man daran, keinen gültigen, brauchbaren Satz hervorbringen zu können oder daran, einen gültigen Satz noch einmal hervorgebracht zu haben und auf erniedrigende Weise zu spät zu kommen und nur noch belächelt zu werden oder daran, nicht gedruckt, und wenn gedruckt, nicht gelesen zu werden, und wenn gelesen, nicht oder falsch oder nur annäherungsweise verstanden worden zu sein. Auf jeden Fall aber scheitert man daran, etwas zu bewirken, so dass das Scheitern so allgemein ist wie das Schreiben, aber auch wie das Lesen und wie das Sprechen und Hören, denn der Weg zwischen Sprechen und Hören ist zu lang und zu kompliziert und ebenso beschädigt wie der zwischen Schreiben und Lesen, dieser Weg ist so sehr beschädigt, dass der Gedanke in einen Abgrund gerät und unwiederbringlich zerbricht. Und ich konnte nicht nur nicht schreiben in dieser Zeit, ich konnte auch nicht lesen, nicht sprechen und nicht hören. Genau genommen blieb ich tage- und wochenlang im Bett.
Mein Vorwendevater war autoritär, hartherzig, bisweilen cholerisch, in seiner tiefen verborgenen Einsamkeit unnahbar und kalt. Ich sehe ihn in seinem Zimmer immer allein, weil keiner seine Nähe ertrug, in der alles zu Eis erstarrt war. Bei Tisch suchten wir alle einen Platz, der möglichst weit weg von ihm blieb, erstens, weil er mit der rechten Hand Ohrfeigen verteilen konnte, immer wieder bei Ludwig, wenn er schnalzte oder unanständig aß, und zweitens, weil sein kräftiger Polizistenkörper eine innere Spannung verströmte, etwas, das in einer Art von notorischem Bereitschaftsdienst war und augenblicklich auf Abweichungen von der Norm reagierte. Diese Spannung des Körpers war wie ein elektrisches Knistern der Luft, ein Strom, der die Atmosphäre schwer und die Situation gefährlich werden ließ. Ich kann mich an kein einziges Gespräch bei Tisch erinnern, es sei denn, es wären Befehle gewesen, Anweisungen, Vorschriften und Zwangszustände. Alles war eingelassen in eine Form der Gesetze, und auch er selbst, Vater, war nichts anderes als die Anerkennung, ein Gesetz zu sein – das Gesetz, Gesetze zu befolgen und auf deren Befolgung zu achten. Mag sein, dass Vater an anderen Orten ein anderer Mensch war, zumal im Kreise seiner Familie, die immer in Konkurrenz zu meiner Mutter und uns stand – aber ich sehe ihn eben so, und dass ich dieses Bild habe, ist traurig genug.
Immer wieder mache ich die Beobachtung, dass Bilder in uns starr werden, sich festschreiben, nicht mehr korrigiert werden können. Das geschieht, wenn wir an einem anderen Ort sind und den verlassenen Ort noch im Gedächtnis bewahren. Dann friert der Ort ein, liegt in der Erinnerung wie eine Fotografie in ihrem Album, unverrückbar, abgeschlossen, fest auf einen Untergrund geklebt. Kehren wir später einmal zurück, müssen wir sehen, dass alles, auch wenn es dasselbe ist, etwas anderes wurde. Der Ort ist unverständlich und fremd. Er hat sich, über die Jahre unserer Abwesenheit hinweg, entzogen. Auch ich war in Vaters Bild über mich nicht mehr weitergegangen, als ich das Haus verlassen hatte und, frühzeitig erwachsen geworden, eine eigene Familie gründete. Hin und wieder drangen noch ein paar Zeichen der Veränderung in sein Bild von mir ein, aber ich blieb, was ich einmal für ihn gewesen bin: ein Sohn, der ihm Kummer machte, »weil er nicht ein solcher geworden ist, wie sein Vater einer war (Kaspar Hauser, Roman)«. Mein Bild von ihm war ebenso starr. Als ich Spiegelland schrieb, gab es nur den Vorwendevater, einen anderen hatte ich noch nicht.
Und das nun in eine völlige Stummheit verfallene Kind kann sich an keine Situation des Sprechens erinnern, ihm sind, soll der Arzt zu meinem Vater in einem ernsten und scharfen Ton gesagt haben, Alle Bilder, die Situationsbilder des Sprechens gewesen sind, verlorengegangen, so als wäre ihm die Zeit, die es mit Sprechen und die es in der Welt des Sprechens verbrachte, eine unwirkliche Zeit gewesen. Dieses Kind ist ein in den Sätzen und Formulierungen verlorengegangenes Kind, das verwirrt worden ist von einer Sprache, die nur die Ordnung des Vaters repräsentierte und von ihm verlangte, dass es würde wie er.
Das Kind fühlt sich durch die Sprache beherrscht, soll er gesagt haben, Es spürt, dass in ihr ein Herrschaftsanspruch eingelöst werden soll, durch den es sich und seinen Körper aufzugeben hat. Aber, so soll er fortgefahren sein, Zugleich spürte es, dass die Sprache nicht allein die Ordnung des Vaters ausdrückt, sondern dass sie eine Ordnung ausdrückt, die über den Vater gestellt ist und nur durch ihn hindurchdringt, was den Vater, sobald er zu dem Kind zu sprechen beginne, als abwesend erscheinen lasse, ganz so, wie es sich selbst als abwesend erlebt, wenn es in die Welt des geordneten Sprechens gerät. Es fühlt sich also, habe er meinem Vater erklärt, durch die Sprache getäuscht und entzieht sich ihr, so wie man sich einer bestimmten Nahrung entzieht.
Früher, ehe es in die Welt des Sprechens geraten war, muss es sich sicher gefühlt haben, dass nichts in den Körper einzudringen vermag und dass alle möglichen Strafen und Regeln an der Oberfläche haftengeblieben sind und das Innere nicht berührten. Die Worte aber drangen wie vergiftete Pfeile ins Fleisch, über sie hatte das Kind sich mitzuteilen und sein Inneres nach außen zu bringen, wo es den korrigierenden und beeinflussenden Blick des Vaters gab, der die Wirklichkeit des Kindes seiner Ordnung unterstellte. Diese Ordnung aber war etwas Fremdes und Äußeres gewesen, das die Sprache verdarb und sie mit einer Gewalt in Verbindung brachte, die in dieser Gesellschaft sein muss, soll der Arzt weiterhin gesagt haben. In dieser Sprache, die keine identischen Inhalte vermitteln könne, gäbe es nur die Bestätigung oder den Ausschluss, und das Kind habe sich selbst ausgeschlossen, indem es anstatt: Das ist ein Baum, Das, Pause, ist, Pause, ein, Pause, Baum usw. gesagt hat, um schließlich nichts mehr zu sagen und zu verstummen. Und ich bin verstummt oder ausgeschlossen worden, oder ich habe mich selbst ausgeschlossen, und der Wiederbeginn des Sprechens konnte nur außerhalb der Ordnung des Vaters (oder des Großvaters, beispielsweise) erfolgen. Ich habe es rechtzeitig bemerkt, welchen Anspruch diese Sprache transportierte, und habe mich herausbegeben aus ihr, oder ich war aus dieser Sprache bereits vertrieben, ehe ich sie nachzusprechen lernte, aber ich lernte ja nicht, ich hatte angefangen zu lernen, mir dann aber, und das ist mein Vater gewesen, die Stimme beschädigt, und ich weiß nicht, ob dieser Arzt meiner Kindheit später nicht doch noch verhaftet worden ist.
Denn es gibt keine Heimat,
wenn es sie in uns selbst
nicht gibt.
Und heimatlos
sind wir doch alle.
Kurt Drawert wird 1956 im brandenburgischen Hennigsdorf geboren. In Dresden bildet er sich zum Elektroniker aus und arbeitet in der Sächsischen Landesbibliothek, die er als »meine Universiät« bezeichnet. Er verlässt Dresden 1984, den Osten 1993. 1996 zieht Drawert nach Darmstadt, wo er bis heute lebt. Mit seinem Text Haus ohne Menschen gewinnt er 1993 den Bachmann-Preis. Er veröffentlicht viel Lyrik, darunter das Langgedicht Der Körper meiner Zeit. Sein jüngster Roman Dresden. Die zweite Zeit erschien 2020.
Mit freundlicher Genehmigung des C.H.Beck-Verlags;
zitiert nach Spiegelland (2017),
Dresden. Die zweite Zeit (2020)
Produktion/Satz: Konstantin Schönfelder
Bilder: Ute Döring
»Berlin. Dazwischen. 2009«;
Direktinkjet auf Stahlblech;
je 50x75 cm, 2009/2019
Gestaltung: (Studio) Daniel Zenker
Programmierung: Thomas Günther
SPIEGELLAND: NEUE MONOLOGE
Gefördert durch das Land Berlin
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